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Fritz Nettenmair schlief noch den Schlaf eines Bewahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius war schon lange munter; vielleicht hatte er gar nicht geschlafen. Der Kampf, den sein Bruder noch in seinem Angesicht gelesen, als er ihn mit dem Bauherrn das Haus verlassen sah, und den die Mühen des Tages kaum zurückgedrängt, scheuchte nachts den Schlummer von seinem Bett. Der Bruder hatte recht gesehen, seine scherzhafte Wendung des Gesprächs hatte ihren Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch seiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er sich in seiner Meinung, der Bruder sei eifersüchtig auf ihn, bestärkt fühlen. Gar manches, das er nicht begriffen, als er es geschehen sah, erhielt Licht von dieser Annahme und half sie wiederum bestätigen. Die Abneigung der Frau schien ein bloßer Vorwand des Bruders, ihn von ihr fernzuhalten. Der Bruder mußte gemeint haben, er könne sie anders als mit den Augen eines Bruders und Schwagers ansehen. Und das schien begreiflich, da Fritz wußte, sie war ihm mehr gewesen, bis sie seine Schwägerin wurde. Er hätte das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf gemacht, mußte er sich nicht gestehen, sein Mitleid, das des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen, hatte seinen Empfindungen für sie eine Wärme gegeben, die ihn selbst beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn diese hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu machen, aber seine strenge Gewissenhaftigkeit machte sich diese Wärme schon zum Verbrechen. Aber, fiel ihm dann ein, hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung gezeigt? und fühlte sie Abneigung gegen ihn, wie konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte im Tone des Vorwurfs sie ein Märchen genannt, also glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle sie nur und empfinde sie nicht? Der Vetter hatte oft von der Natur der Eifersucht gesprochen, wie sie aus sich selbst entstehe und sich nähre, wie ihr Argwohn über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen hinausgreife und zu Taten verführe, die sonst nur der Wahnsinn vollbringt. Einen solchen Fall sah Apollonius vor sich und bedauerte den Bruder und fühlte schmerzlich Mitleid mit der Frau.
Aus solchen Gedanken und Empfindungen schreckte ihn Valentin, der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder herauf, als er hinuntergegangen war. Es war nicht allein Ännchens Zustand, die er wie ein Vater liebte, was auf seiner Seele lag; auch das Mitleid mit Ännchens Mutter war gewachsen, und eine Furcht war neu hinzugekommen, die er sich gern ausgeredet hätte, wäre solch ein Verfahren mit seinem Klarheitsbedürfnis und seiner Gewissenhaftigkeit vereinbar gewesen. Als der erste Schimmer des neuen Tages durch sein Fenster fiel, stand er auf von dem Stuhle, auf dem er seit seiner Zurückkunft gesessen. Es war etwas Feierliches in der Weise, wie er sich aufrichtete. Er schien sich zu sagen: »Ist es, wie ich fürchte, muß ich für uns beide einstehen; dafür bin ich ein Mann. Ich habe gelobt, ich will meines Vaters Haus und seine Ehre aufrecht erhalten, und ich will in jedem Sinne erfüllen, was ich gelobt!«
Fritz Nettenmair erwachte endlich. Er wußte nichts mehr von den Traumbildern der Nacht; nur die befriedigte Stimmung, das Werk derselben, war ihm geblieben. Er besann sich vergebens, was diese Stimmung, die ihm so lange fremd gewesen, hervorgerufen haben könnte. Was ihm von den Erlebnissen der Nacht einfiel, war nicht geeignet, sie zu erklären. Er wußte nur noch, daß seine Frau ein »Pimpeln« des »Spions« zu einer Krankheit vergrößert hatte, um einen Vorwand zu erhalten, mit ihm zusammenzusein. Mit ihm! Nicht bloß im Gespräch mit dem Gesellen, auch mit sich und seiner Frau nannte er Apollonius' Namen nicht; vielleicht, weil sein Haß gegen den Mann auf den Namen übergegangen war, vielleicht, weil er Tag und Nacht nur an zwei Menschen dachte und diese nicht miteinander zu verwechseln waren. Er hatte nichts mehr auf der Welt als seinen Haß, und der kannte nur zwei Menschen, »ihn« und »sie«. Er dachte schon, wie er der »Pimpelei« ein Ende machen wollte. Mit diesem Gedanken trat er aus der Tür und stand – vor einer Leiche. Ein Schauder faßte ihn an. Da stand das tote Kind vor ihm wie ein Warnungszeichen: nicht weiter auf dem Wege, den du eingeschlagen hast! Da lag das Kind, das sein Kind war, tot. Sonst scheuchte er es von sich; jetzt blieb es und fürchtete sich nicht mehr und fragte ihn, ob er es noch hassen kann, ob er es noch mit dem Namen nennen kann, mit dem er es im Hasse genannt. Gestern sah er es nicht, wie er über seine Angst hin den Schlag führte, der Vater des Kindes nach der Mutter des Kindes und über den sterbenden Leib des Kindes hin. Gestern sah er es nicht, wie er darüber gebeugt stand; jetzt sieht er es, wohin er die entsetzten Augen wendet, um dem Anblick zu entfliehen. Da steht das Kind vor ihm, ein Ankläger und ein Zeuge. Es zeugt für die Mutter. Sie wußte es sterbend, und am Sterbebette ihres Kindes tut die Verworfenste nicht, was er ihr zugetraut. Es klagt ihn an. Er hat eine Mutter am Sterbebette ihres Kindes geschlagen. Das kann kein Mann, und wäre das Weib schuldig. Und sie war es nicht; das zeugt das Kind. Jetzt weiß er, was das bleiche stumme Antlitz der Mutter rief: Du tötest das Kind; schlag nicht! Und er hat doch geschlagen. Er hat das Kind getötet: Das trifft ihn wie ein Wetterstrahl, daß er zusammensinkt vor dem Bette des Kindes, über das hin er die Mutter geschlagen, vor dem Bette, in dem sein Kind starb, weil er seines Kindes Mutter schlug.
Dort lag er lang. Der Blitz, der ihn dahingestreckt, hatte zurückgeleuchtet mit grausamer Klarheit, und er hatte die beiden unschuldig gesehen, die er verfolgt. Und keine Schuld als die seine. Er allein hat das Elend aufgetürmt, das erdrückend auf ihm liegt, Last auf Last, Schuld auf Schuld. Des Kindes Tod ist der Gipfel. Und vielleicht ist er es noch nicht! Der Elende sieht, er muß zurück. Er hascht nach jedem Strohhalm von Gedanken, der ihn retten könnte. Da hört er die weichen Klänge wieder, denen er gestern sein Herz verschlossen: »Du hast gemeint, wenn er kommt, wird er wieder sein wie er sonst war, eh' du krank geworden bist. Deine Mutter will's auch.«
Die Klänge waren eine weiche Hand, die die Seele der Frau nach seiner Seele ausstreckte und zur Versöhnung bot; sein Schmerz, seine Angst faßten hastig nach der ausgestreckten. Er sah das Kind im Hemdchen an der Kammertür stehen, wo es so oft gestanden, wenn seine Heftigkeit es aus dem Schlummer geweckt, die Händchen gefalten, die Augen so schmerzlich flehend: er solle doch gut sein mit der Mutter; und so ängstlich zugleich: er solle doch nicht zürnen, daß es fleht. Nun, da es zu spät war, sah er, das Kind wollte sein Engel sein. Aber es war ja noch nicht zu spät! Er hörte den leisen Schritt seiner Frau auf der Flur der Stubentüre nahen. Er hörte sie die Türe öffnen. Stand Ännchen jetzt in der Kammertür, es mußte lächeln. Er wollte gut sein; er wollte wieder sein, wie er war, ehe Ännchen krank geworden ist. Er streckte der Eintretenden die Hand entgegen. Sie sah ihn und schrak zusammen. Sie war so bleich wie das tote Ännchen, selbst ihre sonst so blühenden Lippen waren bleich. Der Hals, die schönen Arme, die weichen Hände waren bleich; das sonst so glänzende Auge war matt. All ihr Leben hatte sich in ihr tiefstes Herz zurückgezogen und weinte da um ihr gestorben Kind. Als sie ihn sah, stieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit zwei Schritten stand sie zwischen der Leiche und ihm; als wollte sie das Kind noch jetzt vor ihm schützen. Und doch nicht so. Weder Furcht noch Angst bebte um den kleinen Mund; er war fest geschlossen. Ein ander Gefühl war es, was die schöngewölbten Augenbrauen drängend herabfaltete und aus den sonst so sanften Augen flammte. Er sah, es war nicht mehr das Weib, das die schmelzenden Friedensworte gesprochen; die war mit ihrem Kinde gestorben in dieser schrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm stand, war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte, deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der er das Kind getötet. Eine Mutter, die den Mörder fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein bleich-schreckender Engel, der den befleckenden Berührer fortzürnt von seinem Heiligtum. Er sprach – o hätte er gestern gesprochen! Gestern hatte sie sich nach dem Worte gesehnt; heute hörte sie es nicht.
»Gib mir deine Hand, Christiane«, sagte er. Sie zog ihre Hand krampfhaft zurück, als hätte er sie schon berührt. »Ich habe mich geirrt«, fuhr er fort; »ich will's euch ja glauben, ich seh' es ein; ich will's nicht wieder! Ihr seid besser als ich.«
»Das Kind ist tot«, sagte sie, und selbst ihre Stimme klang bleich.
»Laß mich in dieser schrecklichen Angst nicht ohne Trost. Kann ich anders werden, so kann ich's nur jetzt, und wenn du mir die Hand gibst und richtest mich auf –«, sagte der Mann. Sie sah auf das Kind, nicht auf ihn.
»Das Kind ist tot«, wiederholte sie. Hieß das, es war ihr gleichgültig, was mit ihm werden sollte, da seine Besserung das Kind nicht mehr rettete? Oder hatte sie ihn vergessen und sprach mit sich selbst? Der Mann richtete sich halb auf; er faßte ihre Hand mit angstvoller Gewalt und hielt sie fest.
»Christiane«, schluchzte er wild, »da lieg' ich wie ein Wurm. Tritt mich nicht! Tretet mich nicht! Um Gottes willen, erbarme dich! Ich könnt's nicht vergessen, hätt' ich vergebens gelegen wie ein Wurm. Denk' daran! Um Gottes willen denk' daran! Du hast mich jetzt in deiner Hand. Du kannst aus mir machen, was du willst. Ich mach' dich verantwortlich. Du bist schuld an allem, was noch werden kann.« Endlich war es ihr gelungen, ihre Hand ihm zu entreißen; sie hielt sie weit von sich, als ekelte ihr davor, weil er die Hand berührt.
»Das Kind ist tot«, sagte sie. Er verstand, sie sagte: Zwischen mir und dem Mörder meines Kindes kann keine Gemeinschaft mehr sein, auf Erden nicht und nicht im Himmel!
Er stand auf. Ein Wort der Verzeihung hätte ihn vielleicht gerettet! Vielleicht! Wer weiß es! Die Klarheit, die ihn jetzt zur Reue trieb, war die Klarheit eines Blitzes, was jetzt in ihm wirkte, nahm seine Gewalt von der Jähheit der Überraschung. Wenn das Kind in der Erde ruht, dessen plötzlicher Anblick ihn zurückgebäumt, wird sein Warnungsbild bleicher und bleicher werden; jede Stunde wird dem Gedanken an diesen Augenblick von der Macht seiner Schrecken rauben. Zu tief hat er die Geleise des alten Wahngedankens eingedrückt, um ihn für immer verwischen, zu weit ist er gegangen auf dem gefährlichen Weg, um noch umkehren zu können. Die Klarheit des Blitzes müßte schwinden, und der alte Wahn hüllte die Dinge wieder in seine verstellenden Nebel. Fritz Nettenmair heulte auf oder lachte auf; die Frau fragte sich nicht, was er tat. Tiefer Abscheu gegen ihn verschloß ihr Ohr, ihre Augen, ihre Gedanken. Er taumelte in die Kammer zurück. Sie sah es nicht, aber sie fühlte es, daß seine Gegenwart nicht mehr den Raum entweihte, darin das Heiligenbild ihres Mutterschmerzes stand. Leise weinend sank sie über ihr totes Kind.
*
Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen. Apollonius wollte diese erst beenden, bevor er die Krönung des Turms mit der gestifteten Blechzier unternahm. Daneben mußte er das Begräbnis des kleinen Ännchens besorgen; Fritz kümmerte sich nicht darum. Er mußte sich auch dieser Hausvaterpflicht unterziehen. Er fühlte sich schmerzlich wohl darin. Kosteten ihm doch die schwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht andere, süßere Wünsche zu bekämpfen und zu besiegen gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Angehörige auf sich genommen; er war ja eben nur dem eigensten Triebe seiner Natur gefolgt. Es lag in dieser Natur, daß er ganz sein mußte, was er einmal war. Seit er die Hoffnungen seiner Jugendliebe und damit diese selbst aufgegeben hatte, war ihm ohnehin der Gedanke eines eigenen Hausstandes fremd geworden. Er kannte keinen andern Lebenszweck als die Erfüllung jener Pflicht. Aber sie stand nicht als dürres despotisches Gesetz außer ihm vor den Augen seiner Vernunft; sie durchdrang sein ganzes Wesen mit der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühles. So war es seit Monaten gewesen. Wenn er auf seinem Fahrzeug das Turmdach umflog, wenn er hämmernd auf dem Dachstuhl kniete, waren die Gestalten der Kinder seines Bruders, seine Kinder, um ihn. Schneller als sein Schiff flog seine Phantasie der Zeit voraus. Wie sein Schiff um das Turmdach, drehte sich sein ganzes Denken um die Stunde, wo die Söhne erwachsen waren und er ihnen das schuldenfreie Geschäft übergab, wo Ännchen aussah wie ihre Mutter, und er ihre jungfräuliche Hand in die Hand eines braven Mannes legte. Ännchens rosiges Gesicht stand vor ihm, sooft er aufsah von seinen Schieferplatten. Als es ihn so schalkhaft anlachte, war es sein Liebling; wie das Gesichtchen immer trüber und bleicher wurde, war sie es nur immer mehr; er sah sie oft doppelt durch das Wasser in seinen Augen. Jetzt – oh manchmal war es ihm, als arbeite er nun umsonst! Und es war noch etwas hinzugekommen, was ihn immer mehr beängstigte. Aus dem Mitleid mit der gequälten Frau, die um ihn gequält wurde, blühte die Blume seiner Jugendliebe wieder auf und entfaltete sich von Tag zu Tage mehr. Was des Bruders Hohn und Undankbarkeit gegen ihn nicht vermocht, das gelang seinem Benehmen gegen die Frau. Apollonius fühlte sein Herz erkalten gegen den Bruder. Es trieb ihn, die Frau zu schützen; aber er wußte, seine Einmischung gab sie nur härteren Mißhandlungen preis. Er konnte nicht mehr für sie tun, als daß er sich so entfernt hielt von ihr als möglich. Und nicht allein wegen des Bruders; auch um ihrer selbst willen, wenn er richtig gesehen hatte. Hatte er richtig gesehen? Er sagt sich hundertmal nein. Er sagt es sich mit Schmerzen; desto öfter und dringender sagte er es sich, und fühlte, er dürfe sie nicht sehen, auch um seinetwillen. Es peinigte ihn, wenn gleichgültige Dinge verworren und unsymmetrisch lagen und er sie nicht ordnen konnte; hier sah er Mißverhältnisse und Widersprüche in das innerste Leben dessen, was ihm das Heiligste war, gedrungen, in das Herz seiner Familie, in sein eigenes, und er mußte sie wachsen sehen, und die Hände waren ihm gebunden!