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Der erste Stock des Herrenhauses von Wittensee in seinen vielen ineinander und nebeneinander liegenden Räumen war luxuriös erleuchtet. Heilwig und Breide hatten sie heute Abend der Gesellschaft geöffnet. Und aus der Nähe und Ferne, selbst aus Hamburg und Berlin, waren Bekannte eingetroffen. Breide hatte in einem lustigen Trinkspruch dem Winter den Abschied, dem nun ganz einmarschierten Frühling den Willkommen getrunken. Überaus reizend war, auf des Gutsherrn Geheiß, der Eßsaal geschmückt. Er war völlig bezogen mit Schlehdorn, und selbst zwischen den Tellern, auf dem ganzen Tische, lag zu tausenden die zarte weiße Blüte. Es war ein feenhafter Anblick.
Nach Beendigung des Mittagessens hatte sich alles in den Zimmern zerstreut. Gruppen bildeten sich, Gespräche zu Zweien, Wiederfinden Einzelner, die bei Tisch weit auseinander gesessen hatten. In Breides beide Zimmer zur ebnen Erde hatten sich die Raucher zurückgezogen, plauderten lebhaft, tranken stehend oder sitzend ihren Kaffee.
Breide hatte einen jungen, ihm näher befreundeten Docenten der Kieler Universität unter den Arm gefaßt. Er fragte ihn, über welchen Gegenstand er zuletzt gesprochen und gelesen hätte. Über »Die Erinnerung und den Schmerz«, antwortete ihm der Freund. Über »Die Erinnerung und den Schmerz«, fragte verwundert, gedehnt Breide; »in welchen Zusammenhang bringen Sie die Erinnerung und den Schmerz. Oder wollen Sie den Gegensatz entwickeln?«
»Erinnerung ist Schmerz; Erinnerung ist nicht ›der beste Freund‹, wie es im Liede heißt.«
»Ich gebe Ihnen recht, Herr Doktor. Erinnerung ist ein stachlicht Hemd, wenn wir es uns überziehen. Das Erinnern an schön verlebte Stunden bringt Wehmut. Die Erinnerung an Unglück, ausgestandene Qual ist gradezu unerträglich. Und doch zwingt uns jede Stunde, an traurige, an fröhliche Ereignisse zu denken.«
»Sie haben den Anfang meines Vortrages fast mit denselben Worten wiederholt,« sprach der Doktor.
An den Baron trat ein Diener und machte ihm eine leise Meldung. Breide entschuldigte sich bei seinem jungen Freunde und verschwand.
Im Wintergarten saßen die verwitwete Majorin aus dem Nachbarstädtchen und eine ältere Gutsbesitzersfrau. Beide hatten sich ängstlich umgesehen, um keine Lauscher zu haben. Sie waren bald im tiefsten, sich überstürzenden Gespräch: »... und das ist das Unerhörte bei der Sache, daß sich der Baron nicht die geringste Heimlichkeit erlaubt …«
»Aber ich bitte Sie,« redete die Majorin, »ich bitte Sie, das nennen Sie keine Heimlichkeit, wenn bei Nacht und Nebel der Wagen zur Station fährt? Und dort warten die Insassen in der Chaise, bis der Zug heranbraust, um dann schnell im Coupé zu verschwinden.«
»Hat man gesehen, Liebe, wer denn eigentlich gestern mit dem Zuge nach Süden weiterfuhr?«
»Ich denke doch. Alle Welt spricht davon: eine ältre, zwei junge Damen und ein Kind.«
»Zwei junge Damen auch,« rief entsetzt die Gutsbesitzerin. »Das ist ja nicht möglich. Und doch, es ist ihm alles zuzutrauen. O, die arme, arme Baronin …«
» Sie natürlich weiß von nichts, wie immer. Es geht in der That nicht länger. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.«
In diesem Augenblick traten zwei junge Damen in den Treibgarten, um ihre Herzensgeheimnisse auszutauschen. Die Majorin und die Gutsbesitzerin standen mit stiller Wut auf und entfernten sich. Es war ein so schöner Platz gewesen.
Breide hatte sich auf einige Minuten in den Garten gestohlen. Die Stirn war ihm so heiß: Erinnerung, auch die süßeste, ist ein stachlicht Hemd, wenn man es überzieht … Und zwei große dunkle Kinderaugen, seine eignen, hatten fort und fort ihn heut bei Tische angeschaut; sie hatten ihn gequält … Und heute Abend endlich wollte er das Geheimnis Heilwig offenbaren, wollte ihr zu Füßen liegen, und wenn sie vergab, und – wenn – sie – seinen – Sohn, nicht den ihren ins Schloß nehmen wollte, ihn erziehen … Es war die furchtbarste Zumutung an ein Weib. Aber es mußte geschehen … Und wenn er, nicht roh, nicht polternd, alles erklären würde, wie es gekommen; wenn er ihr sagen würde, daß ihr Jähzorn ihn so oft aus Wittensee getrieben, auf Tage, auf Wochen … um Zerstreuung zu suchen, und daß er einmal in seiner Abwesenheit ein sanftes, kaum je ein Wort sprechendes Mädchen gefunden habe, mit der er so glücklich gewesen; die ihn nie gequält hätte mit Launen und heftigen Auftritten … und daß es ihr Knabe sei, den sie ihm sterbend in den Arm gelegt.
Im Garten schlug die Nachtigall. Jasmingeruch durchzog ihn. Breide stand unter einem frisch erblühten Kastanienbaum …
Da hörte er aus dem Musiksaal (die Fenster waren weit geöffnet) Gesang. Detlev Hummelsbüttels (die Brüder hatten der Einladung Folge geleistet) ihm von früher her bekannte schöne Stimme sang hinreißend das wundervolle Lied von Robert Franz-Lenau:
Wie sehr ich dein, soll ich dir sagen,
Ich weiß es nicht, und will nicht fragen,
Mein Herz behalte seine Kunde:
Wie sehr ich dein, ja dein im Grunde.
O still, ich möchte sonst erschrecken,
Könnt ich die Stelle nicht entdecken,
Die unzerstört für Gott verbliebe,
Beim Tode deiner, deiner Liebe.
Er hatte es leidenschaftlich und schnell gesungen, wie das Lied gesungen werden muß; nur die letzten Worte: »deiner Liebe« mit grenzenloser Hingabe, in ein tiefschmerzliches Adagio fallend.
Während des Gesanges hatte Breide unbemerkt im Dunkeln in den Saal sehen können; und mit Staunen, dann mit plötzlicher Eifersucht gesehen, (war es Täuschung?), wie die Augen Detlevs länger als nötig die Augen Heilwigs gehalten, und wie Heilwig ihnen nicht ausgewichen war.
Breide stöhnte. Noch heute, nach wenigen Stunden, wenn alles sich entfernt, wollte er sich seinem Weibe entdecken, ihre Versöhnung erflehen, sich nie mehr von ihr trennen. –
Der kleine Justizrat Möllwind war leise angetrunken. Das war ihm seit über vierzig Jahren nicht geschehen. Aber freilich, Breides berühmter Palus – Bordeaux noir – ging so leicht in die Adern. Dort fuhr er erst so hübsche Schifflein mit allerlei Flaggen und Feuerwerk und Musik und Guirlanden, dann aber wurden die Schifflein bald zu schweren, schweren Kolossen, und aus den Kolossen entstanden wieder allerlei merkwürdige Gedanken-Figuren, und diese Gedanken-Figuren trieben dann lässig hinaus durch »das Gatter der Zähne« … allerlei, was sonst auf tiefstem Herzensgrunde vielleicht für immer sich verankert hatte, schwamm nun leicht an die Oberfläche … Ei, ei, der lustige, so kluge, kluge kleine Justizrat, der sonst so äußerst vorsichtig mit jedem Worte war, auch in der sprudelndsten Erzählung, stand heute im Kreise einiger Herren, und sprach tausend Grundsätze und Lebensregeln aus, die sonst von ihm wohl jeder als in seinem Innern feststehend wußte, aber niemals geglaubt hätte, daß er sie auch im tollsten Rausche preisgeben würde.
»... i, was, was ist das Leben? Eine einzige große Quälerei, ohne Sinn, ohne Verstand; oder hätte es den Sinn, daß der das Leben versteht, der die andern totschlägt, bis er ganz allein, schrankenlos über die Erde schreitet? Aber unser ewiger Drang nach Gesellschaft, nach andern Menschen … von allen Seiten in jeder Sekunde bedroht, müssen wir stets mit gekrallten Fingern stehn, meine Herren, immer bereit, den Angriff abzuschlagen … i, was kann da sein … immer den Menschen ins Gesicht mit den Stiefelabsätzen, sonst fühlen wir selbst die Hacken dieser Lieben … keine Rücksichten, keine Rücksichten, meine Herren … Und so hab ichs gehalten bis jetzt. Bis hoch in meine zwanziger Jahre hinein war ich ein so dummer Kerl, der sich alles gefallen ließ – dann wandte sich die Sache. Ich sagte mir: entweder jetzt eine Kugel in den Kopf, oder du wirst auch einmal ein Mensch, also Heuchler, herzensroh, Egoist. Und es gelang mir vollständig. Bald ging alles vortrefflich … Und dieser ganze Unsinn: schließlich gilt das alte Wort: ein gutes Diner, eine gute Zigarre: der höchste Genuß … Mark Aurel« (sprach der Justizrat, gänzlich unvermittelt überspringend, wie er denn seine sonst so haarscharf folgerichtigen Gedanken in keiner Weise mehr bei einander hatte), »Mark Aurel lieb ich sehr, aber der Gute hat ja nichts, gar nichts gehabt. Da ist zum Beispiel die sogenannte Liebe … die einzige Philosophie des Weisen ist: Ruhe haben … und das verstanden Mark Aurel und Goethe. Alles, alles abthun, was uns stört … Ja die sogenannte Liebe. Mein Gott, wie lassen wir Männer uns quälen. Unsinn, sag ich, Unsinn. Der Hunger und die Liebe erhalten das Getriebe. Nun ja, richtig! Den Tribut, den wir an die Natur zu zahlen haben …« Der Justizrat wurde cynisch, so cynisch, als spräche er wie ein Fähnrich unter Fähnrichen. Der hellblauäugige, junge Pastor Tröster mit seinem so guten Herzen und mit seinem scharfen Verstande, der auch unter den Zuhörern gestanden, hatte schon seit geraumer Zeit den Kreis verlassen, sich in eine Mappe mit Kupferstichen vertieft und war dann, ohne Aufsehen, in ein Nebenzimmer getreten. Und nun tauchte der kleine Justizrat wieder aus dem Sumpfe hervor … »nein, nein: Schlauheit und Schonungslosigkeit unsern geehrten Mitmenschen gegenüber, allways excepted. the present Company,« fügte er artig hinzu, »das ist das einzige, und dann – ein vortrefflich zubereitetes Diner und eine vortreffliche Zigarre darauf. Alles Übrige …«
Im Nebenzimmer, wohinein Pastor Tröster geraten war, als ihn der Justizrat vertrieben, hatte das Gespräch über die litterarische Bewegung der Gegenwart lebhaftes Hin und Her im Schwünge. Just endete ein Gymnasialdirektor:
»... und so wäre nur noch Gustav Freytag, der einzige, der unsrer Jugend empfohlen werden kann.«
Ihm antwortete, ein wenig heftig, ein »sein Geld lebender« Graf Heesten, der auf einem Nachbargut wohnte, und der zu den fünfhundert bis tausend Männern gehörte, die von den fünfzig Millionen Deutschen sich der Mühe unterziehen, nur Kritiken einzusehen über solche Bücher, die von ihnen vorher selbst gelesen sind. Er war zu erschreckenden Aufschlüssen gekommen.
»... Was bringen Sie die ›Jugend‹ wieder vor, Herr Geheimrat,« antwortete der Graf; »für die Jugend genügt das Allerbeste nicht. Das ist der bekannte Satz. Aber Sie wollen doch nicht ganz Deutschland in Bezug auf die zu lesenden Bücher als Tertianer und Konfirmandinnen behandelt wissen. Und wenn Sie mir tausendmal einwenden (oder habe ich Sie vorhin nicht recht verstanden), daß gar zu leicht unsern Kindern Bücher in die Hände fallen, die sie verderben können, dann würde schließlich Deutschland einfach in eine Nürnberger Spielzeugschachtel hineingehören. Wir alle, die wir hier stehen, Sie, Herr Geheimrat und ich unausgeschlossen, haben wir alle nicht in den Büchern unsres Vaters, oder wo immer, Verbotenes gelesen? … Dann schaffen Sie doch zuerst die Bibel aus den Augen der Kinder, oder lassen Sie wenigstens die zahlreichen menschlichen Stellen aus dem heiligen Buch entfernen …«
»Wohin sind wir gekommen,« fuhr der Graf lebhaft fort. »Ich habe meine Mütze in die Luft vor Freude geworfen, als ich vor einem Jahr Karl Bleibtreus: ›Revolution der Litteratur‹ las. Das war eine That, wie sie seit Huttens und Luthers Zeiten nicht geschehen ist; Verzeihung, wenn ich übertreibe, aber …«
»Erlauben Sie mir, Herr Graf, wenn ich dagegen spreche,« fiel der Gymnasialdirektor ein. »Ein solches aberwitziges Buch wie Bleibtreus ›Revolution der Litteratur‹ ist mir bisher nicht vorgekommen. Männer wie Heyse und Storm wagt er zu beurteilen. Unsere größten Dichter: Wilhelm Jensen, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer erwähnt er kaum oder gar nicht …«
»Ich gebe Ihnen völlig Recht, Herr Geheimrat, und würde, wenn wir näher eingingen auf die erwähnte Broschüre, vielleicht in manchem mit Ihnen übereinstimmen – aber lassen Sie mir eins! Und das ist meine jauchzende Freude über Karl Bleibtreus Mut. Mut hat immer etwas Köstliches. Ob ich sehe, wie einer den wild eingefangnen Mustanghengst besteigt, um ihn zu zähmen, oder ob Karl Bleibtreu, mit offnem Visier, mit eingelegter Lanze, mit stürmischem Hurra sich in den jammerhaften Schund stürzt, den wir Deutsche schöngeistige Litteratur nennen. Und mußte er nicht wissen, daß ihm tausend, viel tausend Giftbecher gemengt wurden, als seine Broschüre in die Welt ging? … Nein, nein, Herr Geheimrat, 100 000 Cheers für Karl Bleibtreu, für Karl den Kühnen! … Immerhin, jeder hat seine Ansichten. Und Bleibtreu wird der letzte sein, der nicht die Meinung andrer gelten ließe. Aber das ist es, und ich wiederhole es, daß er sein Schwert geschwungen hat gegen alle die Perückenhäupter … Wohin immer mehr drängte sich unsre schöngeistige Litteratur. Schließlich hätte jedes geschriebne Buch den Regierungen abgeliefert werden müssen, und hier der Provinzialschulrat sein endgültiges Urteil gegeben – vielleicht im Sinne, daß er sich die ganze Welt als ein Seminar gedacht hätte. Dann wäre nur das in unsre Hände gekommen, was ein Seminarist lesen darf …«
»Haben Sie übrigens, meine Herren,« wandte sich der Graf an den ihn umstehenden Kreis, »haben Sie Wilhelm Jensens herrlichen Roman: ›In der Fremde‹ gelesen? Niemals noch ist uns Deutschen in so, soll ich sagen: erschütternder Weise gezeigt, wie viehisch oberflächlich unsre Bildung in der höheren Gesellschaft ist. Nebenbei gesagt ist die niederträchtige Gemeinheit und Herzensroheit der kleinen Städte vollendet gegeben …«
Als wenn die eben erwähnte Schilderung aus Jensens Roman ›In der Fremde‹ ins wirkliche Leben getreten wäre, so unterhielten sich in einer Fensternische die alte Gräfin Nachtthau und die nicht ganz so alte Freifrau von Morgenschnee.
»Denken Sie, liebe Gräfin, was mir gestern begegnen muß. Ich gehe bei der Mehlingschen Buchhandlung vorbei und sehe im Ladenfenster: ›Der zerbrochene Krug‹, Lustspiel von Heinrich von Kleist. Ich gehe in die Handlung, um es meiner Tochter zu kaufen. Heute Morgen durchblättre ich das Drama, und finde … ja finde Abscheulichkeiten und Unanständigkeiten darin, daß ich das Buch schleunig verschloß.«
»Ach, selbst der Adel also, liebe Baronin! Ist dieser Kleist aus dem Garziner Hause oder von der Schwißbusser Linie?«
»Ich kann es nicht sagen, wo dieser junge Dichter geboren ist. Ja, selbst der Adel, das mögen Sie wohl sagen … Natürlich glaubte ich, daß es ein so harmloses Lustspiel sei, wie wir sie täglich auf unsern Bühnen sehen.«
»Es wird Zeit,« antwortete die Gräfin, »daß wir endlich in die Zucht wieder hineinkommen … Aber wäre der junge Dichter nicht noch zu retten? Ich muß erfahren, wo er wohnt. Vielleicht hat die Familie noch auf ihn Einfluß. O, in welche Zustände sind wir geraten. Gott helfe, Gott helfe …« –
Wagen auf Wagen fuhr vor die Rampe, lud ein, und zog in die Nacht zum Eisenbahnhaltepunkt, zu den Gütern und kleinen Städten der Nachbarschaft.
Auf der Treppe sagte der Graf dem Landrichter Marcussen, daß ihm Detlev Hummelsbüttel stets an »den Dämon« von Lermontow erinnere. »Haben Sie ihn gelesen, Herr Landrichter?«
»Berndorf? Berndorf?« antwortete dieser. »Ich hatte noch gestern ein Schreiben von ihm. Sie sprechen doch von unserm Rechtsanwalt Berndorf in Kiel? Ich wußte nicht, daß der Bücher schreibt.«
»Nein, ich meinte Lermontow.«
»Kenne ich nicht, Herr Graf, kenne ich nicht.«
Nun fährt der letzte Wagen vor, und der dicke, dumme Baron Schwynkuhlen, sehr betrunken, wird hineingehoben. Er lallt von den bevorstehenden Wahlen … seine letzten Worte sind: »Na … aber der kleine Justizrat … wird der aber morgen … einen Brummschädel … haben.«
Wagenschlag zu. Ab … und bald ist Totenstille in Hof und Schloß.
Nur Heilwig saß noch auf in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte einen langen weißseidnen Schlafrock angethan. Die Zofe war entlassen. Sie saß und grübelte. Leicht schrak sie empor, als plötzlich Breide vor ihr stand.
»Ich habe richtig vermutet, Heilwig, daß Du noch nicht zur Ruhe gegangen. Weißt Du, daß es zwischen drei und vier Uhr ist? Die Vögel recken schon die Federn, die Beinchen, die Köpfchen und überall schon klingt und zirpt und flötet und gluckst und schluchzt es … Darf ich die Fensterläden öffnen? Ist es Dir genehm? Wir haben den denkbar schönsten Frühlingsmorgen …«
Die Baronin nickte leicht, und der Rittmeister ließ die klare, frische Luft herein. Die Lampe erlosch.
Nun sprachen die Ehegatten über die Gesellschaft. Und alles das wurde in Kürze gegenseitig erzählt, was an den Gästen, an kleinen Ereignissen während des Abends aufgefallen war und sich ereignet hatte. Beide spürten keine Müdigkeit.
»Was hältst Du von Detlev, Heilwig?«
»Ich war erstaunt,« erwiderte Frau von Hummelsbüttel, »ihn plötzlich als Sänger zu entdecken. Jedem andern hätt ich das eher zugetraut. Er hat ja eine wundervolle Stimme. Wie ist es möglich, daß sich die bei allen seinen Abenteuern erhalten haben kann?«
»Störte Dich nicht seine Narbe beim Singen?«
»Keineswegs. Wir brauchen ihn ja auch nicht am Flügel anzusehn.«
»Aber ich sah Dich doch vom Garten, wo ich einige Minuten Luft schöpfte, recht sehr in fein Gesicht vertiefen.«
Heilwig lachte. Es war ein reizendes silberhellklingendes Lachen. Zwei Reihen kleiner, dicht an dicht stehender wagrechter Zähne wurden sichtbar. Der vierte in der obern Reihe, links, war ein ganz klein wenig abgestoßen.
Auch Breide lachte. Dann aber, ernst werdend, sprach er seiner Frau die Abneigung, die fast unerklärliche Abneigung aus, die er von jeher gegen Detlev empfunden habe. »Er ist mir als ein altes Weib immer erschienen. Ich kann mir nicht helfen. Und doch, wenn Du Dir seinen dunkelbraunen Vollbart auf die Brust verlängert denkst, und diesen in fünf, sechs kleinen Flechten, so hast Du kein altes Weib, sondern einen altassyrischen König vor Dir … Ich mag ihn nicht; ich hasse ihn. Und auch er, glaub ich, ist mir nicht ganz gewogen.«
»Das versteh ich nicht,« erwiderte scherzend die Baronin. »Zum mindesten find ich ihn interessant.«
»Ich störe Dich, Heilwig, und wir wollen uns zur Ruhe begeben. Ich war eigentlich gekommen, um Dir … um Dir etwas … zu erzählen … Dich um etwas zu bitten. Aber nun hab ich alle Stimmung verloren. Gute Nacht, mein süßes, liebes Weib. Wir wollen so wie Liebesleute von nun an leben, wie in unsrer ersten Zeit. Du bist es doch, nur Du allein. Morgen also sag ich Dir mein … kleines … Geheimnis.«
»Nein, nein, jetzt, Breide, jetzt. Du bist so aufmerksam, so gut heut Morgen. Ich habe alle Müdigkeit verloren. Sprich Dich aus, ich bitte Dich; Du ahnst es nicht, wie froh mein Herz klopft. Laß kein Geheimnis zwischen uns sein, nicht das schwerste, nicht das kleinste. O, alles, alles wird ja gut.«
Die Morgensonne küßte das dunkle Haar der Baronin. Ein Hänfling sandte seine süßen Lieder aus dem Garten. Heiliger Friede allüberall.
Und wie ein Sünder, ein tief bereuender, kniete Breide vor seiner Frau und sah zu ihr empor. Ihre Hände glitten sanft über seine Stirn.
»Öffne mir Dein Herz, Breide – und vergeben hab ich Dir schon jetzt.«
Und als sie ihm tief in die braunen halb im Schlaf, halb im Leben stehenden Augen sah, fiel es ihr auf, daß sie ihn niemals so gesehen: In seinen Augen, das entdeckte sie nun plötzlich, lag eine Welt, die sie bisher nicht gekannt hatte. Das ganze Gemüt ihres Mannes wurde ihr mit einemmal klar. Er war anders geartet wie seine Umgebung. Das sah sie nun erst. Aber der ab und zu auftretende Zug bei ihm zur Roheit. Da fiel ihr seine Ältermutter, die Leibeigne, ein … Vererbung … Geistige und körperliche … Plötzlich zeigt sie sich wieder, vielleicht hat sie zwanzig, dreißig Geschlechtsfolgen übersprungen …
Und Heilwig sah ihrem Manne in die Augen und sie beschloß, sich alle Mühe zu geben, ihn zu verstehen, ihn an sich heranzuziehen: dann mußte sich alles noch zum Guten wenden.
Breide hatte die Stirn auf ihre Kniee gelegt. Die Baronin lehnte das Haupt zurück. Des Rittmeisters Stimme klang wie ein gleichmäßiger ruhiger Tropfenfall, wie das leise Rauschen eines schwachen Brünnleins in einsamer Grotte. Wie dem Seelsorger in der Ohrenbeichte, so sprach er zu Hellwig.
»In den ersten Jahren unsrer Ehe wurde ich über die Maßen erschreckt durch Deine Heftigkeitsanfälle. Sie verwirrten mir fast die Sinne. Du weißt, daß ich auf Tage, auf Wochen floh. Ich war dann gewöhnlich in Berlin bei Freunden. Hier« – das gleichmäßig rauschende Brunnengeplätscher hörte einige Sekunden auf – »hier machte ich die Bekanntschaft eines jungen Mädchens, das mir durch sein hingebendes, sanftes, stilles Wesen … wohlthat gegenüber Deinen furchtbaren Wutausbrüchen …«
Das Brünnlein verstummte.
»Rede weiter, Breide, rede weiter,« klang die Stimme Heilwigs wie aus einem Gewölbe.
Und durch die Erzählung Breides klang das süße Kindergeplauder des Hänflings.
»Dieses stille, sanfte Mädchen,« fuhr der Baron fort, »legte mir ein Söhnchen in die Arme …«
»Wann,« sprach eine rauhe Stimme ruhig, die Stimme Heilwigs.
»Vor fünf Jahren.«
Und in fliegender Hast, den Kopf vorgebeugt, die Augen weit auf Breide geöffnet, dessen Stirn noch immer auf ihren Knieen lag, fragte sie: »Im selben Jahr, als unser kleiner Kai geboren wurde?« »Ja, Heilwig.«
Und sie sank wieder zurück, und es war wie zuvor. Kalt, langsam, ruhig bat sie:
»Erzähle weiter, Breide, rede weiter.«
»Die Mutter starb bei der Geburt des Knaben.«
»Und Dein Sohn?«
»Lebt … Nimm ihn auf; wir haben keine Kinder; laß ihn auch Dein Sohn sein …«
Es war einen Augenblick so still …
Als endlich Breide zu seiner Frau emporschaute, erkannte er ihr Gesicht nicht mehr. Als wär es mit dickem weißen Puder, mit einem zarten Mehlteig überzogen. Die Augen lagen völlig geschlossen.
Der Rittmeister sprang in die Höhe. Kannte er … wußte er, was kommen würde? …
Dann drang ein einziger gellender Schrei aus dem Zimmer in den Garten hinaus, daß die Vögel innehielten …
Und vor Breide, am Fußboden ausgestreckt, lag sein zuckendes Weib. Sie redete irre; auf den weißen Lippen stand Schaum.
Breide wußte, wie ungefährlich dieser Zustand war; aber er erregte jedes Mal sein äußerstes Grauen und Entsetzen. Ihr ein Kissen unters Haupt schiebend, riß er an der Klingel und übergab der bald darauf eintretenden alten Dora, der langjährigen Schaffnerin im Schlosse, die Kranke. … Diese kannte die Mittel zur Erholung und wußte die Baronin in liebevollster Sorgfalt zu behandeln.
Breide aber stürzte auf sein Zimmer, und sich anklagend, daß er wieder rauh und roh mit der Sprache herausgekommen sei, daß er die Baronin auf den Tod gekränkt habe, daß er niemals wisse, in das Frauenherz zu schauen, warf er sich in einen Stuhl, und schluchzte: »Mein Weib, mein Weib«.