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Heimatliche Naturbilder
Schnee liegt in dem Garten, Eis hängt an den Dächern. Gegen Mittag gewinnt die Sonne Macht, sie zermürbt die Eiszapfen an den Dachrinnen, taut den Schnee zusammen und macht hier und da den schwarzen Erdboden frei. In der Mitte des Gartens, wo die Sonnenstrahlen am stärksten hinfallen, steigt ein silberner Punkt auf, tanzt hin und her, blitzt auf und ab. Ein zweiter, dritter, vierter folgt ihm, und immer mehr erscheinen, bis über der Buchsbaumeinfassung, die steif und dunkel von dem weichen, hellen Schnee absticht, ein Wirbel von blitzenden Silberpunkten flimmert.
Kopfschüttelnd sieht sich der Besitzer des Gartens, der das Vogelfutterhaus mit frischem Mischsamen versehen wollte, das Geflirr an. Er will seinen Augen nicht trauen, denn er erkennt, daß die blitzenden Punkte Mücken sind, richtige Mücken von der Größe der Stechmücken, die ihn im Sommer oft peinigten.
Er nimmt an, daß es sich um eine jener Ausnahmeerscheinungen handele, an denen die Natur so reich ist, um einen durch besondere örtliche Verhältnisse entstandenen Vorgang, denkt vielleicht, daß, weil es Waschtag ist, es in der Waschküche überwinternde Mücken sind, die durch die Glut des Herdes aus ihrer Erstarrung erweckt sind; er zieht sie in Vergleich zu den beiden Schmetterlingen, dem Pfauenauge und dem kleinen Fuchs, die gestern beim Reinmachen der geschlossenen Veranda von dem Mädchen gefunden und als bedeutende Naturwunder in das Wohnzimmer gebracht wurden, wo sie bald aus dem Schlafe erwachten und lustig gegen die Fensterscheiben flatterten.
Als er aber gleich nach dem Mittagessen vor das Tor hinausgeht, wo die Spatzen von allen Dächern zwitschern und in allen Bäumen die Meisen pfeifen, da sieht er überall an geschützten, sonnigen Stellen zwischen den Hecken kleinere und größere Schwärme von Mücken, die in säulenähnlicher Anordnung auf und ab gaukeln und in ihm das Gefühl erwecken, daß der Frühling schon vor der Tür stehe, und daß bald die Schneeglöckchen im Garten ihre weißen, grüngezierten Glöckchen entfalten werden. Und da er kein Kohlenhändler oder Kürschner oder Festsaalbesitzer ist, ihm also keine geschäftlichen Interessen den Wunsch nahelegen, der Winter möge recht lange dauern, so freut er sich der Frühlingszeichen, als welche ihm die Mücken erscheinen, wenn er auch im Bogen um sie herumgeht.
Letzteres hatte er nicht nötig, denn die Mücken, die im Winter spielen, stechen nicht; es sind aber auch keine Frühlingszeichen, es sind echte Wintertiere, die nur in der rauhen Jahreszeit zu finden sind, und die, wenn das übliche summende und brummende Volk erwacht, matt und müde in das faule Laub fallen und sterben. Es ist die Tanz- oder Wintermücke, deren Made aus den im Spätwinter und Vorfrühling gelegten Eiern im Herbst auskriecht, im faulen Laube und in Pilzen lebt und nach kurzer Puppenruhe erst im Spätherbste als fertiges Tier erscheint. Es ist der einzige deutsche Zweiflügler, der ein reines Wintertier ist, wie denn die meisten unserer Kerbtiere ausgesprochene Sommertiere sind, die den Winter als Ei, Larve oder Puppe überdauern, wenn auch viele von ihnen, wie eine Menge Käfer, Schmetterlinge, Bienen, Wespen und Fliegen als fertige Tiere den Winter im Todesschlafe verbringen und nur, wenn ganz besondere Umstände, so anhaltend warme Witterung, eintreten, aus der Erstarrung erwachen und sich zeigen, um dann als große Seltenheiten angestaunt und als Frühlingsboten begrüßt und den Zeitungen als erster Maikäfer oder erster Schmetterling zugesandt zu werden.
Gegenstücke zu den Wintermücken bieten die Schmetterlinge in den zum Teile den Obstbäumen sehr gefährlichen Frostspannern, meist kleinen und zarten, unauffällig gefärbten, aber äußerst fein gezeichneten Nachtfaltern, deren Weibchen statt der Flügel nur Stummel besitzen. Alle zu dieser Gruppe gehörigen Arten erscheinen erst vom Spätherbst ab, doch nicht gerade in der Mitte des Winters, vielmehr tritt um diese Zeit eine Pause ein. Einige Arten sind Spätherbst- und Frühwintertiere, von denen jede Art an eine bestimmte Zeit gebunden ist.
Im Vor- und Nachwinter sieht man diese Falter tagsüber an den Stämmen im Walde sitzen oder auf den Wegen liegen; mit Eintritt der Dämmerung werden sie munter und flattern in regellosem Fluge von Baum zu Baum, um die plumpen, mehr einem Käfer als einem Schmetterling ähnlichen Weibchen zu suchen, gegen die sich der Obstbaumbesitzer durch mit Raupenleim getränkte Pappekragen oder Sackleinwand zu schützen sucht, die er mit der offenen Seite nach dem Boden hin um die Stämme unterhalb der Krone bindet.
Obwohl die Frostspanner Jahr für Jahr in ziemlich großer Anzahl auftreten, so erscheinen sie in einzelnen Jahren massenhaft, und besonders an etwas nebeligen Winterabenden macht es sich ganz gespenstig, wenn der kahle Wald von ihnen durchschwirrt wird. An jedem Stamme, an dem ein Weibchen sitzt, tummeln sich oft mehr als ein halbes Hundert Männchen, und am andern Morgen liegen die toten Falter überall auf den Wegen oder schwimmen auf den Gräben, den Meisen, Spechten, Spitz- und Waldmäusen ein willkommener Fraß.
Außer den Wintermücken und den Frostspannern gibt es aber noch einige Kerbtiere, die ausschließlich im Winter vorkommen, so die Gletschergäste, drei bis vier Millimeter lange, dunkelmetallgrüne, flügellose, behende Tierchen, die an schattigen Stellen der Bergwälder zwischen dem Moose umherhüpfen. Ihre Gestalt und ihr Benehmen ähnelt dem der Gallwespen, doch sind sie mit diesen keineswegs verwandt, sondern gehören zu den Wasserjungfern und Eintagsfliegen.
Zu der niedrigsten Insektengruppe gehören zwei andere Wintertiere unter den Insekten, nämlich zu den Springschwänzen, jenen bekannten winzigen, schmalen Tierchen, die gern auf und unter Blumentöpfen leben und die imstande sind, sich mit einer am Ende des Hinterleibes befindlichen, am Bauche anliegenden Sprunggabel weit fortzuschnellen, eine Vorrichtung, die an die Spielwerke erinnert, die sich Kinder auf dem Lande mit Zwirn, Wachs und einem Streichholze aus dem Gabelbeine der Hühner herzustellen pflegen. Das eine ist der Schneefloh, ein graugelbes, schwarzgesprenkeltes, zwei Millimeter großes Wesen, das sich in unseren Wäldern auf schmelzendem Schnee findet, auf dem es allerlei winzige Algensporen abweidet und munter hin und her hüpft. Sein naher Verwandter, der Gletscherfloh, der auch nicht größer, aber schwarz und lang behaart ist, lebt auf höheren Gebirgen, besonders in den Alpen, kommt aber auch schon im Riesengebirge vor. Dort ist er nur im Winter zu finden, während er in den Gletscherbezirken auch im Sommer lebt.
Auch unter den deutschen Landschnecken finden sich zwei Gruppen, die Glasschnecken, die man nur vom Herbste bis zum Frühling findet. Es sind kleine Tiere mit sehr dünnen, glashellen Gehäusen, die bei der einen Gruppe, den Daudebardien, so klein sind, daß sie kaum ein Drittel des Leibes bedecken. Auch hier zeigt es sich wieder, daß die alpinen Formen im Sommer vorkommen, während man die Arten der Ebene und der Mittelgebirge erst im Spätherbste antrifft, während sie den Sommer als Ei tief im feuchten, kühlen Laube oder unter nassem Steingeröll in schattigen Schluchten und Mulden überdauern. Alle zu diesen beiden Gruppen gehörigen Arten sind einjährige Tiere und von räuberischer Natur, die von anderen kleinen Schnecken leben, deren Gehäuse sie mit ihrer mit vielen scharfen Kalkzähnen besetzten Zunge durchfeilen.
So winzig und unscheinbar diese Schneckchen, so wie der Schneefloh und der Gletschergast auch sind, so sind sie für den Naturforscher doch viel belangreicher als manches große, auffallend gefärbte Wesen, einmal deswegen, weil sie, obwohl kaum mit hervortretenden Schutzvorrichtungen versehen, imstande sind, bei hohen Kältegraden ein bewußtes Leben zu führen. Versuche, die man mit dem Gletscherfloh anstellte, ergaben, daß er eine Temperatur von zehn Graden Kälte, der man ihn in eingefrorenem Zustande aussetzte, ohne Schaden überwand.
Sodann sind diese Tierchen, wie die großen Gesteinsblöcke der norddeutschen Tiefebene, mit Sicherheit wohl als Überbleibsel aus jener Zeit aufzufassen, in der Norddeutschland Zehntausende von Jahren ein arktisches Klima hatte und in Eis und Schnee lag. Damals weideten an den Rändern der Gletscher Moschusochse und Ren, Schneefuchs und Vielfraß stellten dem Lemminge nach, der Jagdfalke und die Schneeeule hausten dort, zwergige Birken und kriechende Weiden bedeckten das Geröll der Gletscherhalden.
Sie alle verschwanden, als das Eis abschmolz, und blieben nur noch im hohen Norden erhalten oder gingen, wie das Mammut, völlig unter. Einige Kerbtiere und wenige Schnecken allein blieben erhalten aus jener Zeit, in der der Mensch, mit Steingerät bewaffnet, in unserer Heimat dasselbe Leben führte wie heute noch der Eskimo und der Grönländer.
Aus toten Dingen, Gletscherschrammen an Steingeschieben, Knochen- und Steinwaffenfunden im Boden und Seeschlamm denkt sich der Forscher ein Bild jener Zeiten zusammen, deren einzige lebende Zeugen, von einigen Pflanzen abgesehen, winzige Kerbtiere und zwerghafte Schnecken sind, die im Winter ihr seltsames Leben führen, das unverfrorene Volk.