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Das Kind sagt: du hast ihm was getan; die Anne sagt: du hassest ihn, du läßt ihn nicht froh werden. Und sein traurig Nachblicken – bald ertappt sie ihn selbst unbemerkt dabei – sagt dasselbe. Wie ein Blitz und mit freudigem Lichte zuckte es dazwischen, er sah der Anne nicht traurig nach, und auch nicht freudig, nein! gleichgültig, wie jedem andern sonst. Ihr wird gesagt: du hassest ihn; du hast ihn beleidigt und du willst ihn kränken, und sie hat geglaubt, er hasse sie, er will sie kränken. Und hat er sie nicht gekränkt? Sie blickt in lang vergangene Zeit zurück, wo er sie beleidigte. Sie hat ihm schon lang nicht mehr darum gezürnt, sie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann sie jetzt noch darum zürnen, wo er ein so anderer ist? wo sie selbst weiß, er beleidigt sie nicht? wo die Leute sagen und sein trauriger Blick: sie beleidige ihn? Und wie sie zurücksinnt, eifrig, so eifrig, daß die Musik wieder um sie klingt und sie wieder unter den Gespielinnen sitzt, im weißen Kleid mit den Rosaschleifen, im Schießhaus auf der Bank den Fenstern entlang, und wieder aufsteht, von dem dunklen Drang getrieben, und durch die Tanzenden hindurch träumend nach der Türe geht – da draußen; ist das nicht dasselbe Gesicht, das ihr jetzt nachsieht, wenn sie geht, so ehrlich, so mild in seiner Wehmut? ist es nicht dasselbe eigene Mitleid, das jetzt auf Tritt und Schritt mit ihr geht und sie nicht läßt, wie damals? Dann wich sie ihm aus und sah ihn nicht mehr an, denn er war falsch. Falsch! Ist er es wieder? Ist er es noch?
Eine Nachtigall schlug in dem alten Birnbaume über ihr, so wunderbar und wie gewalttätig innig und tief. Vom Georgenturm bliesen viel Posaunen den Abendchoral. Über ihnen und wie von ihren schwellenden Tönen getragen, fuhr Apollonius auf seinem leichten Schiff. Das Abendrot vergoldete die Fäden, in denen es hing. Wohin sie sah, glänzten die treuen trauernden Augen, die ihm gehörten, mit denen er ihr nachsah, wenn sie ging. Das kleine Mädchen sah mit ihnen auf zu ihr und erzählte vom Onkel, wie lieb und gut er sei. Oder erzählte sie von damals? Es war keine Zeit mehr, sonst und jetzt war eins. Die letzte Ähnlichkeit mit Fritz Nettenmair war aus ihrem Antlitz verschwunden. Ihre Seele schauerte hoch oben zwischen Himmel und Erde. Was sie ansah, war ein Rätsel mit süßer Deutung, aber sie kannte sie nicht. Sie selbst war sich ein Rätsel. Ihrem Gatten war sie es nicht.
*
Fritz Nettenmair dachte den ganzen Tag, was das sein möge, was Apollonius ihm morgen sagen wolle. »Morgen; weil ich heute nicht gelaunt bin? Gelaunt? Ich habe den Federchensucher in meine Karten sehen lassen. Hätt' ich's nicht, wär' er plump herausgegangen; nun hab' ich ihn gewarnt und vorsichtig gemacht. Ich bin zu ehrlich mit solch einem falschen Spieler; ich muß verlieren. Gut; ich will morgen ›gelaunt‹ sein, ich will tun, als wär' ich blind und taub, als säh' ich nicht, was er will, und wär's noch deutlicher. Eine Spinnenwebe auf meine Rockklappen, damit er was zu bürsten hat. Ich kann's nicht leiden, wenn mir so einer ins Gesicht sieht, solch ein Heuchler!«
So vorbereitet und entschlossen, den Lister zu überlisten, gält' es auch die schwerste Probe von Selbstbeherrschung, fand Apollonius den Bruder am folgenden Tage seiner harrend. Auch Apollonius hatte seinen Entschluß gefaßt. Er wollte sich von keiner Laune seines Bruders mehr irren lassen; es kam ja eben darauf an, allen diesen Launen ihre Quelle abzuschneiden. Fritz bot ihm den unbefangensten jovialsten Guten-Morgen, der ihm zu Gebote stand.
»Wenn du mich ruhig und brüderlich anhören willst«, sagte Apollonius, »so hoff' ich, dieser Morgen soll der beste sein für dich und mich und uns alle.«
»Und uns alle«, wiederholte Fritz und legte von seiner Erklärung der drei Worte nichts in seinen Ton. »Ich weiß, daß du immer an uns alle denkst; darum rede nur jovial vom Herzen weg, ich mach's auch so.«
Apollonius ließ die beabsichtigte Einleitung weg. Er hatte klug und vorsichtig sein gelernt, aber klug und vorsichtig gegen einen Bruder sein, hätte ihm Falschheit geschienen. Selbst, hätte er die Falschheit des Bruders gekannt, er wäre nicht auf dessen Gedanken von den gleichen Waffen gekommen. Er hätte sich seine Erfahrung als Täuschung ausgeredet.
»Ich glaube, Fritz«, begann er herzlich, »wir hätten anders gegeneinander sein sollen, als wir seither gewesen sind.« Er nahm aus Gutmütigkeit die halbe Schuld auf sich. Der Bruder schob ihm in Gedanken die ganze zu und wollte jovial das Gegenteil versichern, als Apollonius fortfuhr. »Es war nicht zwischen uns wie sonst, und wie es sein sollte. Die Ursache davon ist, soviel ich weiß, nur der Widerwille deiner Frau gegen mich. Oder weißt du noch eine andere?«
»Ich weiß keine«, sagte der Bruder mit bedauerndem Achselzucken; aber er dachte an Apollonius' Heimkunft gegen seinen Rat, an den Ball, an die Beratung auf dem Kirchenboden, an seine Verdrängung von der Reparatur, an den ganzen Plan des Bruders, an das, was davon ausgeführt, an das, was noch auszuführen war. Er dachte daran, daß Apollonius eben an dem letzteren arbeite, und wie viel darauf ankomme, seine nächste Absicht zu erraten und zu vereiteln.
Apollonius sprach indes fort und hatte keine Ahnung von dem, was in dem Bruder vorging. »Ich weiß nicht, woher der Widerwille deiner Frau gegen mich kommt. Ich weiß nur, daß er von nichts kommen kann, was ich mit Absicht getan hätte, mir ihn zu verdienen. Kannst du mir den Grund sagen? Ich will sie nicht anklagen; es ist möglich, daß ich etwas an mir habe, das ihr mißfällt. Und dann ist's gewiß nichts, was zu loben oder nur zu schonen wäre. Und ich will dann ebenso gewiß der letzte sein, es zu schonen, weiß ich nur, was es ist. Weißt du's, so bitte, sag' es mir. Etwas Schlimmes darfst auch du nicht an mir schonen, und täte dir's auch noch so weh. Weißt du's und sagst mir's nicht, so ist's nur darum. Aber du kränkst mich nicht damit, gewiß nicht, Fritz.«
Fritz Nettenmair tat, was Apollonius eben getan: er maß den Bruder in seinen Gedanken nach sich. Das Ergebnis mußte zu Apollonius' Nachteil ausfallen. Apollonius nahm sein gedankenvolles Schweigen für eine Antwort.
»Weißt du's nicht«, fuhr er fort, »so laß uns zusammen zu ihr gehen und sie fragen. Ich muß wissen, was ich tun soll. Das Leben seither darf nicht so fortgehen. Was würde der Vater sagen, wenn er's wüßte! Mir ist's Tag und Nacht ein Vorwurf, daß er es nicht weiß. Es ist für uns alle besser, Fritz. Komm, laß es uns nicht verschieben.«
Fritz Nettenmair hörte nur die Zumutung des Bruders. Er sollte ihn zu ihr führen! Er sollte ihn jetzt zu ihr führen! Wußte Apollonius schon von ihrem Zustand und wollte ihn benutzen? Es bedurfte der Frage nicht; wenn sie sich jetzt nur sahen, mußten sie sich verstehen. Dann war es da, wovon er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungsanstrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften jetzt nicht einander gegenüberstehen; sie durften sich jetzt nicht sehen, bis er eine neue Scheidemauer zwischen sie gebaut. Woraus? Darauf zu sinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern, Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit zu gewinnen, lachte er:
»Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt ein? Eben jetzt?« Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf wie ein Blitz, wurde ohne seine Wahl zu dieser Frage.
Apollonius war schon an der Tür. Er wandte sich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude, die diesem eine teuflische schien, weil er ihm nicht in das ehrliche Gesicht sah. Dafür würde Apollonius in des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangst ertappt haben, hätte dieser es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht für krank gehalten haben, so ohne die mindeste Ahnung von dem, was den Bruder dabei ängsten könne, als er war. Ja, was ihn freute, mußte ja auch den Bruder freuen.
»Früher«, entgegnete Apollonius, »mußt' ich fürchten, sie noch mehr zu erzürnen. Und das würde dir noch weniger lieb gewesen sein als mir.«
Der Bruder lachte und bejahte in seiner jovialen Weise mit Kopf und Schultern, um nur etwas zu tun. Und sein: »Und jetzt?« schien nun vom Lachen halb erstickt, nicht von etwas anderem.
»Deine Frau ist anders seit einiger Zeit«, fuhr Apollonius vertraulich fort.
»Sie ist –« antwortete Fritz Nettenmairs Zusammenzucken wider seinen Willen und wollte sagen, wofür er sie hielt. Es war ein arges Wort. Aber würde er selbst, der sie dazu gemacht, es ihm sagen? Nein, es ist noch nicht da, was er fürchtet. Und wenn es kommen muß, er kann es noch verzögern. Er hält mit Gewalt seiner Erregung den Mund zu. Er fragte gern: »Und woher weißt du, daß sie – anders ist?« wüßte er nicht, seine Stimme wird zittern und ihn verraten. Er muß ja wissen, wer es dem Bruder verraten hat. Hat er sie schon gesprochen? Hat er es ihr von fern aus den Augen gelesen? Oder ist ein Drittes im Spiel? ein Feind, den er schon haßt, ehe er weiß, ob er vorhanden ist?
Apollonius scheint ein Etwas von des Bruders unglückseliger Lesegabe angeflogen. Der Bruder fragt nicht; sein Gesicht ist abgewandt; er kramt tief im Schranke und sucht wie ein Verzweifelnder und kann nicht finden; und doch antwortet ihm Apollonius.
»Dein Ännchen hat mir's gesagt«, entgegnet er und lacht, indem er an das Kind denkt. »'Onkel', sagte das närrische Kind, ›die Mutter ist nicht mehr so bös auf dich; geh nur zu ihr und sprich: ich will's nicht mehr tun; dann ist sie gut und gibt dir Zucker.‹ So hat sie mich auf den Gedanken gebracht. Es ist wunderbar, wie's manchmal ist, als redete ein Engel aus den Kindern. Dein Ännchen kann uns allen ein Engel gewesen sein.«
Fritz Nettenmair lachte so ungeheuer über das Kind, daß sich Apollonius' Lachen wieder an dem seinen anzündete. Aber er wußte, es war ein Teufel, der aus dem Kinde geredet; ihm war das Kind ein Teufel gewesen und konnte es noch mehr werden. Und doch mußte er noch über das Kind lachen, über das joviale Kind mit seinem »verfluchten« Einfall. So sehr mußte er lachen, daß es gar nicht auffiel, wie zerstückt und krampfhaft klang, was er entgegnete. »Morgen meinetwegen oder heut nachmittag noch; jetzt hab' ich unmöglich Zeit. Jetzt begleit' ich dich nach Sankt Georg. Ich hab' einen nötigen Gang. Morgen! Über das verwünschte Kind!«
Apollonius hatte keine Ahnung, wie ernst das lachende »verwünscht« gemeint war. Er sagte, selbst noch über das Kind lachend: »Gut! So fragen wir morgen. Und dann wird alles anders werden. Ich freue mich wie das Kind, und du dich gewiß auch, Fritz. Es soll ein ganz ander Leben werden als seither.« Der gute Apollonius freute sich so herzlich über des Bruders Freude! Noch als er bereits wieder auf seinem Fahrzeuge um das Kirchendach flog.
Ebenso rastlos umschwankte seines Bruders Furcht das dunkle Etwas, das über ihm schwankte und ihn zu begraben drohte; noch emsiger hämmerte sein Herz an den brechenden Planen, den Sturz zu hindern; aber sein Gedankenschiff hing nicht zwischen Himmel und Erde, von des Himmels Licht bewahrt; es taumelte tiefer und immer tiefer, zwischen Erd' und Hölle, und die Hölle zeichnete ihn immer dunkler mit ihrer Glut.
*