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Siebentes Kapitel

Ein Augustgewitter war rasch vorübergerauscht. Von Zweig und Blatt aus die niedriger stehenden Zweige und Blätter tropfte es nach. Die Frösche kamen heraus und freuten sich der Nässe. Im Süden wetterleuchtete es, sonst war der Abendhimmel hell. Die Dämmerung schleierte schon aus der Gegend, und die Sterne traten nach und nach wie Blitzkügelchen aus dem dunklen Himmel hervor. Aus Bredenfleth war die Abendandacht beendet. Lesage hatte dem Grafen die große goldgeschnittne Bibel ins Arbeitszimmer nachgetragen. Dieser stand am geöffneten Fenster und starrte wieder in das Sternbild der Kassiopeia. Hennings Züge waren noch trockner geworden, seine Lippenwinkel hingen noch säuerlicher. Immer mehr, immer eifriger hatte er sein Leben dem Herrn gewidmet. Über allen Thüren in Schloß und Scheunen standen nun Bibelsprüche. In seinen Rock- und Hosentaschen trug er kleine Schächtelchen, aus denen er unzählige Male am Tage aufs geratewohl gedruckte Bibelsprüche herauszog. In seinem Schlafgemach hatte er sich einen harten Betstuhl errichten lassen.

Graf Henning starrte in das Sternbild der Kassiopeia. Nichts Wildes, Menschliches lag mehr in seinem Gesicht wie an jenem Abend, als er schmerzlich: Heilwig, Heilwig gerufen hatte. Sein eifriges Gebet zu Gott war ihm Beistand gewesen, daß er auch diesen letzten Wunsch überwunden. Nur von einem wich er nicht: Er würde Wittensee kaufen und die dann noch stehende ungeheure Restsumme der Schulden Breides bezahlen, wenn dieser und Heilwig ihm das schriftliche Versprechen gäben, auf immer die Provinz zu meiden. Dann, so dachte er sichs aus, sehe ich Heilwig nicht mehr, und meine Wunde wird die Zeit heilen. Auch den unsinnigen Gedanken, den uralten Prozeß zu erneuern, hatte er endlich fallen lassen, umsomehr als ihm Breide sagen ließ, daß es doch dann in Frage kommen könne, ob nicht ihm der Grafentitel zugesprochen werden möchte.

Unaufhörlich zwar lag ihm sein Bruder Detlev in den Ohren. Dieser zeigte von Tag zu Tag einen wachsenden Haß gegen Breide, den Henning nicht verstehen konnte. Er kannte die Ursache nicht. Halb erfreut, daß er eine so kräftige Stütze in seinem Bruder gefunden habe, war ihm andrerseits dessen Einmischung unlieb. Im übrigen Benehmen Detlevs war er mit ihm zufrieden. Sein Bruder, der ihn erst so hart und böse verspottet hatte, schien völlig zahm geworden zu sein. In Betreff des Benehmens Pastor Trösters hatte sich Henning bescheiden müssen. Seine Zuschriften an die höchste Kirchenbehörde der Provinz und an die königliche Regierung waren höflich, aber entschieden ablehnend beantwortet worden. Nach wie vor saß der Graf Sonntag auf Sonntag in seinem Kirchenstuhl.

Am andern Mittag kam ein Wagen vor Schloß Bredenfleth vorgefahren, und diesem entstieg die Fürstin Trauttenberg. Es war das erste Mal, daß sie seit ihrer letzten Ankunft in Holstein Henning selbst aufsuchte. Sie hatte Vorschläge Breides zu überbringen: Breide willige mit Freuden darin, das Henning Wittensee kaufe und daß er die Restsumme seiner Schulden bezahle. Er selbst verspräche dann, auf Verlangen schriftlich, die Provinz auf immer zu verlassen. Nur mache er die Bedingung, daß Heilwig so lange Wittensee bewohnen dürfe, bis er sich eine Stellung errungen und seine Frau dann nachkommen lassen könne. Henning wies mit einer Schroffheit den Vorschlag Breides zurück, daß Wulfhilde entsetzt schwieg. Hier mußten andre, tiefere, geheimnisvollere Gründe walten, als sie sich vorstellen konnte. Das Gesicht des Grafen hatte sich verändert, und er vergaß beinahe die Achtung und Höflichkeit, die er der vor ihm stehenden Dame schuldig war, als er sein hastiges, lautes Nein sprach.

Unverrichteter Sache kehrte die Fürstin nach Wittensee zurück, wo sie mit Spannung erwartet war. Zwar hatte es ganz und gar nicht im Sinne Heilwigs gelegen, allein auf wer weiß wie lange Zeit in Wittensee zurückbleiben zu müssen, aber sie hatte dem Drängen ihres Mannes und ihrer Schwägerin endlich nachgegeben. Wulfhilde war es gelungen, die heftigen Einwendungen ihres Bruders, daß Henning dessen Schulden bezahle, zu überwinden. Ihren Vernunftgründen, ihren klaren Auseinandersetzungen konnte er niemals widerstehen.

Aber nun war mit einem Schlage wieder alles beim Alten. Warum denn aber konnte Heilwig nicht mit ihrem Manne gleich in die Welt hinausziehen? Und hätte sie nicht andre Zufluchtstätten gehabt, wo sie warten konnte, bis Breide sie abgeholt? Hatte sie nicht Verwandte und Freundinnen? Breiteten sich nicht die Arme der Familie ihrer Schwägerin Trauttenberg weit ihr entgegen? Was sollte sie trübselig auf ihrem einstigen Besitze allein zurückbleiben? Das alles wurde noch einmal erwogen. Und in der That konnten die frühern Gründe nicht Stich halten. Heilwig sollte nun nach Verkauf von Wittensee mit Breide in die weite Welt wandern. Und schluchzend fiel die Baronin ihrem Manne um den Hals: »Da, wo Du bleibst, bin ich auch.«

Und wieder hielt am nächsten Mittag das Gefährt der Fürstin vorm Schlosse Bredenfleth. Graf Henning ging ihr artig entgegen. Als sie ihm den endgiltigen Entschluß ihres Bruders und ihrer Schwägerin mitteilte, daß beide zugleich, und für immer, wenn es sein müßte, Wittensee und Schleswig-Holstein verlassen wollten, hörte sie zu ihrem maßlosen Erstaunen, daß Henning über Nacht seine Entschließungen durchaus geändert hatte. Er sagte ihr trocken, daß er sich seit gestern die Sache noch einmal überlegt habe. Wohl wolle er Wittensee zum höchsten Preise kaufen, für den Restbetrag der Schulden aber, der noch dann über 300,000 Mark betragen möge, könne er Bezahlung nicht mehr gewährleisten. Er habe nicht das Geld, um es zum Fenster hinaus zu werfen. Möge Breide sehen, wie er sich mit seinen Gläubigern auseinandersetzen würde. Er könne auf weiteres nicht eingehen.

Das war ein Schlag, auf den die Fürstin nicht vorbereitet war. Sie hatte Mühe, ihre Fassung zu behalten. Was denn konnte ihren Vetter Henning bestimmt haben, lang ausgesprochne und wie mit eisernen Klammern festgehaltne Gründe und Wünsche so mit einemmal wie ein verbrauchtes Spielzeug fallen zu lassen.

»Möchtest Du mir sagen, Henning, was Dich bewogen hat, so plötzlich Deine Ansichten umzukehren. Ich bin fassungslos. Vielleicht, wenn ich Deine Erwägungen höre, kann ich Dir antworten. Deine heutige schroffe Absage zerstört ja mit einem Schlage die ganze Zukunft meines Bruders.«

»An meinem Betstuhl, diese Nacht, liebe Wulfhilde, bin ich erleuchtet worden. Gott selbst, der Herr, hat sich mir gezeigt in Gestalt eines Engels. Und ich fragte den Engel, als er neben mir stand: Was ist dein Begehr? Der Engel aber hob wie drohend die rechte Hand und gebot mir mit ernster Stimme, die Schulden meines Vetters Breide nicht zu bezahlen … Als ich aufsah, denn ich hatte mich bei der Stimme des Herrn tief geneigt, war der Engel verschwunden …«

Wulfhilde starrte Henning an, der mit dem Lächeln eines über alles Erhabnen auf sie niederschaute. Die Fürstin, mit ihrem einfachen, tiefen Glauben an Gott, der ihr überweltlich im Herzen thronte, den sie als eine auf die Erde steigende Wundererscheinung nicht zu fassen vermochte, konnte sich, trotz des Ernstes der Lage, eines Lächelns nicht enthalten, das aber nicht ihre Lippen umspielte, sondern ihr übers Herz glitt.

»Dann hätte ich weiter hier nichts zu beschaffen, Henning.« Aber schon während sie dies ihrem Vetter sagte, wogten andre Pläne ihr durch die Stirn. Sie dachte an den alten Kramer, an Detlev.

Der Regen schlug an die Fenster ihres Wagens und bildete immer neue Rinnen auf dem beschlagnen Glase. Ab und zu fuhr ein Windstoß um die Chaise, wehte die Schweife der Pferde nach einer Seite, und zwang den Kutscher, den Kopf schief zu halten.

Die Fürstin saß, in ihren langen weiten Mantel gehüllt, vorgebeugt im Rücksitz und ließ ihre Augen mit den lustigen Bächlein am Fenster immer wieder von neuem herunterlaufen. Ihre Gedanken weilten bei ihrem Bruder. Wie zärtlich sie sich seit ihrer ersten Erinnerung geliebt hatten. Ihren Einfluß auf Breide hatte sie oft geltend machen können. Er folgte ihren Ratschlägen. Nur im wichtigsten Punkt des menschlichen Lebens, in der Geldfrage, hatte fies nicht erreichen können, auf ihn einzuwirken. Wie verschieden sie darin dachten. Die Fürstin mit ihrem edlen Sinn für Beglückung andrer, für Wohlthätigkeit, für Gutesthun jeder Art, handelte es sich um rasche Geldhilfe, hatte niemals doch die Schranken überschritten, die ihrer Börse Halt geboten. Wie anders Breide: Mit demselben edlen Sinn, jedem ohne Unterschied zu geben, zu borgen, wenn ihm Not und Elend geklagt wurden oder ihm auf Umwegen zu Ohren kamen, hatte er sich nie gefragt, ob sein Geldbeutel ausreiche, hatte er sich niemals zugerufen: bis hierher und nicht weiter. Wie vielen hatte er geholfen, die es nicht wert gewesen waren. Ein förmliches Raubsystem, gewissermaßen eine geheime Erpressungsgesellschaft hatte ihn ausgebeutet. Bei seinen großen Einkünften, bei seiner ihm angebornen Kunst, wie der reichste Mann der Welt aufzutreten, hatten sich ihm, wenn er Geld brauchte, oft ungeheure Summen angehäuft, Bankiers und Wucherer förmlich aufgedrängt. Dadurch waren die ersten Verlegenheiten entstanden, die von Jahr zu Jahr, wie das in der Sache lag, zugenommen hatten. Endlich mußten sich die ersten fühlbaren Verlegenheiten zeigen. Unbequeme Gläubiger drängten; die Gerichte mischten sich ein. Breide sah sich von allen Seiten gestellt. Er wußte nicht mehr wo ein und aus. Die Verwandten seiner Schwester wollten und konnten nicht mehr helfen. Da war ihm die unbegreifliche Hilfe seines Vetters Henning angeboten. Die ihm von diesem gestellten Bedingungen hatte er schroff zurückgewiesen, bis ihn Wulfhilde überredet hatte, sie anzunehmen.

Leichtsinnig wie immer hatte er sich bald in den Gedanken gefunden.

* * *

Breide hatte sich, während die Fürstin nach Bredenfleth gefahren war, den Regenrock übergezogen und war zu Pferde gestiegen. Goldne Zukunftsbilder gaukelten ihm vor der Seele: Wenn sein Gut verkauft, wenn seine Schulden bezahlt seien, wollte er sich in irgend einem andern Lande einen Hof kaufen und mit Heilwig dort ruhig und vernünftig leben. Durch Fleiß, durch Aufmerksamkeit auf sein Gewese würde er leicht imstande sein, bald ein reicher Mann zu werden.

Heilwig saß in ihrem Zimmer und dachte, wie Breide auf seinem Spazierritt, an die Zukunft. Ihr Hochmut und ihre Eitelkeit, diese schlimmsten Fehler ihres sonst so lieben, fraulichen Herzens, hatten schwere Stöße aushalten müssen. Wie würde sie es ertragen können, in einigen Wochen schon im einfachsten Kleide, ohne Bewundrer, ohne sie wegen ihrer Toilette beneidende Frauen leben zu können. Sie mußte es, wollte sie mit ihrem Manne ausharren; und Breide in diesen Tagen zu verlassen, hatte sie nicht die Feigheit.

Seit jenem stürmischen Austritt am Heckthor hatte sie Detlev nicht wiedergesehen. Er hatte sich einige Male auf Wittensee anmelden lassen, aber sie war dann auf ihrem Zimmer geblieben. Wohl zuckte und zitterte es noch in ihrem Herzen, wenn sie an den kühnen Mann mit den finstern Augen dachte. Der hatte seinen Leichtsinn ausgetobt und war fest und sicher im Leben geworden. Breide flog nach wie vor wie eine Feder im Winde, bald hierhin, bald dorthin.

Und während sie an den Unterschied im Charakter der beiden den Prüfstein legte, stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, Detlev vor ihr im Zimmer.

Heilwig wollte vom Sessel aufspringen, wollte ihm flehend die abwehrenden Arme entgegenstrecken, aber es gelang ihr nicht. Sie schien mit tausend Ketten an den Stuhl gebunden.

Detlev aber hatte sich ihr zu Füßen geworfen und ihre Kniee umklammert. Zu ihr emporschauend, flüsterte er leidenschaftlich: »Mein Bruder erzählte mir heute Morgen, daß er nur Wittensee kaufen, die übrigen Schulden Breides aber nicht berichtigen will. Frage nicht nach Gründen jetzt. Das nur muß ich Dir sagen: Ihr seid jetzt ins Elend gestoßen. Verfolgt von euern Gläubigern, werdet ihr keine Ruhe finden auf Erden. O, höre mich jetzt: mein Bruder Henning ist gehirnkrank. In kurzem wird er ins Irrenhaus gebracht werden müssen. Ich bin sein Nachfolger, ich bin der Besitzer von Bredenfleth und Wittensee, ich bin zuerst der Verwalter, dann der Eigentümer seiner unermeßlichen Kapitalien. Sei mein, Heilwig. Tausend Scheidungsgründe hättest Du. Breide liebt Dich nicht … Du bist ihm lästig … Du bist ihm das Hindernis bei seinen Abenteuern …«

Heilwig, die das Haupt, wie durch einen schweren Schlag, zurückgelehnt hatte, hörte dennoch klar jedes Wort. Doch nach den letzten Sätzen Detlevs sprang sie empor, und eine Hoheit umstrahlte sie.

»Und wenn Du mir den Himmel bötest, Detlev, ich kann, ich will Dir nicht folgen. Laß es das letzte Mal sein, daß Du mich – quälst. Ich liebe meinen Mann und verlasse ihn nicht in Not und Tod.«

Und wie eine Königin war sie langsam an Detlev vorüber aus dem Zimmer gegangen.

* * *

Breide ritt durch seine Felder, durch seine Wälder. Daß er diese verlassen müsse, daß sie ihm in wenigen Tagen schon nicht mehr gehören sollten, brachte ihn aus der leichtfertig-fröhlichen Stimmung zu ernsten Gedanken. Mit solchen aber beschäftigte er sich selten oder nie. Immer wieder half ihm sein Humor über alles Widerwärtige rasch hinweg. Heute wollte es ihm nicht gelingen. Ihm, der nie ein Buch aufschlug, der ein Gedicht nicht seit seinen Jugendtagen gelesen hatte, fielen Strophen ein, die er in seinen Knabenjahren gehört haben mußte. Des Verfassers erinnerte er sich nicht. Vielleicht wars von einem Dichter, der nie von seinem Volke gelesen und gekannt, der längst vergessen war. Die Strophen sagten ihm bittere Wahrheit. Er mußte sie im Kopfe behalten haben, wie man Zeit des Lebens eine gereimte Regel nicht vergißt. Vielleicht hatte sie ihn in irgend einer Laune einer seiner Hauslehrer gelehrt. Er sprach sie vor sich hin:

Ach, hätt ichs gelassen,
Ach, hätt ichs gethan,
Nur Wirrwarr und Wirrsal
Auf holprigster Bahn.
Bald hierhin die Blicke,
Bald dorthin die Stirn,
Wie martert und quält sich
Das arme Gehirn.

Breide lachte vor sich hin: das trifft zu bei mir. Ich bin kein Holsteiner mehr, denn mir fällt die zweite Strophe ein. Wir geben den Quark sonst um solchen Wischwasch wie Gedichte.

Und wieder sprach er vor sich hin:

Was hört ich im Garten
Der Nachtigall Sang,
Statt daß in die Faust ich
Den Spaten mir zwang.
Was horcht ich den Elstern,
Den Fröschen im Moor,
Was gab ich den Affen
Mein williges Ohr.

Und immer tiefer, ganz gegen seine Gewohnheit, senkte der leichtsinnige Breide sein Haupt. Wohl zum erstenmal in seinem Leben ließ er seinen Gaul selbst gehen, fühlte er kaum die Zügel mehr in den Händen.

»Selbst verschuldet,« murmelte er, »selbst verschuldet.« Und dann führte er ein langes Selbstgespräch: »Ich nur allein bin an allem schuld. Statt mich nur auf mich zu verlassen, hörte ich die Ratschläge jedes dummen Kerls; ließ ich mich von jedem Affen übertölpeln, der mich hinterdrein im geheimen gewiß noch ausgelacht hat. Immer ohne eigne Meinung bin ich hin- und hergezerrt worden, bald von diesem, bald von jenem. Und während es mir ins tiefste Herz hinein von jeher wohlgethan hat, mein Geld keinem Bittenden zu versagen, sei es meinen Kameraden, sei es einer vor Hunger sterbenden armen Arbeiterfamilie – überlegte ich es mir nie, daß eine weise Einteilung, eine Beschränkung auch bei reichsten Mitteln als erster Grundsatz stehen muß. Wie vielen Unwürdigen habe ich gegeben …«

Seine braunen, halb im Leben, halb im Schlaf stehenden Augen hoben sich. Aller Traum, der bisher, ihm unbewußt, in ihnen sein weichliches Bett gefunden hatte, schien verflogen. Sie blitzten in diesem Augenblick, als führte er seine Schwadron zum Angriff. Seine Hand führte wieder die Zügel. Seine Haltung wurde straff.

Aber noch einmal sanken sie. Zum letzten Traum?

Und wie die Liste Leporellos entrollte sich in seinem Innern ein Namensverzeichnis der Schönen, die er geliebt … Zuweilen lächelte er, zuweilen wurden seine Züge ernst.

Und immer weiter, tief im Traum (im letzten Traum?) ritt Breide. Und wieder fiel ihm eine Strophe jenes Liedes ein:

Der Himmel auf Erden,
Das Weib ist er mir,
Bringt Leid auch und Schmerzen
Das süße Turnier.
Es lebe der Stumpfsinn,
Hoch Austern und Sekt!
Schon lieg ich am Boden
Als Leiche gestreckt.

»Schon lieg ich am Boden als Leiche gestreckt,« wiederholte er wie im Kehrreim. »Und das Leben bietet nichts andres, nichts besseres als das?« Und von seinen Lippen klang es leise: »Heilwig, mein Weib.«

Breide war, ohne recht zu wissen: wie, auf dem Gute Heidrehm angekommen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß Graf Heesten ein solcher Narr sei, der »Reime« lese. Der wisse vielleicht, wer jenes Lied geschrieben habe, das ihm heute so plötzlich in die Seele gesprungen sei.

Nicht war es das in andern Ländern wohl aufrichtig gemeinte Gefühl, den Dichter kennen zu lernen, und ihm, falls er noch nicht unter der Erde, zu danken für sein Lied, wenn es gefallen – dafür war Breide ein Deutscher, und der Deutsche schenkt sich diesen Luxus – wohl aber fühlte er Neugierde. Die Strophen hatten gar zu sehr in seine Stimmung gepaßt.

Graf Heesten war auf ein benachbartes Gut in Geschäften gefahren. Breide, um sich ein wenig auszuruhen, setzte sich in den Schreibtischstuhl des Grafen. Neben sich auf der Mappe fand er einen Kladdebogen über Wildenbruchs neuestes Drama: Der Fürst von Verona. Er nahm ihn in die Hand, und ohne daß er Verständnis hatte – wer war denn Ernst von Wildenbruch – ach so, der schreibt ja »Stücke«, richtig – las er gedankenlos:

»Im Aufbau, in der köstlichen Frische, im Vorwärts, in dem scharf gezeigten Wissen: wie muß sich alles aneinanderreihen, gleicht Wildenbruch Shakespeare. Aber es scheint mir immer, als sehe Wildenbruch, während er seine Dramen dichtet, nach den Wolken hin. In den Wolken aber thront eine hohe Beurteilungsbehörde. Diese Behörde ist folgendermaßen zusammengesetzt: in der Mitte ein Gendarm, ein Landrat, ein Staatsanwalt. Links, etwas erhöht, ein Generalsuperintendent; rechts, etwas erhöht, eine alte deutsche Schwiegermutter oder eine alte Jungfer. Über diesen: ein Bierbrauer, ein Leineweber und ein Fettviehzüchter, das »deutsche Volk« vorstellend. Unten (in der Mitte, zu Füßen des Gendarmen, des Landrats und des Staatsanwalts) irgend eine deutsche Konfirmandin. Zu dieser Versammlung, so scheint es, ich sage, so scheint es mir, sieht Wildenbruch zu viel hinauf: »Um Gotteswillen, sind Sie zufrieden?« Das fragt sich Wildenbruch, so scheint es mir, entschieden zu oft. Ich denke mir, das darf, das soll ein wirklicher Dichter niemals. Der Dichter, wenn ich ihn mir richtig vorstelle, muß frei sein: frei sein zuerst von Brotsorgen (hat er solche, so soll er sich sofort aufhängen), dann aber auch in jeder andern Beziehung. Vor allem darf er nicht durch ein Geschäft, durch ein Amt behindert sein. Der Dichter, ist er ein wirklicher, schreibt einzig und allein nur für sich, nur zu seiner Freude. Das klingt selbstsüchtig im höchsten Grade. Meinetwegen, aber ich bleibe dabei.

Der Titel des Dramas: »Der Fürst von Verona« klingt mir zu nüchtern. Ganz anders klänge: »Mastino und Scaramello« oder (wenn auch etwas dienstmädchenräuberromanerisch) »Blut in Verona« oder »Feuer und Flammen in Verona«.

Die beste »Figur« im Trauerspiel ist Scaramello. Hier hat Wildenbruch nicht auf die hohe Behörde in den Wolken geschaut. Tausend noch mal! ist der Scaramello ein Mensch. Herrlich, voll kochenden, wirbelnden Blutes, leidenschaftlich. Die hohe Wolkengesellschaft hätte die Stirnen gefurcht, kopfgeschüttelt und geschrieen: das ist nicht die bekannte deutsche Wassersuppe! Willst du wohl, willst du wohl!

Sehr fein, äußerst gelungen gemeißelt sind Rizziardo und Adelaide. Mastino ist vortrefflich hingestellt. Selvaggia ist das bekannte deutsche Gretchen mit ein wenig italienischen Feuerzuckerüberguß.

Humor hat Wildenbruch nicht. Das zeigt sich wieder in seinem Klostergärtner: Der ist aus irgend einem kleinen Vorstadttheater geholt. Er lacht: Uhahaha. Schon das »U« in Uhahaha bezeichnet den Clown aus dem Tingeltangel. Shakespeare, Hebbel, Büchner, Heinrich Kleist, Grabbe hätten uns einen wirklichen Gärtner aus dem Volke vorgeführt, und keinen gemachten. Nur hinein ins »Volk« und einen herausgegriffen! Das soll der Dichter. Dann giebts lebensfrische Gärtner. Wenn Herr von Wildenbruch nur Jäger wäre, da hätte er bald einen gefunden. Aber er schmäht die Jagd. Ei, ihn soll das Mäuschen beißen. Jeder Dichter müßte Jäger sein. Shakespeare und Turgeniew waren es!

Selbst Wildenbruch braucht noch das Großväter-»Ihr« statt -»Du« (wenn nicht das moderne Drama »Sie« verlangt); selbst Wildenbruch hat noch zuweilen das alte Tanten- und Dilettanten-»e«. Gradezu scheußlich. Er geh»e«t noch zuweilen statt geht, er tanz»e«t statt tanzt. Möchte dieses »e« endlich im großen Papierkorb unsers Jahrhunderts verschwinden … «

»Das verstehe ich nicht,« sagte sich Breide.

»Und die vielen beschriebnen Zettel, die hier überall umher liegen.« Er nahm den ersten besten.

Breide legte den Zettel schnell wieder auf den Tisch. Es war ihm unbegreiflich, wie ein Mensch sich mit solchem Unsinn befassen konnte. Bald saß er zu Pferde und erreichte Wittensee am späten Nachmittag.

* * *

Die Fürstin, Heilwig und Breide saßen bis spät in die Nacht auf. Wulfhilde hatte Bericht erstattet. Eine Hilfe irgendwoher war nicht zu ersehn. Die Lage wurde von allen Seiten gewendet: immer wieder klang das traurige Schlußwort: es ist zu Ende. Wenn auch Wittensee noch so hoch an Henning verkauft würde, die Restsumme der Schulden blieb ungeheuer. An die Deckung dieser auf irgend eine Art war kaum zu denken. Und so mußten denn Breide und Heilwig hinaus in die weite Welt, verfolgt von den Flüchen ihrer Gläubiger, von denen, die nicht befriedigt werden konnten.

Breide besann sich wohl zum erstenmal, wie ernst die Stunde sei, in der alles jetzt besprochen wurde. Wulfhilde und Heilwig freuten sich über seine Ruhe, seine festen Entschlüsse. Immer mit ihrem klugen Rat bei der Hand war Wulfhilde. Bald tröstete und ermutigte sie, bald zeigte sie inniges Mitgefühl. Sie war der Segen des Hauses in diesen Tagen. Als sie endlich zur Ruhe gegangen waren, fand die Fürstin noch die Muße (oder that sie es, um auf andre Gedanken zu kommen), einen Abschnitt aus: »Land und Leute Schleswig-Holsteins« zu lesen:

Der Tod Johann Ahlefeldts in der Schlacht bei Hemmingstedt. Februar 1500.

... Das wilde, mordsuchende, finstre Nordmeer, der böseste Feind der Dithmarschen, wurde für den 17. Februar 1500 ihr Freund. Aus starkem Südwest sprang am Nachmittag der Wind in Nordwest um. Feiner Staubschnee begleitete ihn. Mit gierigen Köpfen stürzte die See auf die Deiche. »Die Schleusen auf!« und die sonst mit allen Kräften abgewehrte Sturmflut ergoß sich jetzt in die Gräben und über die Fennen (Felder).

Noch immer hielten die dreihundert Bauern den dreißigtausend Feinden hinter der Schanze Tausendteufelswerfte gegenüber. Aus ihren Karthaunen rissen die Stückkugeln häßliche Löcher in die festgerammte schwarze Garde, die ihnen zunächst stand. Da schmolz dem Junker Slenz, ihrem Anführer, das Drahtseil der Geduld; hatte er es doch unerträglich gefunden, wegen der paar Bauern hier Halt machen zu müssen. Auf mühsam gelegten Faschinen kam er zu Pferde von der Landstraße aufs freie Feld. Hinter ihm zogen seine Leute. Diesen Augenblick ersah aber Wulf Isebrand mit dem bis zum Gürtel reichenden gelben Bart, und: »Wohr di Gard, de Buer de kummt!« sprang er mit seinen Dreihundert aus der Schanze. Ihnen voran aber stürmte die keusche Telsche, das schönste Mädchen der Dithmarschen, mit der Seidenfahne, auf der in Gold und Purpur die Mutter des Herrn gestickt war. Der lange Reimer von Wimerstedt schlug mit mächtigem Hieb seine Axt in die Halsberge des Junkers. Diese aber stak so fest, daß Reimer den Häuptling zu Boden riß, ohne die Axt herauszerren zu können. Auf den Junker aber trampelten die großen Bauernfüße und rammten ihn immer fester in den Lehm und Schlick.

Eng gekeilt, nicht vor- nicht rückwärts, sich nicht nach den Seiten, des Wassers wegen, bewegen und ausbiegen könnend, hielt fast die gesamte Ritterschaft auf dem Damme. Ja, so furchtbar saßen sie verschraubt im Gedränge, daß sie nicht die Fäuste zu den Schwertern bringen konnten. In ihrer Mitte hielt der neunzigjährige Marschall und Bannerherr, Herr Johann Ahlefeldt. In seiner Rechten schwang er hin und her, hoch über seinen Helmfedern, den heiligen Dannebrog. Unaufhörlich rief der Alte hinter seinen Augen- und Mundgittern: »Staht fast, Eddellüt, staht fast!«

Und immer mehr wurden die vornehmen Geschlechter Schleswig-Holsteins zusammengequetscht. Vorn floh die Garde ihnen entgegen; hinten, nichts ahnend, schoben der Troß und die Söldner des Königs. Und keine Wahl blieb den Rittern, als zu ersticken oder zu ertrinken. Von den Seiten, über die breiten, schmutzigen Gräben weg, rissen die Bauern mit ihren langen Hellebarden die Hengste von der Straße ins Wasser und erschlugen dann die Herren. Da stürzte sich von den Edelleuten, wer aus dem Knäuel sich lösen konnte, mit gewaltigem Sporenhieb in die Wasser, spattelte sich heraus auf die weiche Marsch und suchte an den Bauer zu kommen. Mit unsäglicher Mühe war es dem greisen Reichspanierträger gelungen. Sein Prunkroß blieb im Graben; er selbst aber, das Schwert in der Rechten, den Dannebrog in der Linken, fraß sich wie ein rasend gewordner Bär ins Bauernfleisch. Neben ihm hieben sich Breida Hummelsbüttel und Kai Thienen herum. Bald aber waren die drei umzingelt und zu Boden geworfen. Breida Hummelsbüttel und Kai Thienen schluckten so heftig das ekelhafte braungelbe Schlammwasser ein, daß sie nach wenigen Minuten schon erstickten. Ihre goldnen Helme klebten im Dreck. Den alten neunzigjährigen Marschall aber wollten sie würgen. Sie rissen ihm das Visir ab. Doch er blitzte sie mit den kühnen Augen, über denen die dicken, dichten schneeweißen Brauenbüschel drohten, so furchtbar an, daß sie wichen. Bald aber entwanden andre ihm das Schwert. Die heilige Fahne aber ließ er nicht. Als er den Tod fühlte, als sein Riesenkörper zum Tod erzitterte durch die fortwährenden Stöße und Schläge, biß er ins Fahnentuch und hielt so bis zum letzten Atemzuge das Banner fest …

Nach der gewonnenen Schlacht legten die Bauern ihre Hunde an die goldnen Ketten der schleswig-holsteinischen Ritter. Den Dannebrog, dem sie den heldenhaften Marschall von den Zähnen schneiden mußten, und die ungeheure Beute an Gold und Edelsteinen stifteten sie der heiligen Jungfrau, die ihnen den großen Sieg verliehn, die ihnen die Freiheit erhalten hatte …

Kaum sich vor Wut zu bändigen wußten die freien Friesen. Sie standen an der Eider, bereit mit Mord und Schlag und köstlicher Plünderungsvorfreude ins Land ihrer Todfeinde, der freien Dithmarschen, einzufallen, wenn die holsteinischen Ritter ihnen den Weg geebnet hätten. Das wußten die Dithmarschen, und sie können es ihnen noch heute nicht verzeihen.


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