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Viertes Kapitel

Es war am andern Tage die Zeit, daß grade die Dämmrung einsetzen wollte. Auf dem kleinen Eisenbahnhaltepunkt Langstedt ging das tägliche Leben, ohne Unterschied, seinen Weg. Nur daß heute vielleicht auffiel, daß sich zuweilen Gruppen, namentlich von alten Weibern, bildeten, in denen lebhaft hin und her gesprochen wurde. Sonst war der alltägliche Gang: Schweine, Schafe, Rindvieh wurden mit großem Geschrei in die auf Nebengleise geschobnen Wagen hineingepfercht zum Versand. Die Wochenwagen kamen von den benachbarten Landstädtchen. Kofferträger und Fuhrleute gingen mit Frachtbriefen ein und aus in den Expeditionszimmern. An den an den Wänden hängenden Fahrplänen stand hin und wieder ein mit dem Zug Wollender und ging mit dem Finger die Zahlen hinunter, bis er die richtige Stelle gefunden hatte. Klingklang, dann näher: klingklang, dann auf der Station: klingklang, dann entfernter: klingklang. Nun brauste ein Schnellzug durch. Die Coupés erster und zweiter Klasse waren meistens verhangen mit grün- oder rotseidnen Vorhängen in den verschossensten Farben: die Insassen schliefen: sie waren auf der Durchfahrt von London, Paris, Wien, Berlin nach Kopenhagen und Stockholm. Und wieder klingklang; der Abläuter ging an die Glocke und gab durch dreimaliges Anschlägen das Zeichen, daß der fällige Sieben-Uhr-drei-Minutenzug nach Süden herannahe. An die Schienen brachten die Kofferträger Gepäck. Aus dem Postgebäudelchen wurde der gelbe Karren herausgefahren durch den Packetbesorger. Der Stationsvorsteher mit der roten Mütze erschien. Ein Handlungsreisender, der die umliegenden Ortschaften besucht hatte, ging wartend auf und ab. Er freute sich augenscheinlich, daß er noch heute Abend in Hamburg ein Stündchen ins Tingeltangel gehen konnte, um die unvergleichlichen Leistungen am Trapez und die Fahrt am Drahtseil zu bewundern, die, an den Zähnen hängend, die dicke Miß Wanda mit anscheinend spielender Leichtigkeit ausführen würde; dann dachte er noch einen Besuch bei Emma Thiele-Bürgershausen und ihren Sängerinnen zu machen. Ein unendlich alter Jagdhund, der dem Gütermeister gehörte, wackelte vornehm überall herum, wie er es nun schon seit so vielen, vielen Jahren gethan. Die einzelnen braunen Flecken seines Felles waren aber gänzlich weiß punktiert durch seine Methusalemität. Seine Ruthe hatte er vor langer Zeit einmal durch das Darüberwegfahren eines Zuges eingebüßt. Seit jener Stunde ging er nie mehr über die Schienen. Ja, dieser gute Köter hielt sich für den Herrn des Eisenbahnhaltepunktes Langstedt. Mürrisch, mit zuweilen etwas verzogner Schnauze ging er in einer Art von Paßgang durch Vieh und Menschen. Andre Hunde beachtete er nicht mehr: sie waren ihm unter seiner Würde.

An einem Geländer des Viehhofes lag ein gänzlich betrunkner Chausseesteinklopfer. Die Kniee hatte er emporgezogen. Das edle Haupt des Greises ruhte in schiefster Haltung mit offnem Munde auf seinem Handwerkszeug … Und so weiter, und so weiter, wies eben auf den Anhaltepunkten täglich und stündlich zu beobachten ist.

Neben der Bahnhofsrestauration lag das Wirtshaus »Zur bunten Kuh«. Die Schenkstube war stets gefüllt. Vadder und Mudder Hansen besorgten in jeder Weise ihre Gäste zufriedenstellend.

In dieser Kneipe hatte in derselben Stunde Mutter Hansen einen Kreis der Gäste um sich bilden lassen. Das gewöhnliche Gespräch von Schap, Swin und Koh war ausnahmsweise verstummt. Selbst die Skatspieler hatten die Karten niedergelegt, was bei diesem »teutschen« Spiel viel sagen will. Nur das hübsche, etwas launige, »mit das Schnäuzchen ein bisken vorweggige« Schenkmamsellchen Anna hantierte in der Stube umher, wischte die Tischplatten ab, rieb unten die Grog- und Biergläser, und guckte häufiger, als es ihr sonst die Zeit erlaubte, aus dem Fenster nach einer Gegend, wo sich eine Mühle schleswig-holsteinisch-schlafmützig drehte. »Mein Liebster ist im Dorf der – Müller« summte sie vor sich hin. Sie hatte ja selbst alles heute Mittag miterlebt, und gesehen, was jetzt Mutter Hansen zum so und so vielten Male vortrug. Mutter Hansen aber erzählte:

»Ick stunn gerad in de Husdör. Hinnerk käm vorbi, und ick segg em, he schull de Dirns tom Eten ropen. Wat wär dat förn fein Werr (Wetter). Ick säch (sah) na de Rinn längs dat Schündach, da wärn lütte Kattens (Kätzchen) in und spelen dor, und ick segg (sagte) … un de lütten Spreen (Staare) makn Spicktakel, und kunn ni unner de Dachtegel ein för de Kattens. Ick segg … na nu kiek ick man abers de Weg lang. Wats dat, segg ick. Ist 'n Fruensminsch? Ick segg, dor kummt en her, upt Huus to. Mein Gott, ick dach, Du bist doch nich dhun. Ick flög man so an alle Glieder … de Baronin ut Wittensee stunn mi gegenöver. Wo säh sie ut. Na, ick segg, dat help allens nix, se is krank. Ick segg to ehr: Fru Baronin, kummen Se man blots herin in min Stuv. Un ganz willi lat se sich rinföhrn. Dor säh ick ehr erst an: wo säh se duch ut. Se harr keen Hot up, harr keen Mantel an. Ick dach mi glick, wat harrn wull de Minschen dacht, de ehr begegnet wärn … Und se wär so sachen (still), und segg gar nix, un fall mi um de Nack. Ick leg ehr up min Bett, un wull gahn, um na Wittensee und na Doktor Köster to schicken. Abers se wull mi ni gahn laten. Na, nu kam de ol Trien ock an, und ick segg: Bliv man'n Ogenbleck hir. Ick kam ficks wedder. As ick nu, ick segg, as ick nu Hinnerk ropen wull, Hinrich Clas kam gerad vun de Möhl, ick segg, as ick Hinnerk ropen wull, kek ick ut de Dör, da sus't een an upn blanken Perd. Un dat wär Baron Breide. Na nu, segg ick, fallt de Himmel in. Wats dor los. Un dor stunn ock all de Baron vör mi, un nu käm dat man all asn Watermöhl herut: ›Haben Sie meine Frau gesehn? Die Leute sagen  … sie ist hier längs gegangen …‹ Ja, segg ick, Herr Baron, de Fru Baronin is bi mi. Se is krank, abers hem Se man keen Angst. Dat treckt sick Allns wedder torecht … Na, nu föhr ick em in de Stuv, un wull rut gahn … ick seh man, dat se em mit de Han (Hand) afwunk; se wull em nich spreken. Un he leg up de Knee vor ehr, un ween, und segg man blots: Min Heilwig, min Heilwig … Un as ick rut wär, un de nischirigen Dirns an de Arbeit jag, da hör ick man blots noch, dat he ween. Und ick dach, wa kann dat angahn, wat is dor eenmal los ween (gewesen). Un de Lüd stunn all tohopen vör de Döhr un in de Gaststuv … Da käm de Tog an vun Alt'na … Ick kek dor man ganz in Gedanken hin, de Schrecken wär mi so upt Hart fulln … Da steg 'n Dam ut Coupé, gev ehr Saken af … Min Gott, segg ick, dats ja de Fru Fürstin Trauttenberg, dats ja uns' Wulfhilde, Baron Breide sin Swester … Un ick har Allens vergeten – wo harr ick doch de Kraft her – und flög man so up ehr los, und segg ehr: Nu ward jo Allns god, Allns god. De Fru Fürstin frög noch, wat ick seggen wull. Un ick vertell ehr dat, wat ick sehn hev. Da wär se'n Ogenbleck ganz still, – und so as se ümmer is –, lat se sick vun mi hinföhrn … Und wat wär bat förn Freid, as de Baron ehr säh: Es giebt einen Gott, röp he ut, sonst stündest Du nicht bei mir in diesem Augenblick. De Fru Fürstin wär nu, as se ümmer is, ganz ruhi; se segg kumn Wort; hol de Baronin an de Hann, kick ehr sachen in den Ogen … Na, ick much ni mehr in de Stuv ween … In uns' grote Chaise sünd se denn ock wedder na Wittensee torüch föhrn … De Baron, as se afföhrn wulln, he drog de Baronin sülben in'n Wagen, wär noch gau (schnell) mal in de Schenkstuv, und drink sik'n Seidel Beer, un seggt to alle Lüd: ›Ach, seggt he, min Fru is so krank; wat hev ick mi verfährt (erschrocken); abers dat treckt sich Allens wedder trecht.‹ ›Wolltest Du nicht einsteigen, lieber Breide?‹ röp dor de Fru Fürstin.«

* * *

Zur selben Stunde ging in seinem Arbeitszimmer auf Bredenfleth Henning, schneller als er es gewohnt war, hin und her. Er schien tief empört zu sein. Zuweilen schlug er die Bibel auf und las minutenlang in ihr. Lesage trat ein und meldete: »Herr Pastor Tröster.« »Ich bitte.« Und gleich darauf trat der sanfte, ernst blickende kleine Prediger durch die Thür.

Henning empfing ihn beinahe unterwürfig: »Ich habe Sie bitten lassen, Herr Pastor, in einer Angelegenheit, die mich seit heute Mittag unausgesetzt beschäftigt. Sie sollen mir raten und helfen, mein Beistand sein, womöglich selbst eingreifen. Sie wissen, um was es sich handelt?«

»Ich vermute, Herr Graf …«

»Ja, um den Skandal handelt es sich, der durch das unwürdige Benehmen meines Vetters Breide verursacht ist … Heut Morgen erst höre ich das Abenteuer, um mich sehr, sehr milde auszudrücken, von Schierhagen, und heute Mittag bringt mir der alte Kramer, der zufällig auf der Station war, die Nachricht von dem Unerhörten, das sich in Langstedt zugetragen hat. Ich bitte Sie, die Baronin, barhaupt, mit zerrissenen Kleidern, wie wahnsinnig redend, geht, nein, läuft von Wittensee zur Station. Welch unglaubliche Dinge müssen auf dem Schloß vorgefallen sein. Wenn ich gestern eine Ahnung gehabt hätte … O, es ist unwürdig …« Und heftiger, rascher redend fuhr er fort: »Ich bitte Sie, Herr Pastor, nächsten Sonntag von der Kanzel herab öffentlich, mit Namensnennung, die Schande meines Vetters zu brandmarken. Wittensee gehört zu Ihrem Sprengel.«

»In Familienangelegenheiten kann ich mich nicht eindrängen, Herr Graf, und außerdem würde ich mich nicht herbeilassen, auch wenn mir höhren Ortes der Befehl zuginge, Rügen dieser Art in meiner Kirche während der Predigt auszusprechen.«

»Ich nehme die Schande meiner Familie auf mich … Aber gut, gut … wenn Sie nicht den Mut haben …«

»Den Mut haben, Herr Graf, den Mut haben?«

»Ich denke, Sie, als Mann Gottes, haben keinen Unterschied zu machen zwischen Vornehm und Gering oder Reich und Arm.«

»Das habe ich sicher nicht … Aber in diese Sache mische ich mich nicht; es sei denn, daß ich von Wittensee gerufen werde. Dann will ich freudig das Wort der Liebe meines Herrn und Heilandes verkünden und meinen Gott bitten, daß er mir Kraft geben möge, das Rechte zu finden und zu sagen. So lange aber eine Aufforderung von den Beteiligten nicht an mich gelangt, werde ich jeden Schritt unterlassen, der …«

»Dann werd ich selbst nach Wittensee fahren.«

Am andern Morgen um zehn Uhr stand Henning vor seinem Vetter Breide in Schloß Wittensee.

»... und welcher Grund, wenn ich fragen darf, Henning, führt Dich zu mir … was verschafft mir die Ehre eines so frühen Besuches?«

»Ich kam um Deinetwegen, Breide.«

»Du bist sehr gütig, was denn ist es …«

»Die skandalösen Auftritte hier und in Schierhagen, die gestern und in den letzten Tagen …«

»Ich muß Dich bitten, Henning …«

»... die gestern und in den letzten Tagen gewesen sind …«

»... die jedenfalls doch Dich nichts angehen …!«

»Und wenn sie mich nichts angingen, wenn nicht unsere Familienehre dadurch aufs äußerste verletzt wäre …«

»Ich muß Dich bitten, Henning …«

»... so stehe ich hier im Namen Gottes, der Dir befiehlt, von solchen Schändlichkeiten abzustehn …«

»Bist Du von Sinnen?«

»Im Namen Gottes und unsers Herrn Jesu Christi …«

»Halt nun, Henning. Ich hab genug. Hast Du weiteres mir nicht auszurichten, als die Befehle Gottes, dann bitte ich Dich, es genug sein zu lassen. Ich bin nicht in der Laune, weißt Du, Kindereien …«

»Der Zorn des Herrn wird Dich treffen.«

Und plötzlich, in etwas gemäßigtem Tone, fuhr Henning fort:

»Es ist ja nirgends ein Geheimnis, daß Du stark verschuldet bist, daß Du Wittensee nicht länger halten kannst …«

»Was solls?«

»Ich will es Dir abkaufen.«

»Nimmermehr!« rief Breide stolz.

»Ich will auch Deine Schulden bezahlen, wenn Du mir versprichst, außer Landes …«

»Eher an den Schandpfahl, als einen Pfennig je von Dir. Hast Du nicht genug an Deiner Grafenkrone, die mir gehört? an Deinem Fideikommiß, das mir zusteht? auf Bredenfleth, auf dem ich Erbherr bin?«

»Sohn einer Leibeignen!« rief höhnisch, überlaut Henning, und von allen Wänden klang das Echo.

Wie von furchtbarem Schwindel ergriffen, tastete Breide mit den Armen in der Luft. Dann schwankte er und fiel, die Hände vors Gesicht schlagend, in einem Stuhl zusammen …

Henning aber war an die Thür zurückgetreten und sagte in kaltem, hartem, nicht lautem Ton:

»Das Schandblut einer Leibeignen tobt in Dir und zwang Dich zu dem Leben, das Du führtest von jeher, daß Du abwichst von adlicher Zucht und Ehre. Die einzige Eigenschaft, die ich an Dir schätze, Deine große Wahrheitsliebe, die ich mit Dir gemeinsam habe, sie wird mir recht geben, wenn ich Dir sage, daß ich von dieser Stunde an kein Mittel und keine Wege scheuen werde, um durch neu angestrengten Prozeß, und wäre es länger her als tausend Jahre, Wittensee in meinen Besitz zu erlangen. Du hast Dich selbst entehrt, unsern Stamm, Du hast Schande auf Dich gebracht und Dein gequältes Weib.«

Im nächsten Augenblick war Henning verschwunden.

In einer andern Thür des Zimmers, die Worte Hennings gehört habend, von diesem nicht gesehen, stand Heilwig. Sie schritt langsam, wie feierlich, auf Breide zu, der sie nicht bemerkte. Bei ihm angekommen, neigte sich die ahnenstolze, hochmütige, das »Volk« nie berührende Frau zu ihrem Gatten, und im liebevollsten Tone, alles vergessend, flüsterte sie ihm zu: »Verläßt die Welt Dich, bleibt Dir Dein Weib und geht mit Dir, wohin Dein Schritt geht.«

Breide aber, verwirrt aufschauend, schlang um ihren Nacken seine Arme, lehnte sich an ihre Brust und rief schluchzend: »Heilwig, Heilwig, vergieb!«


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