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Fahrende Sänger

Lange war es still in den Gärten und Wäldern; schon im Juli stellte die Nachtigall ihren Gesang ein, der Buchfink ließ sein Geschmetter nicht mehr erschallen. Mönch und Rotkehlchen verstummten, Spötter und Amsel schwiegen; Brutgeschäft und Kinderpflege ließen ihnen keine Zeit zum Singen. Als der August in das Land kam, wurde es noch stiller; der lästigste Schreier der Großstadt, der Mauersegler, der im Mai erst bei uns eingetroffen war, verschwand mit seiner flüggen Brut, der Kuckuck strich stumm von Wald zu Wald, der Pirol erfüllte die Buchenkronen nicht mehr mit seinem Geflöte, selbst die immer lauten Meisen und der stets lärmende Häher ließen sich nicht vernehmen.

Ihnen allen war nicht wohl zumute. Die einen, die, wie Nachtschwalbe, Kuckuck, Wiedehopf, Spötter und Pirol, uns schon früh verlassen, plagte das Reisefieber, die andern litten unter der Mauser; mißmutig, unansehnlich und struppig schlüpften sie von Ast zu Ast und scheuten es in ihrer Unbeholfenheit, durch lautes Wesen ihre Feinde auf sich aufmerksam zu machen. Als aber die Mauser beendet, als das neue Herbstgefieder bis auf das letzte Äderchen fertig war, da kam ihnen der Lebensmut zurück. Sobald der Nordwestwind an den Südwind auf einen Tag die Herrschaft abtrat, kehrte ihnen die verloren gegangene Lebensfreude wieder, und aus allen Hecken, allen Büschen pfiff und zwitscherte, sang und klang es: der Buchfink übte den alten Schlag, die Ammer suchte ihre verlorene Weise zusammen, die Amsel besann sich auf ihren vergessenen Sang und das Rotkehlchen sang wieder sein silbernes Liedchen.

Die Stare, die lange verschwunden waren, kehrten aus den Marschen zurück, pfiffen in der Frühe vor ihren Häusern und schlugen sich abends wieder zu Massenflügen zusammen, die brausend in die Pappeln einfielen, um nach lärmender Unterhaltung wie eine Wolke in den Rohrdickichten der Flüsse und Teiche ihre Schlafstätten aufzusuchen; auf dem Dachfirst krächzte der Hausrotschwanz wieder, im Walde lärmte der Häher, lockte die Meise, und überall in Dorn und Dickicht zwitscherten die jungen Hähne der Braunellen und Grasmücken. Aber von Tag zu Tag wird es jetzt stiller in Wald und Feld, Garten und Busch; einer nach dem anderen aus der Sängerschar verläßt uns, tritt entweder die Reise nach dem Süden an oder zieht weiter, um seinen Artgenossen aus dem Norden und Osten Platz zu machen; anscheinend ziellos wandert alles von Feld zu Feld, von Busch zu Busch, von Wald zu Wald, und unter alle dem bunten, lustigen Volk, das heute bei uns sich noch herumtreibt, ist kaum ein Stück, das hier gebrütet hat, oder das hier erbrütet wurde.

Die Wissenschaft von früher teilte die Vögel in Stand-, Strich- und Zugvögel ein. Die heutige Vogelkunde hat diese Begrenzungen fallen lassen; sie weiß längst, daß, die Spatzen ausgenommen, alle Standvögel streichen, daß alle Strichvögel ziehen; sie teilt heute die Vögel in Sommervögel ein, die, wie Pirol, Kuckuck und Segler, nur im Sommer bei uns leben, in Wintervögel, die, wie die Nebelkrähe und Wacholderdrossel und der große Dompfaff, nur den Winter bei uns verbringen. Dann unterscheidet sie noch Jahresvögel, von denen man das ganze Jahr über Stücke bei uns trifft, wie vom Grünfink und der Rabenkrähe, ohne daß sie aber sagen kann, ob im Winter oder Sommer dieselben Stücke bei uns bleiben, und in bedingte Jahresvögel, von denen, wie von Schwarzdrossel und Buchfink, ein Teil hier bleibt, ein Teil fortzieht; doch auch bei diesen ist es fraglich, ob nicht die bei uns lebenden Stücke fortziehen und nordischen und östlichen Individuen derselben Art Platz machen.

Als unbedingter Jahresvogel galt früher der Eichelhäher, denn diesen Vogel trifft man Sommer und Winter bei uns; aber die meist in großen Flügen im Herbst bei uns auftretenden Häher sind viel vertrauter als die im Sommer bei uns lebenden, und so kann man getrost annehmen, daß es Stücke sind, die aus Gegenden kommen, wo noch keine so intensive Kultur herrscht, wo ihnen also wenig oder gar nicht nachgestellt wird.

Auch die Rabenkrähen, Raubwürger, Bussarde, Ringeltauben, Spechte, Kernbeißer, die sich im Herbst und Winter bei uns zeigen, sind lange nicht so scheu wie ihre hier brütenden Artgenossen, wogegen die Winteramseln unserer Wälder bedeutend scheuer sind als unsere einheimischen, an die Nähe des Menschen gewöhnten Schwarzdrosseln, so daß hier wieder eine Art des Beweises für ihre Herkunft aus der Ferne vorliegt. Und wenn, was oft genug vorkommt, im Herbst und Winter der den Menschen so ängstlich meidende Wanderfalke auf dem Kirchturme einer Großstadt seinen Stand nimmt, um der Taubenjagd obzuliegen, so geht daraus bestimmt hervor, daß er aus einer einsamen skandinavischen Klippenecke, aus einem fernen Walde im menschenarmen Rußland herstammt.

Aber viel von dem bunten Volk, das Herbst und Winter uns bringen, verrät schon durch seine Artzugehörigkeit seine fremde Herkunft. Auf unseren Nord- und Ostsee-Inseln erscheinen zu Tausenden und aber Tausenden nordische Strandläufer, Regenpfeifer, Möwen, Enten, Gänse und Taucher; der isländische Zwergfalke sucht in unseren kahlen Feldern Beute, der Seeadler des Nordostens besucht die Seen Deutschlands, und an allen größeren Flüssen entlang wandern kleine und große Trupps von Möwen.

Auch in den Wäldern wird es wieder lauter, wo eben noch lautlose Leblosigkeit war, da piept und zwitschert, lockt und klingt es in allen Ästen; Hunderte von Goldhähnchen beleben plötzlich die Kronen mit Flug und Gewisper, ein lärmender Meisentrupp nach dem anderen zieht durch das Unterholz, Scharen von Kernbeißern, Bergfinken und Dompfaffen erfüllen den Wald mit Klängen und Farben, und auf Schritt und Tritt erschallt der scharfe Ruf der Buntspechte.

Ist im Norden die Zirbenernte mißraten, haben die Beerensträucher, die Erlen und Birken mangelhaft angesetzt, dann drängt der Hunger allerlei Vögel nach dem Süden, die sich seit Jahren bei uns nicht zeigten. Dann wimmeln unsere Flußwälder von Berghänflingen und Erlenzeisigen, in den Buchenwaldungen erscheinen Hakengimpel und Nußhäher, und die prachtvollen Seidenschwänze mästen sich an den roten Früchten der Eberesche. Und gibt es im Norden wenig Mäuse und Lemminge, dann müssen auch deren Feinde südwärts, die fein gezeichnete Sperbereule und der große weiße Schneekauz.

Auch die nordischen Drosselarten zeigen sich um diese Zeit bei uns: mit den auch bei uns lebenden Schwarz-, Sing- und Misteldrosseln erscheinen in kleineren und größeren Trupps Ring-, Wein- und Wacholderdrosseln, und nicht mehr fallen sie, wie einst, mit unseren Singdrosseln einem der letzten Reste barbarischer Vogelmassenmörderei in Deutschland, dem Dohnenstiege, zum Opfer, sondern dürfen frei bei uns schweifen, bis im Süden, in der italienischen Schweiz, in Welschtirol und in Italien, der Mensch ihnen wieder mit Drosselherd und Schießgewehr nachstellt.

Wir aber wollen uns freuen, daß dieser Unfug bei uns aufgehört hat, daß nicht mehr mit Sprenkel und Dohne vermindert werden im deutschen Vaterlande die fahrenden Sänger.


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