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Immer dunkler, immer schwüler wurde das Leben in dem Haus mit den grünen Laden, seit das kleine Ännchen daraus fortgetragen war. Es wurde immer dunkler und schwüler in Fritz Nettenmairs Brust und Hirn. Er hatte umkehren wollen auf dem Wege, in dessen Mitte ihn das Bild des toten Ännchens und die Klarheit, die es über die zurückgelegte Strecke goß, geschreckt. Er wäre umgekehrt, nahm die Frau die gebotene Hand an. Er meinte es wenigstens. Aber sie hatte ihn zurückgewiesen, ihm ein Antlitz voll Abscheu und Verachtung gezeigt; er hatte gesehen, sie nannte ihn im Herzen den Mörder des Kindes; ihr Auge hatte ihm mit Rache gedroht, und da war es wieder dagewesen, das alte Gespenst, die schuldgeborene Furcht. Hat sie es noch nicht getan, was er fürchtet, nun wird sie es tun, um ihn für den Schlag zu strafen, an dem Ännchen starb. Je mehr er daran herumgreift mit seinen Gedanken, desto klarer fühlt er, wie gelegen seinen Feinden – und sie sind seine Feinde; sie haben ihm ein Unrecht zu vergelten –, wie gelegen seinen Feinden dieser Schlag kam. Dann sieht er, daß die Frau ihn warnen konnte. Sie sagte nicht: »Schlag' nicht, das Kind ist krank; es ist sein Tod, wenn du schlägst.« Nein! Ein Wort von ihr konnte den Schlag verhüten; sie sprach es nicht. Oh, es ist klar, sonnenklar; sie reizte ihn absichtlich durch ihr Schweigen zu der wilden Tat. Aber wie? ihres Kindes Tod hätte sie gewollt? Den kann kein Weib wollen. Ja, sie dachte selbst nicht, daß es sterben würde; sie wollte nur den Vorwand zum Hasse, zum Betruge aus Haß, daß er sie am Bette des kranken Kindes geschlagen. Sie dachte nicht, daß es sterben würde; und wie es doch starb, wälzte sie die Schuld von sich auf ihn. Und er war wieder der dumme Ehrliche gewesen; auch in diese Schlinge war er gegangen in seiner Arglosigkeit; vor ihr hatte er gelegen wie ein Wurm, vor ihr, die vor ihm hätte liegen sollen. Und sie hatte ihn noch zurückgestoßen, mit Verachtung zurückgestoßen! Sooft er an den Augenblick dachte, machte er sie verantwortlich für alles, was noch kommen konnte. Was noch aus ihm werden konnte, dazu hatte sie ihn gemacht. Er hatte die Hand geboten; er war ohne Schuld. Dann brütete er, was aus ihm noch werden könne, und das Schlimmste war ihm nicht schlimm genug, die Schuld zu vergrößern, die er auf sie wälzte. Mit reuigem Entsetzen sollte sie sehen, was sie getan, als sie ihn zurückstieß. Je näher er drohen sah, was kommen mußte, desto wilder wurde seine Liebe oder auch sein Haß; denn beide waren beisammen in dem Gefühl, das sie immer glühender ihm einflößte. Desto gelehriger lernten seine Augen jeden kleinsten Reiz ihrer Gestalt, desto schmerzender stach diese Schönheit durch seine Augen in sein Herz. Diese verruchte Schönheit, die die Ursache all seines Elendes war; diese fluchvolle Schönheit, um derentwillen der eigene Bruder ihn aus Schuppen und Haus verdrängt und der Verachtung der Welt und des Weibes selbst preisgegeben! Er fing an, über Gedanken zu brüten, wie er diese Schönheit vernichten konnte, damit sie ein Ekel wurde dem Buhlen, der, um seinen Zweck betrogen, ihn umsonst elend gemacht hatte. Und dachte er sich das ausgeführt, dann lachte er in so wilder Schadenfreude auf, daß seine starknervigen Trinkkameraden erschraken und die Leute, die ihm begegneten, unwillkürlich innehielten in ihrem Gang. Und doch war der Gedanke nur ein Vorläufer eines noch schlimmeren. Dazwischen fiel ihm dann der Fronweißblick ein, sein Traum nach der wilden Tat wurde zur Wirklichkeit; stundenlang stand er bald da, bald dort, wo man Apollonius auf dem Kirchendache arbeiten sah, und blickte hinauf und wartete und zählte. Jetzt müssen die Bretter unter dem Hämmernden brechen, jetzt muß das Tau reißen, daran der Dachstuhl hängt. Jetzt müssen die Leute, die eben noch so gleichgültig aus den Fenstern sehen oder über die Straße gehen, aufschreien vor Schrecken. Dann zählte er immer fieberhastiger, der kalte Schweiß rann ihm über die Stirn; und die Bretter brachen nicht, das Tau riß nicht, die Leute schrieen nicht auf vor Schrecken. Und immer wilder lachte er vor sich hin, wenn er nach langem Warten müde und verzweifelt weiterging: »Wär's nur mein Unglück, könnt' er mich nur noch elender damit machen, als er mich schon gemacht hat, er wäre längst schon tot. Nur weil mich sein Leben elend macht, lebt er noch. Er will nicht eher sterben, bis er mich ganz elend gemacht hat!«
Diese Furcht ließ ihn nicht los, sie preßte ihn immer erstickender. Trug er sie spät in der Nacht heim, dann machte der ruhige Schlaf seiner Frau ihn wütend. Die schlief ruhig, die ihn nicht schlafen ließ! Er setzte sich an ihr Bett und rüttelte sie auf und erzählte ihr leise in das Ohr, was er an ihrem Liebsten tun will. Es waren grausige Dinge. Wenn die Glieder ihr flogen vor Angst und Entsetzen, dann lachte er zufrieden auf, daß er doch etwas hatte, sie aus der stummen Verachtung zu scheuchen, womit sie sich gegen ihn gewappnet, und vergaß daran minutenlang seine Qual. Dann lachte er fast jovial; er hat ihr Angst machen wollen. Es ist nur einer von Fritz Nettenmairs neumodischen Späßen. So weit haben sie ihn doch noch nicht gebracht, im Ernst an solche Dinge zu denken. Aber wenn sie Apollonius davon sagt, dann muß er es, und sie trägt die Schuld. Er bewacht ihr jeden Tritt, sie kann nichts tun, was er nicht erfährt. Und läßt sie es ihn durch einen Dritten wissen, so wird er es ihm ansehen. Oh, Fritz Nettenmair ist einer, der –!
Den ganzen Tag über, die halben Nächte geht dann die Frau wie im Fieber umher. An der leidenschaftlichen Angst wächst ihre Liebe zu Apollonius zur Leidenschaft. Und sie kann es nicht hindern, denn die Leidenschaft mehrt wiederum die Angst; vor dem Gedanken der Angst hat kein anderer Platz in ihrer Seele. Hin zu ihm will sie stürzen, ihn mit pressenden Armen umfangen, ihn beschwören – Dann wieder will sie in die Gerichte – aber es ist ja nur ein wilder Scherz, und sie wird ihn erst zum Ernste machen, sagt sie jemand davon. Sie geht nicht mehr aus der Stube, tritt nicht mehr an ein Fenster vor Furcht; sie will jeden Schritt meiden, jede Bewegung, alles, was nur als ein Umsehen nach Apollonius erscheinen könnte. Sie hat nicht mehr den Mut, mit jemand zu reden, weil ihr Mann es erfahren und meinen kann, sie trägt ihm eine Botschaft an Apollonius auf. Und der Mann sieht ihre wachsende Leidenschaft, sieht, wie wiederum sein Mittel, was kommen muß, aufzuhalten, es nur beschleunigen wird, und wartet und zählt immer ungeduldiger, daß die Bretter nicht brechen und das Tau nicht reißt.
Es war eine trübe schwüle Nacht. Die Nacht vor dem Tage, an welchem Apollonius die Bekränzung des Turmdaches beginnen wollte. Fritz Nettenmair schlich durch die Hintertür auf den Gang nach dem Schuppen, um nach Apollonius' Fenster heraufzusehen. Wenn er das Licht darin erloschen sah, dann pflegte er die Hintertür zu verschließen und seinen wüsten Neigungen nachzugehen. Seit jener Nacht, wo Valentin die Hintertür mit dem Schuppenschlüssel geöffnet, hängte Fritz Nettenmair an den Riegel noch ein Vorlegeschloß. Apollonius war noch nicht zu Bett gegangen. Fritz Nettenmair wußte, Apollonius löschte in seiner eigensinnigen Vorsicht nie das Licht, wenn er schon in das Bette gestiegen war. Es stand dem Bette fern auf seinem Schreibtisch; dort setzte er es in ein Becken und löschte es, ehe er nach dem Bette ging. Fritz Nettenmair ballte die Faust nach dem Fenster hinauf. Apollonius zögerte ihm auch hier zu lang. Er war müde und ging nach dem Schuppen. Der Schlüssel zur Hintertür schloß auch den Schuppen. Es war dunkel darin.
Wenn der Schieferdecker seine Platten zurichtet, sitzt er rittlings auf einer Bank, in deren Mitte das Haueisen, sein kleiner Amboß, eingeschlagen ist. An eine solche stieß Fritz Nettenmair mit dem Bein und nahm den Stoß als eine Aufforderung, sich zu setzen. Durch eine Lücke konnte er nach Apollonius' Fenster sehen; er wollte das Auslöschen des Lichtes hier erwarten. Der Schieferdecker verrichtet oft Zimmermannsarbeit, er führt daher auch ein kleines Zimmerbeil unter seinem Werkzeuge. Ein solches hatte auf der Bank gelegen; es war herabgefallen, als er sich gesetzt. Er hob es auf und hielt es absichtslos in seinen Händen; denn seine Gedanken waren mit ihm in der Kammer: er saß am Bette der Frau und ängstigte sie mit Drohungen. Der Ärger über das Zögern Apollonius' machte sich darin Luft; dieses Zögern hinderte ihn, sich im Trunk Betäubung zu suchen. Er hat seine Hand auf das Bett der Frau gestützt und fühlt an den Bewegungen der Decke das Zittern ihrer Glieder. Er fühlt sich in ihre Angst hinein, er fühlt, wie er selbst Apollonius zu ihrem einzigen Gedanken macht, wie sie morgen ihm entgegenstürzen muß, wenn er von der Arbeit heimkommt. Und wären sie nicht seine Teufel, wären sie Engel, es müßte morgen kommen, was er verhüten will. Wenn sie ihn mit der Glut der Angst umfaßt, das schöne, fluchvoll schöne Weib, er müßte nicht Blut in seinen Adern haben – und hätte er nie den Gedanken gehabt, mit dem er doch einschläft und aufwacht Tag für Tag, er müßte jetzt den Gedanken denken. Es muß kommen, wovor die bloße Furcht Fritz Nettenmair zu dem elendesten der Menschen gemacht, der sich selbst anspeien könnte, geschieht nicht morgen noch, was der Fronweißblick geweissagt. Und nun steht er wieder an der Straßenecke und sieht wieder hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je; er badet sich im Angstschweiß, und die Bretter brechen nicht, und das Tau reißt nicht. Oh, er wird den Fronweißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben, das Jahr, zehn Jahr', hundert Jahr', aus Haß gegen ihn. Und er zählt immer noch: »Eins, zwei«; er sagt: »Nun muß –« da hört er das Geräusch eines zerreißenden Taus und fährt auf aus seinem wachen Fiebertraum. Die wilde angstvolle Freude ist vergeblich; er steht nicht an der Ecke und sieht nach dem Kirchendache hinauf. Er sitzt im Schuppen; es ist Nacht. Aber das Geräusch hat er gehört; das war keine Vorspiegelung der Phantasie. Und von dort her kam es. Seine Haare stehen empor. Dort liegen die Hängstühle und die Flaschenzüge mit ihren Tauen. Er hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was es sagen will, das vorspukende Geräusch. Aber dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerrissen und er hat es erst einmal gehört. Er lauscht, er preßt die Faust auf das Herz. Vor seinen Schlägen, vor dem Brausen des Blutes die Adern hinauf und herab wird er es nicht hören, wenn es noch einmal klingt und noch einmal. Er lauscht und lauscht, und das Geräusch wiederholt sich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein dunkelglühender Blitz durch den Krampf, in den all seine Gefühle zusammengeballt sind: der Gedanke, dem Schicksal nachzuhelfen. Er hat das Zimmerbeil immer noch in seinen Händen; absichtslos ist er mit der Handfläche an der Schneide hingefahren; jetzt kommt ihm zum Bewußtsein, das Beil ist scharf, die Ecke spitzig. Eine ganze Reihe von Gedanken steht fertig da; es ist, als ständen sie schon lang, und der Blitz hat sie nur sichtbar gemacht. Morgen knüpft Apollonius seine Leiter an die Helmstange, dann das Tau mit Flaschenzügen und Fahrzeug. Fritz Nettenmair greift um sich und hat das Tau in der Hand. Das Schicksal will seine Hülfe; drum legt es selber ihm Tau und Beil in die Hand. Wer weiß, daß er hier war? Drei, vier Stiche mit dem Beil im Kreise um das Tau, kaum zu sehen, werden zu einem einzigen großen Riß, wenn das Gewicht eines starken Mannes am Tau zieht und die wuchtende Bewegung des Fahrzeugs um den Turm das Gewicht des Mannes vergrößert. Wer sieht den Stichen an, daß sie absichtlich gemacht sind? Ein Tau, das, getragen, halb an der Erde fortschleift, kann an allerlei Scharfes stoßen. Das Schicksal hat den Schieferdecker, der zwischen Himmel und Erde hängt, in seiner Hand. Das Schicksal hält ihn oder läßt ihn fallen, nicht das Seil oder ein Schnitt darin. Will es ihn halten, schadet kein Schnitt; soll er fallen, reißt ein unversehrtes Seil. Und das Schicksal hat ihn schon gezeichnet. Ein Tag früher, einer später, was ist das, wenn er doch fallen muß? Ein Tag später, und es packt einen Verbrecher. Meint es das Schicksal nicht gut, nimmt es ihn vorher aus der Welt?
All diese Gedanken schlug mit einem Schlage jener eine aus Fritz Nettenmairs Seele! Im Nu war er entglommen; im Nu schlägt der Höllenfunke zur Flamme auf. Er hat das Tau in der linken Hand; er hebt das Beil – und läßt es schaudernd fallen. An dem Beile glänzt Blut; durch die ganze Länge des Schuppens ragt ein blutiger Streif. Fritz Nettenmair flieht aus dem Schuppen. Er flöhe gern aus sich selbst heraus; kaum hat er den Mut, nach Apollonius' Fenster aufzusehn. Ein heller Lichtstrahl kommt von da, Fritz Nettenmair weicht vor ihm hinter einen Busch. Jetzt bewegt der Strahl sich zurück. Apollonius war aufgestanden an seinem Tische und hatte das Licht hoch in die Höhe gehalten. Er hatte das Licht geputzt. Es konnte eine glühende Schnuppe aus der Schere neben den Leuchter unter die Papiere gefallen sein; es war nicht geschehen, und er stellte das Licht wieder an seine Stelle. Fritz Nettenmair kannte seines Bruders ängstliche Gewissenhaftigkeit; er hatte ihn das Licht mehr als hundertmal so heben sehen; er begriff, es war kein Blut, was ihn erschreckt. Der Widerschein der Flamme war durch Fenster und Lucke gefallen und hatte rot von dem Stahle des Beiles und durch die Nacht des Schuppens geglänzt. Dennoch stand Fritz Nettenmair bebend hinter seinem Busche. Der gespenstige Schauder verließ ihn, aber nicht so schnell das Grauen über das, was er gewollt, und daß es war, als hätte ihm der Bruder noch zu seinem Werke leuchten wollen. Bald verlosch Apollonius' Licht. Fritz Nettenmair konnte zurückkehren und sein Werk vollenden, es störte ihn niemand mehr. Er tat es nicht, aber er rückte sich wieder in seinem Hasse zurecht. Er sagte sich, so weit sollen sie ihn nicht bringen. Die Schuld des Gedankens wälzt er auf die, auf die er alles wälzt; daß er den Gedanken nicht ausgeführt, rechnet er sich zu. Er weiß, jeder andere an seiner Statt hätte schlimm getan.
Nun verschließt er Hintertür und Vorlegschloß, zuletzt die Haustür und geht. Er will trinken, bis er nichts mehr von sich weiß. Heut hat er mehr zu vergessen als je. Er geht. Ob er nicht wiederkommen wird? Heute nicht; aber morgen, übermorgen, überübermorgen? wenn der Gedanke seine Fremdheit für ihn verloren hat? Gewohnheit macht selbst mit dem Teufel vertraut. Dazu sollen sie ihn nicht bringen! Ob die Stunde nicht kommen wird, wo er bereut, daß er sich nicht so weit bringen lassen, und sich doch noch so weit bringen läßt? Zudem, wozu jeder andere an seiner Stelle sich hätte bringen lassen?
Immer dunkler, immer schwüler wurde das Leben in dem Hause mit den grünen Laden. Wer jetzt hineinsieht, glaubt es mir nicht, wie dunkel, wie schwül es einmal war.
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