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Auf dem Berliner Bahnhof in Hamburg saßen gegen zehn Uhr abends in den letzten Septembertagen ein sehr vornehm aussehender Herr – gewiß ein Gesandter, ein hoher Hofbeamter oder in ausgezeichneter Stellung –, dessen schneeweißes Haar leicht auf die Schulter fiel, und eine gleichfalls sehr vornehme Dame, die um die Hälfte der Jahre jünger als ihr Begleiter sein mußte. Der alte Herr war von zartester, rührender Aufmerksamkeit, so daß ihn die Dame immer von neuem aufmerksam machen mußte, daß sie als Vater und Tochter Witthöft reisten, und nicht als Fürstin Trauttenberg und Herr Kramer.
In Berlin nahmen Vater und Tochter Witthöft im Kaiserhof Zimmer. Am folgenden Morgen besuchte Herr Kramer die Nachoder Straße und erfuhr, daß Nummer 42 a eine bejahrte Witwe Krause wohne. Und am Nachmittag desselben Tages waren die Fürstin und er auf dem Wege nach der Nachoder Straße. Sie fanden in Frau Krause eine äußerst verbindliche, grauhaarige Dame. Als sich diese nach den Wünschen der Angekommnen erkundigte und die Fürstin sich als die Schwester Breides zu erkennen gegeben hatte, wurde der Besuch eingelassen ins Zimmer. Es sah freundlich, reinlich und behaglich aus. Die Witwe entfernte sich, um den kleinen Breide zu holen. Bald erschien sie wieder mit einem etwa fünfjährigen, allerliebsten Knaben an der Hand. Die großen braunen Augen, »halb im Leben, halb im Schlafe stehend« schauten ein wenig neugierig auf die fremde Dame, die ihn dann stürmisch auf die Arme nahm und ihn herzlich küßte. Welche Ähnlichkeit mit meinem Bruder, dachte sie. Als Wulfhilde, und schon in den ersten Minuten, zu der Überzeugung gelangt war, daß hier alles zum besten stehe, zog sie sich mit Frau Krause aufs Sofa zurück, den Kleinen im Schooß behaltend, und besprach das Fernere: daß einstweilen das Kind in der Witwe Obhut bleiben solle. Das Geld werde von nun an bis auf weiteres von Trauttenberg kommen. Gar zu gerne hätte sie sich über des Knaben Mutter erkundigt, aber sie unterließ es. Was auch sollte es, wußte sie doch, daß des Kleinen Mama bei seiner Geburt gestorben sei.
Befriedigt über das, was sie gesehen und gehört hatten, fuhren Wulfhilde und Herr Kramer nach dem Kaiserhof zurück, um sich noch am selben Abend nach Nord und Süd zu trennen. Der treue Kammerdiener konnte im Nachtzuge nicht schlafen. Fortwährend schwebte ihm das Bild seines unglücklichen Herrn vor Augen. Aber auch ein andrer Gedanke wollte nicht weichen. Es war ihm, als wenn ein wiederkehrender Wunsch nicht von ihm weichen wollte: es noch zu erleben, daß der kleine Breide als Erbherr von Bredenfleth und Wittensee eingesetzt würde. Und auch in die Träume der Fürstin spielten ähnliche Zukunftsbilder.