Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Ännchen hatte die Mutter wieder umschlungen, die in der Laube saß. Sie sah wieder mit Apollonius' Augen zu ihr auf und erzählte ihr von ihm. Und kam sie nach Kinderweise von ihm ab, so leitete die Mutter mit unbewußter Kunst sie wieder zu ihm zurück. Dann rauschte es einen Augenblick in den Blättern der Laube hinter ihr. Sie dachte, es sei der Wind, oder hörte es gar nicht; vielleicht, weil es nicht von Apollonius sprach. Hätte sie hingesehen, sie wäre entsetzt aufgesprungen von der Bank. Was die Blätter rauschen machte, war das stürmische Erzittern einer geballten Faust. Darüber stand ein rotes Gesicht, verzerrt von der Anstrengung, die die gehobene Faust zurückhielt, sonst hätte sie das lächelnde Gesicht des Kindes getroffen, das, so jung, schon eine Kupplerin war. Das lächelnde, vatermörderische Gesicht! Das Kind hat ein blaues Kleidchen an; blau ist die Lieblingsfarbe Apollonius'. Sein Kind trägt seines Todfeindes Livree. Und die Mutter – oh, Fritz Nettenmair kann sich noch auf die Zeit besinnen, wo sie täglich so gekleidet ging wie heute. Und fürchtet sie das nicht? Glaubt sie, was damals vorgegangen, gibt ihr ein Recht, ihn nicht zu fürchten? Ein Recht, in Schande zu leben, weil es seine Schande ist? Das alles reißt an der gehobenen Faust.

Jetzt sagt die Mutter vor sich hin und hat das Mädchen vergessen: »Der arme Apollonius!« – Was hält die Faust zurück? – »Ich muß Fritz sagen, wie er mich dauert. Er ist so gut. Nicht, Ännchen?« Ännchen singt und hört die Frage nicht. Sie bedarf auch keiner Antwort. »Fritz ist zornig auf ihn, weil er mich einmal gekränkt hat. Ich hab's lang vergessen. Er ist anders, und Fritz tut ihm unrecht, wenn er meint, er ist noch immer so. Und vielleicht ist er nie so gewesen, und die Menschen haben Fritz belogen. Wir wollen gut sein gegen ihn, damit er froh wird. Ich kann's nicht mehr ertragen, wie er traurig ist. Ich will's ihm sagen, dem Fritz.« So schließt die junge Frau ihr Selbstgespräch; ihr ganzes süß-vertrauliches Mädchenwesen ist wieder aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Tun, zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erschaffen, was noch nicht ist, muß beschleunigen, was kommen wird. Er ist arm geworden, entsetzlich arm. Die Zukunft ist nicht mehr sein; er darf nicht auf Tage hinaus rechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu Augenblick; er muß festhalten, was zwischen dem gegenwärtigen ist und dem nächstkommenden. Und dazwischen ist nichts als Qual und Kampf.

Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er alles tat, wie er selbst war, oberflächlich – und jovial. Das Gewissen hat seine Seele ausgetieft. Die Furcht vor dem Verlust hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätte er sie früher so geliebt wie jetzt, ihre tiefste Seele hätte sich ihm vielleicht geöffnet, sie hätte auch ihn geliebt. Sie haben Jahre zusammengelebt, sind nebeneinander gegangen, ihre Seelen wußten nichts voneinander. Dem Leibe nach Gattin und Mutter ist ihre Seele ein Mädchen geblieben. Er hat die tieferen Bedürfnisse ihres Herzens nicht geweckt, er kannte sie nicht; er hätte sie nicht befriedigen können. Er erkennt sie erst, wie sie sich einem Fremden zuwenden. Er fühlt erst, was er besaß, ohne es zu haben, nun es einem andern gehört. Mit welcher Empfindung sieht er die Knospe ihres Angesichts sich entfalten, die er schon für die Blume hielt! Welch niegeahnter Himmel öffnet sich da, wo er sonst Genüge hatte, sein eigen Spiegelbild zu finden. Und wieviel er sah: all den Reichtum an hingebendem Vertrauen, an Opferfähigkeit, an verehrendem Aufstaunen und dienendem Ergeben zu fassen, der in der Morgenröte dieses reinen Angesichtes aufging, war sein Auge, auch krankhaft weit geöffnet, noch zu eng. Sein Schmerz übermannte einen Augenblick seinen Haß. Er mußte sich fortschleichen, um das Geständnis seiner Schuld vor dem Antlitz zu flüchten, dessen Blick er jetzt wie ein Verbrecher fürchtete, so sanft es war.

Gegen Abend wurde die junge Frau plötzlich von zwei Männerstimmen aus ihren Träumen geweckt. Sie saß unfern der verschlossenen Schuppentür im Grase. Fritz war eben mit dem Bruder von der Hintergasse in den Schuppen getreten. Sie hörte, er zog den Bruder mit Wohligs Anne auf. Anne sei die beste Partie in der ganzen Stadt und der Bruder ein Spitzbube, der die Welt kenne und die Art, die lange Haare und Schürzen trägt. Die Anne nähe schon an ihrer Aussteuer, und ihre Basen trügen die Heirat mit Apollonius von Haus zu Hause. Die junge Frau hörte ihn fragen, wann die Hochzeit sei? Sie hatte sich entfernen wollen; sie vergaß es; sie vergaß das Atmen. Und drauf hätte sie fast laut aufgejubelt: Apollonius sagte, er heirate gar nicht, die Anne nicht, noch sonst eine.

Der Bruder lachte. »Drum hast du den Abend deiner Heimkehr nur mit der Anne getanzt und sie heimgeleitet?«

»Mit deiner Frau hätt' ich getanzt«, entgegnete Apollonius. »Du warntest mich, deine Frau würde mir einen Korb geben, weil sie so unwillig auf mich war. Ich wollte nun gar nicht tanzen. Du brachtest mir die Anne, und wie du gingst, fragtest du sie, ob ich sie heimbegleiten dürfte. Da konnt' ich nicht anders. Ich habe nie daran gedacht, die Anne –«

»Zu heiraten?« lachte der Bruder. »Nun, sie ist auch zum Spaße hübsch genug und der Mühe wert, sie vernarrt in dich zu machen.«

»Fritz!« rief Apollonius unwillig. »Aber es ist nicht dein Ernst«, besänftigte er sich selbst. »Ich weiß, du kennst mich besser; aber auch im Scherz soll man einem braven Mädchen nicht zu nahe treten.«

»Pah«, sagte der Bruder, »wenn sie es selbst tut. Was kommt sie uns ins Haus und wirft sich dir an den Kopf?«

»Das hat sie nicht«, entgegnete Apollonius warm. »Sie ist brav und hat sich nichts Unrechtes dabei gedacht.«

»Ja, sonst hättest du sie zurechtgewiesen«, lachte Fritz, und es lag Hohn in seiner Stimme.

»Wußt' ich«, sagte Apollonius, »was sie dachte? Du hast sie mit mir aufgezogen und mich mit ihr. Ich habe nichts getan, was solche Gedanken in ihr erwecken konnte. Ich hätt's für eine Sünde gehalten.«

Die Männer gingen ihren Weg wieder zurück. Christianen fiel es nicht ein, sie hätten auch auf den Gang kommen können, wo sie stand. Was von Offenheit und Wahrheit in ihr lag, war gegen ihren Gatten empört. Nicht die Leute hatten ihn belogen; er war selber falsch. Er hatte sie belogen und Apollonius belogen, und sie hatte irrend Apollonius gekränkt. Apollonius, der so brav war, daß er nicht über die Anne spotten hören konnte, hatte auch ihrer nie gespottet. Alles war Lüge gewesen von Anfang an. Ihr Gatte verfolgte Apollonius, weil er falsch war und Apollonius brav. Ihr innerstes Herz wandte sich von dem Verfolger ab und dem Verfolgten zu. Aus dem Aufruhr all ihrer Gefühle stieg ein neues heiliges siegend auf, und sie gab sich ihm in der vollen Unbefangenheit der Unschuld hin. Sie kannte es nicht. Daß sie es nie kennen lernte! Sobald sie es kennen lernt, wird es Sünde. Und schon rauschen die Füße durch das Gras, auf denen die unselige Erkenntnis naht.

Fritz Nettenmair mußte seine neue Scheidemauer aufbauen, ehe er den Bruder zu seinem Weibe führte. Deshalb kam er. Sein Gang war ungleich; er wählte noch und konnte sich nicht entscheiden. Er wurde noch ungewisser, als er vor ihr stand. Er las, was sie fühlte, von ihrem Antlitz; es war zu ehrlich, um etwas zu verschweigen; es kannte zu wenig, wovon es sprach, um zu denken, es müßte dies verbergen. Er fühlte, mit den alten Verleumdungen werde er nichts mehr bei ihr vermögen. Er konnte sie über ihre Gefühle aufklären, sie dann bei ihrer Ehre, bei ihrem weiblichen Stolze fassen. Er konnte sie zwingen – wozu? Zur Verstellung? Zum Leugnen? Zur Verheimlichung, wenn sie einmal wußte, was sie wollte? Würde sie nicht zu sich sagen: den Betrüger betrügen, das Gestohlene heimlich wieder nehmen, ist kein Betrug, kein Diebstahl. Das war es! Das Bewußtsein seiner Schuld verfälschte ihm die Dinge, die Menschen. Er kannte das starke Ehrgefühl seiner Frau wie die bis zum Eigensinn feste Rechtlichkeit des Bruders, und er hätte beiden in allem getraut; nur in dem einen traute er ihnen nicht, wo er das Gefühl hatte, er habe es verdient, von ihnen betrogen zu sein.

So zog er doch den Weg vor, den er bis jetzt gegangen. Er machte einen kleinen Umweg über des »Federchensuchers Narrheiten«. Er wußte, kleine Lächerlichkeiten sind geschickter, eine werdende Neigung zu vernüchtern, als große Fehler. Er agierte Apollonius, wie er den Weg, den er mit einem Lichte gemacht, noch einmal zurückging, aus Sorge, er könnte einen Funken verloren haben. Wie es ihn bei Nacht nicht ruhen ließ, wenn ihm einfiel, er hatte bei einer Arbeit seinen gewöhnlichen Eigensinn vergessen oder ein Arbeiter hatte das strenge Wort nicht verdient, das er, vom Drang der Geschäfte erhitzt, gegeben. Wie er aus dem Bette aufgesprungen, um ein Lineal, das er im schiefen Winkel mit der Tischkante liegen lassen, in den rechten zu rücken. Dabei strich und blies Fritz Nettenmair sich eingebildete Federchen von den Ärmeln. Er sah wohl, seine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt dadurch griff er zu stärkeren Mitteln. Er bedauerte die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in sich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine Weise er sie öffentlich verspotte.

Auf den Wangen der jungen Frau war ein dunkles Rot aufgestiegen. Offene naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen alle Falschheit, vielleicht weil sie instinktmäßig fühlen, wie waffenlos sie vor diesem Feinde stehen. Sie zitterte vor Erregung, als sie aufstand und sagte: »Du könntest das tun, du; er nicht. –

Fritz Nettenmair schrak zusammen. In dem Anblick der Gestalt, die voll Verachtung vor ihm stand, war etwas, das ihn entwaffnete. Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der Unschuld dem Sünder gegenüber. Er raffte sich mit Anstrengung zusammen. »Hat er dir das gesagt? Seid ihr schon so weit?« preßte er hervor. Sie wollte nach dem Hause gehen; er hielt sie auf. Sie wollte sich losreißen.

»Alles hast du gelogen«, sagte sie, »ihn hast du belogen, mich hast du belogen. Ich habe gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm sprachst.«

Fritz Nettenmair atmete auf. So wußte sie nicht alles. »Mußt' ich's nicht?« sagte er, indem sein Auge sich der Reinheit des ihren gegenüber kaum aufrecht hielt. »Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern? Soll der Federchensucher dich verachten?« Noch drückte ihr Blick den seinen nieder. »Weißt du, was du bist? Frag' ihn doch, was eine Frau ist, die Ehre und Pflicht vergißt? An wen denkst du mit Gedanken, wie du nur an deinen Mann denken solltest? Wenn du wie eine verliebte Dirne umherschleichst, wo du meinst, ihn zu sehen. Und meinst, die Menschen sind blind. Frag' ihn doch, wie er so eine nennt? Oh, die Leute haben schöne Namen für so eine.«

Er sah, wie sie erschrak. Ihr Arm bebte in seiner Hand. Er sah, sie begann ihn zu verstehen, sie begann sich selbst zu verstehen. Er hatte ihren Trotz gefürchtet und sah, sie brach zusammen, das Zornesrot erblich auf ihrer Wange, und Schamröte schlug wild über die bleiche hin. Er sah, wie ihr Auge den Boden suchte, als fühlte es die Blicke aller Menschen auf sich gerichtet, als hätte der Schuppen, der Zaun, die Bäume Augen und alle bohrten sich in das ihre. Er sah, wie sie in der Jähheit der Erkenntnis sich selbst so eine nannte, für die die Leute die schönen Namen haben.

Der Schmerz strömte seinen Regen über die schamblutende brennende Wange, und die Tränen waren wie Öl; das Feuer wuchs, als eine Stimme vom Schuppen klang und sein Tritt. Sie wollte sich gewaltsam losreißen und sah mit halb wildem, halb flehendem Blicke auf, der sterbend vor den tausend Augen wieder zu Boden sank. Er sah, sein Auge, das Auge des, der durch den Schuppen kam, war ihr das schrecklichste. Er hatte seinen ganzen Mut wieder.

»Sag's ihm«, preßte er leise hervor, »was du von ihm willst. Wenn er ist, wie du meinst, muß er dich verachten.«

Fritz Nettenmair hielt die Kämpfende mit der Kraft des Siegers fest, bis er Apollonius, der fragend aus dem Schuppen sah, gewinkt herbeizukommen. Er ließ sie, und sie floh nach dem Hause. Apollonius blieb erschrocken auf dem halben Wege stehen.

»Da siehst du, wie sie ist«, sagte Fritz zu ihm. »Ich hab' ihr gesagt, du wolltest sie fragen. Willst du, so gehen wir ihr nach, und sie muß uns beichten. Ich will sehen, ob meine Frau meinen Bruder beleidigen darf, der so brav ist.«

Apollonius mußte ihn zurückhalten. Fritz gab sich nicht gleich zufrieden. Endlich sagte er: »Du siehst aber nun, es liegt nicht an mir. Oh, es tut mir leid!«

Es war ein unwillkürlicher Schmerz in den letzten Worten, den Apollonius auf die mißlungene Aussöhnung bezog. Fritz Nettenmair wiederholte sie leiser, und diesmal klangen sie wie ein Hohn auf Apollonius, wie höhnisches Bedauern über eine verfehlte List.


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