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Acht Wochen nach dem Verkauf von Wittensee hatte Breide eine Anstellung als Schaffner bei einer Bahn im Süden der Provinz Posen gefunden.
Wer mit der trocknen Schwarzbrotrinde im Munde geboren ist, wird die Sorgen niemals so empfinden können, als von seinen Mitbrüdern der, der mit einem goldnen Lutschbeutelchen zur Welt kam und später am Schandpfahl der Armut stehen muß.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, heißt ein Wort. Ein böses, aber wahres Wort. Freß ich meinen Nebenmann nicht, frißt er mich. Ei, jeder ist sich selbst der Nächste.
Ein greuelvolles Gedränge ist das Leben. Einer trampelt über den andern und auf dem andern, um hoch zu kommen.
Wie bei einem Schiffbruch, wenn das Rettungsboot, in dem wir saßen, umschlägt, so arbeiten, stoßen, zappeln, schwimmen wir, um den Kiel des gekenterten zu erkrallen; rücksichtslos schleudern wir den Schwachem ins Wasser zurück, und kommt es darauf an, in letzter Atemnot, wir beißen in die Fäuste des Nachbarn, daß er die Planke losläßt, damit wir, wir, wir – der einzelne nur gerettet werden. Das ist so menschlich. Es kann nicht anders sein.
Die wenigen guten Eigenschaften, die uns mitgegeben sind – und keiner ist ohne solche geboren – arten in Schwächen aus, überlassen wir uns ihnen. Mit Entsetzen merken wir bald, daß uns diese schnell und schlau abgelauscht sind und mit allen Kräften ausgebeutet werden. Verwundert erst, dann traurig, zuletzt mit zorniger Stirn, vergraben wir sie, suchen wir sie wenigstens zu vergraben, denn immer wieder tritt zu Tage, wie sich ein sandverschütteter Quell wieder vorzudrängen sucht, was uns eingeimpft war, als wir das Licht unsrer Erde erblickten. Ein schlechter Charakter kann nie zum guten, ein guter nie zum ganz schlechten werden. Wir selbst können wenig dabei thun. Es ist unser Erbteil: Was vor tausend Jahren vielleicht einer unsrer Voreltern in Blut und Gehirn hatte und mit ihm in die Erde ging, wer weiß es, feiert seine Auferstehung wieder in uns. Um so milder sollten wir uns beurteilen.
Aber fester Wille, Selbstzucht, dringender, fort und fort gestachelter Wunsch: wahr zu sein in allem, und endlich: immer und immer wieder sich zu wiederholen: sei edel, sei gut, immer sich zu sagen: erhebe Dich nicht über die andern: Du konntest nicht in ihr Herz sehen – das sind die Felsblöcke im Triebsand des Tages, die wir mit harter Hand festhalten müssen, sonst …
Der bedauernswerteste von zwei Menschen, die arm und reich in der Wiege lagen, ist ohne Zweifel der, der reich geboren, mit besten Mitteln erzogen, nur in der »großen Welt« gelebt hat, und nun, ob durch Selbstschuld oder nicht, plötzlich im ekelhaften Schmutz der Armut waten muß. Der Arme, der nie ein andres gekannt hat als ein Bett aus Haidekraut und Stroh, wird es jenem nicht nachfühlen können, wie ihm die Pulse geschlagen haben, wie er die Nägel in die Handfläche grub, als er Hinz und Kunz auf seinen Vollblutpferden davonreiten sehn mußte. Aus dem dumpfen Neidgefühl, das der arme Teufel früher dem bei ihm im eignen Wagen Vorbeifahrenden häßlich nachlächelte, ist ihm Spott und Hohn geworden, und ein tief in uns Menschen allen schlummernder Wunsch, unsern besser gestellten Bruder baldmöglichst im heißen Kessel des Unglücks zu wissen, zeigt sich dann befriedigt: »Nun, Du Hallunke, der Hunger packt nicht übel, nicht wahr?«
Mitleid, jenes süße Veilchen, von einem schönern Stern, das uns eine liebe Fee mit auf den Erdenweg gab, daß wir doch ein Erinnern hätten, daß wir einst nicht Wolf neben Wolf treten mußten, Mitleid – kann ruhig in unsern Herzen wohnen neben jenem heißen, heimlichen Wunsch: möge der uns durch irgend ein Schicksal über uns gestellte, höhere, reichere, begabtere, vornehmere Mensch doch schon in der nächsten Stunde vor uns, mit den Beinen nach oben, gekreuzigt hängen.
O, wie liebevoll denken wir voneinander!
Breide hatte den Gedanken, sich selbst zu töten, erwogen. Aber der kräftige, gute Kern seines Innern ließ ihn nicht weiterkeimen.
Zum Selbstmorde, wenn nicht im Wahnsinn ausgeführt, gehört ein ganz besondrer Mut. Das Eintauschen dieses Lebens, und ist es noch so trostlos und trübe, mit einem ungewissen andern hält manchen zurück. Und selbst der Gedanke, daß nach dem erlösenden Schuß, nach dem Sprung ins Wasser auf Nimmerwiedersehen wir tiefe, tiefe, nie gestörte Ruhe haben, läßt den andern so schwer los: Blüht denn wirklich nicht noch irgendwo für uns im großen Garten der Erde ein Glücksblümchen?
Freilich, was hatte Breide zu erwarten? Ei doch! wenn er allein gewesen? Hätte er sich nicht, beim letzten Becher Wein, die Faust auf den Tisch trumpfend, gesagt: Lustig hab ich gehaust, die Weiber hab ich geliebt und sie haben mich geliebt, Geld hatte ich so viel ich wollte, um immer, und das gab mir so fröhlichen Sinn, glückliche Gesichter um mich zu sehen. Und nun?
Schließlich brach sein Humor durch; sein grades ruhiges Denken, sein edles Gemüt stemmten sich. Immer mehr sah er die elende Feigheit ein, sich wegzuschleichen ins Dunkle, weil ihm die Butter zum Brot fehle.
Und dann war es vor allem seine Frau, die er sich nicht vorstellen konnte, wie sie über seiner Leiche lag, im Tode ihn noch anklagend: Weshalb verließest Du mich? Bin ich von Dir gegangen?
»Stah fast, Hans!« rief er laut, und mit beiden Händen in die scharfen Messer des Lebens greifend, hielt er stramm, und bluteten sie auch noch so sehr.
Breide Hummelsbüttel war Schaffner an einer Bahn im Süden der Provinz Posen. Der Eisenbahnminister, dem die Verhältnisse des Barons zur Kenntnis gekommen, hatte Herrn »Büttel« mit gütigem, wohlwollendstem, menschenfreundlichstem Herzen die Stelle sofort verschafft.
In der Breslauer Straße in Rawicz wohnte er. Nicht um Haaresbreite war er gesunken. Seinen neuen Dienst vertrat er mit Eifer. Jeden Pfennig brachte er seiner Frau.
Heilwig, immer sich gleich bleibend, sich aufopfernd, leitete bewunderungswürdig den kleinen Haushalt. Nur ein kleines Judenmädel hatte sie zur Aushilfe.
Und nun kamen die Entbehrungen. Als die Spritlampe zu teuer wurde, wurde ein Petroleumkochofen gekauft. Wie greulich das roch.
Aber es half nichts. Nur ab und zu nahm es Breide Wunder, wie seine Frau mit dem kleinen Haushaltungsgelde durchkommen konnte, wie sie es doch fertig brachte, ihm kleine Annehmlichkeiten zu bereiten, die ins Werk zu stellen, sein Gehalt nicht hinreichen konnte. Er ahnte nicht, daß seine Schwester auf Umwegen Heilwig Geld zukommen ließ.
Seine freien Tage und Stunden benutzte er, um auf der nächsten Telegraphenstation sich einzuüben. Rasch eignete er sich das Nötige an.
Schon nach einigen Monaten vertrat er kommissarisch auf längere Zeit einen Bahnmeister. Seinen Wohnsitz behielt er in Rawicz.
Zeitungen las er nicht mehr. Briefe schrieb er weder, noch erhielt er solche. Nur Vergessenheit in Arbeit wollte er.
Im Herbst des nächsten Jahres wurde Heilwig krank. Sie schien die Last nicht mehr tragen zu können. Doch raffte sie sich wieder auf. Wie unermüdlich war Breide, ihr kleine Überraschungen zu machen; wie hielt er ihre Hände, wie stützte er stundenlang, an ihrem Bette sitzend, im Kissen ihr Haupt, weil er wußte, daß sie dann ruhiger, sichrer, sanfter schlafe.
Manches Mal war er selbst nahe daran, zusammenzubrechen. »Stah fast, Hans!« rief er dann, und hochaufgerichtet ging er dann die Dornenbahn der schweren Arbeit weiter. Mehr als im Anfang seines neuen Lebens dachte er oft zurück an Holstein, an Wittensee, an seine Berliner Zeit – und Heimweh, immer unerträglicher werdend, peinigte ihn. Auch darüber scherzte er sich hinweg. Sein Humor hatte ihn nicht verlassen.
Alle die Demütigungen, die die Armut im Gefolge hat, trug er stolz auf seinem breiten Nacken. Und wollte es gar einmal nicht länger gehen, schaute er stumm in die liebevollen Dulderaugen Heilwigs. Und: Stah fast, Hans! lachte er dann.
Immer bekümmerter schlug ihm das Herz: Tag nach Tag schwand ihm Heilwig mehr dahin. Sie konnte beim besten Willen nicht mehr aufrechtstehn: das Leben war zu schwer, zu furchtbar schwer.
Da fiel ihm wieder die Selbstbefreiung aus den Ketten der elenden Tagfahrt durch den Tod ein. Keiner ist verpflichtet, mehr zu leisten, als er kann. Und es ging nicht mehr … Er hatte sichs schon zurecht gelegt. Ohne daß es Heilwig merken sollte, wollte er ihr ein schmerzloses raschtötendes Gift in einem Glase Wasser, in einer Tasse Thee, oder wie immer es die Gelegenheit bot, geben. Dann ihren erkaltenden Arm um seinen Hals legend, seinen Kopf an ihrem Herzen, wollte er selbst den Rest schlürfen.
Da erhielt er aus dem Ministerium ein Schreiben, daß er zum Vorsteher der Eisenbahnstation Sczalmiercze ernannt sei. Mitten im Walde, das wußte er, hart an der russischen Grenze lag das einsame Haus. Sein Gehalt wurde das fünffache, als was er bisher empfangen.
Überglücklich eilte er in die Breslauer Straße zu seiner Frau. Es war spät in der Nacht. Heilwig schlief, als er eintrat. Seinen Stuhl leise an das Kopfende des Bettes stellend, zog er sie an sich und küßte sie. Sie streckte ihm, noch halb im Schlafe, die Arme entgegen, und hörte, die Augen allmählich größer öffnend, die Freudenbotschaft.
Und nun wurde sie auch wieder gesünder. Die glückliche Nachricht ihres Mannes hatte auf sie gewirkt wie die beste Medizin. In einigen Tagen schon war der Umzug vollzogen. Alle Not schien gehoben. Sie hatten ein einkömmliches Gehalt. Lagen sie auch weitab von der großen Heerstraße der Welt, besaßen sie doch nun ein eignes gut gebautes Haus. Gartenland und etwas Feld, das mit Mühe den großen Waldmassen abgewonnen war, stand zu ihrer Verfügung.
Als sie an ihrem neuen Bestimmungsort ankamen, empfingen sie die polnischen Holzarbeiter und die wenigen Beamten, die Breide dort unterstellt waren. Mit demselben Zuge ging auch, von Wulfhilde, ein vortreffliches Jagdgewehr für Breide ein. Und er und Heilwig und alles rief: Hurra!