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Dreizehntes Kapitel

An einem Donnerstag gegen Anfang September stehen die Frauen der Mitglieder noch spät am Abend im Hofe der Genossenschaft und warten auf die Müllerfuhre. Inzwischen kommen die Männer aus den Fabriken und warten mit.

Verschiedene vertreiben sich die Zeit, indem sie sich von ihren Frauen die Branntweinflasche geben lassen und trinken. Der Wagen kommt nicht. Alles, was der Müller, der auch mit Fourage handelt, bringen soll, ist ausgeblieben, Graupen und Grütze, Erbsen und Bohnen. Frau Fritzsche war heute zweimal beim Müller. Doch er war nicht anzutreffen. Der alte Schreiber hatte den Befehl seines Herrn: kein Lot wegschicken.

Die Leute drängen Fritzsche, doch einem andern Lieferanten ihren Auftrag zu geben. Fritzsche verspricht ihnen, morgen gleich beim Müller die Sache klar zu machen. Er hat Mehl und Hülsenfrüchte nun einmal bestellt und will sie auch abnehmen.

»Das erheischt der geschäftliche Anstand«, sagt er. Es ist fast elf Uhr. Er besieht die großen leeren Stellen in seinem Lager, hier fehlen zwei Säcke Mehl, dort zwei Sack Erbsen, zwei Sack Linsen, die Kisten mit Grütze und Graupen sind leer. Das war noch nicht vorgekommen, – und da Fritzsche keine Erfahrung hat, grübelt er über die Handlungsweise des Müllers nach.

Am andern Morgen ist er selbst beim Müller.

»Grad ist er mit dem Ponywägelchen nach Leipzig gefahren«, sagt die Müllerin, und auch der alte Schreiber kann ihm keine andere Auskunft geben. Schweren Herzens entschließt sich Fritzsche, die Bestellung rückgängig zu machen und geht zu dem zweiten Müller.

Der erklärt mit viel gewundenen Worten, daß er keinen Auftrag annehmen könne, die lagernden Vorräte seien bestellte Ware und auch für die nächsten Wochen sei seine Mühle ganz an ältere Abnehmer vergeben. Da läßt Fritzsche sich nicht lange aufhalten und geht zum dritten.

Dieser, unwirsch und polternd, sagt ihm grad ins Gesicht:

»Ich lass' mich auf Eure Armleutshöckerei nicht ein! Woher sollt Ihr haushalten lernen? Ihr verarmten Weber und Färber, Schuster und Blechschlosser! Dank für Eure Kundschaft!«

Fritzsche ist zum Mittag im Haus sorgenvoll und bedrückt. Er kann nicht einmal für gute, blanke Taler Ware bekommen. Er sagt es seiner Frau. Frau Juliane rät ihm, doch zu Kanitzky zu gehen, der würde ihm wenigstens aushelfen.

»Und wenn er es nicht tut, dann schwätzt ers morgen in der ganzen Stadt rund!« Fritzsche ballt die Fäuste:

»Dann haben wir zum Schaden auch noch den Spott!«

»Als wenn er das auch nicht so täte!« meint Frau Juliane, »ich bin gewiß, daß er die Finger dazwischen hat!«

»Woher soll er die Macht über die reichen Müller haben? Die lachen den Kerl ja aus! Wenn ich zum Kanitzky geh, dann bindet er mir einen Klotz ans Bein, den ich lange zu schleppen habe. Ich gehe heute noch nach Delitzsch!«

Während Fritzsche in seine Kammer geht und sich umzieht, übergibt Frau Juliane das Handtuch dem Kind zum Abtrocknen des Geschirrs. Sie geht zu ihrem Vater, dem alten Stellmacher Prentzel, und bittet ihn, dem August das leichte Fuhrwerk zurechtzumachen. Fritzsche könne doch nicht zu Fuß laufen. Der Vater läßt den Gesellen sofort den kleinen Wagen mit dem Braunen fertigmachen, Frau Juliane fährt vor, Fritzsche steigt ein, der junge Geselle klatscht mit der Peitsche.

»Ich komm mit den Waren heim oder überhaupt nicht!« sagt Fritzsche. Solange er durch die Straßen der Stadt fährt, ist ihm der Anblick der Häuser ein einziger, großer Vorwurf: dreihundert Familien sind durch deine Schuld ohne Brot! Er weiß, die Mitglieder zögern, nun bei den verfeindeten Krämern und Bäckern einzuholen, wo sie schon seit vielen Wochen nichts mehr gekauft haben. Sie werden sich untereinander helfen; doch sehr viele müssen auf ihn und sein Mehl warten. Nun begreift er, wie verschiedene Mitglieder so dringlich fragten:

»Ist es auch sicher, daß Ihr auch immer Alles abzugeben habt? Sonst müssen wir beim Krämer weiterkaufen. Wenn wir denen nachher für die Sachen, die Ihr nicht habt, kommen, dann schicken sie unsre Kinder nach Haus!«

So schlimm war es doch nicht geworden. Sein Töchterchen und seine Frau holen vieles in den anderen Geschäften; denn Fritzsche konnte doch nicht die hundert Kleinigkeiten auf Lager halten, die zur Führung eines Haushaltes gehören.

Die andern Frauen hatten auch weiter keine Klagen vorgebracht. Vielleicht hofften die Händler auf einen baldigen Zusammenbruch der Genossenschaft. Fritzsche hat weiter nichts tun können, als seinen Mitgliedern auch weiterhin gute Waren zu billigen Preisen auf Lager zu halten. Jetzt ist er auf einem etwas ungewöhnlichen Wege, die Waren zu beschaffen; er hat Zeit, über die Mittel nachzudenken, mit denen er in Zukunft arbeiten muß.

Vorerst gilt es, sich von den Lieferanten in Eilenburg frei zu machen. Er muß nach Leipzig hin, nach Torgau. Wenn es nötig ist, feste Abschlüsse mit andern Großhändlern machen. Er hätte lieber gesehen, daß die Produzenten in Eilenburg die Lieferungen behalten hätten. Nun muß Fritzsche tun, was die Großen auch taten: Das Eilenburger Geld nach Leipzig verschleppen! Ein Unterschied ist doch: die Kaufleute in Eilenburg tun es freiwillig und des Übergewinns halber, während Fritzsche es aus purer Not muß.

Aus diesen Überlegungen wird er von einem freudigen Rufen des Kutschers aufgeschreckt, der den Trab des Pferdes bremst, und sich mit einem Mann unterhält. Die Stimme kommt Fritzsche bekannt vor, – das ist ja der Paule!

Fritzsche springt aus dem Wagen und begrüßt den Paule. Er erklärt ihm den Zweck dieser Fahrt und lädt ihn ein, mitzukommen. Das kann Paule nicht, er will nur einen Gang in den herbstlichen Wald tun. Paule flucht auf die Müller, die sich dem Komplott der Großhändler unterwerfen. Ein paar Bemerkungen von Kanitzky fallen ihm ein. Schon in den ersten Tagen nach der Gründung hat der Agent von der Abhängigkeit der Müller gesprochen, die von den Großhändlern und Bäckern in den Preisen so gedrückt wurden, daß sie sich durch eine Genossenschaft zu helfen gedachten. Doch der Landrat duldete es nicht. Soviel weiß Paule: Die Müller Troitsch, Freiwald, Klepzig und Schröter hatten im »Adler« zu Delitzsch mit ihm über die Gründung gesprochen; doch als er zum zweiten Male im »Adler« war, sei nur Troitsch gekommen.

Vorerst wollten sie eine große Dampfmühle bauen und ein gemeinsames Mehllager errichten. Fritzsche sollte nur zu Troitsch fahren. Paule reicht Fritzsche die Hand. Mit Riesenschritten geht er fort und Fritzsche sieht, daß das Gefährt mit den beiden Damen auf ihn wartet. Er steigt ein, der Wagen rollt davon.

Der Stellmachergeselle sieht, genau wie Fritzsche, nach Paule und dem Wagen aus. Fritzsche beginnt, sich vorsichtig nach den Damen zu erkundigen. Da lacht der Geselle verschmitzt auf und kitzelt den Gaul mit der Peitsche in einen guten Trab hinein. Dabei singt er laut, daß Fritzsche nicht nur die Melodie, sondern auch die Worte versteht:

»Es waren zwei Königskinder...«

»Da wohnt wohl eins auf dem Meierhof?« ruft Fritzsche, und der Bursche winkt mit der Peitsche auf das weiße Gebäude am Waldrand.

Paule ist glücklich! sagt sich Fritzsche, glücklich, wenn er auch nicht weiß, wie seine Sache endet. Ein solch entzückendes Mädchen lieben, von ihr geliebt zu werden, ist vergnüglicher, als für das bettelarme Arbeitsvolk zu kämpfen. Jetzt ist er wieder bei seinen Feinden: alle Mächtigen sind gegen ihn verschworen. Ehe er sich bewußt ist, spricht er die Bitte des Vaterunsers aus, die mit seinem Kampf zu tun hat: »unser tägliches Brot gib uns heute!« Er erschrickt: bitten sollen wir um das tägliche Brot! Ja, er wiederholt es, von kämpfen steht nichts darin. – Er muß also Gott bitten! Fritzsche schauert: er, ein Mann allein, steht jetzt zwischen dem Volke, das hungert und vor Gott, der das reichste, gütigste und gerechteste Wesen ist. Er fühlt sich wie ein Mittler, ein Priester vor dem Volke. Sein Gebet ist das Gebet des ganzen armen Volkes: »unser täglich Brot gib uns heute!« Stunde um Stunde durchfluten ihn diese Empfindungen. »Unser täglich Brot gib uns heute!« Nicht: mein Brot mir. Jetzt fühlt er die 300 Familien hinter sich stehen, nach ihm aufsehn, und ihm wünschen, daß er sein Ziel erreicht: Brot! Brot!

Fritzsche wendet seine Augen in den blaßblauen Himmel, in dem ihn nichts ablenkt; er fühlt, es muß einen Ausweg geben aus dieser friedlosen Geschichte. Er fühlt die Lösung in sich, er findet keinen Ausdruck, keinen Gedanken. Er blickt nur in den Himmel hinein, während der Wagen fährt. Als der Kutscher sich einmal umsieht, ist Fritzsche eingeschlafen. Kein Peitschenknallen vermag ihn zu wecken.

Erst, als der Wagen über die tiefe Rinne am Eingang der Stadt stolpert, wird Fritzsche wach. Er fährt zu Troitsch und dann gehen sie zusammen zu Schröter. Dort besprechen sie die Sache, und Fritzsche merkt, daß sie schon längst Bescheid wissen, sie dürfen nur nichts sagen. Doch sie wollen ihn zu Recht und Waren kommen lassen; deshalb bestellen sie ihn auf den Abend zu Klepzigmühle.

Schon beim Eintreten hört er den Mahlgang poltern, das Wasser rauscht in der Schlucht neben dem Gemäuer. Eine kleine Öllampe brennt, Mehlstaub durchglimmt den Schein und flimmert in einem rötlich leuchtenden Kreis.

Der Mahlknecht rumort auf den Planken über ihnen. Er läßt Sack um Sack im Trichter herablaufen.

»Vor zwei Jahren haben wir uns hier gegen die Regierung verschworen,« sagt Troitsch, »hier haben wir die geheimen Botschaften gelesen. Hier erstatteten später die Flüchtlinge und Boten Bericht. Nun müssen wir uns wieder in den Mahlgang verkriechen!«

Troitsch sagt es frei heraus, daß es ihnen bei Verlust ihrer Lieferungen an die Eilenburger Großhändler verboten ist, an ihn, Fritzsche, zu verkaufen. Zwar steht das nirgendwo schwarz auf weiß, doch haben die Zwischenträger und Aufkäufer so vieles durchblicken lassen, daß sie genugsam Bescheid wüßten.

Jetzt weiß Fritzsche, daß es der Kanitzky ist, der für die Großhändler den Boykott gemacht hat. Der Agent gehört nicht zu ihnen, er darf machen was er will. Er muß wissen: Wer an die Assozisten liefert, verzichtet auf die Kundschaft des Kleinhandels. Nun weiß Fritzsche den Feind in den eignen Reihen.

Die Müller gehen abseits. Sie beraten sich. Auf fünf Schritte sind sie ihm nah, doch er versteht kein Wort. Der Mühlgang donnert die Worte fort.

In diesem dunklen Warten schließt Fritzsche für ein paar Minuten die Augen. Da sieht er über sich wieder den blauen Himmel von heute Nachmittag. Da fängt es in ihm weiter zu denken an und mit einem Male weiß er: Du hast dir den Handel dadurch zum Feinde gemacht, daß du die Waren zu billig abgabst! Du hättest zum gleichen Preise wie die andern, abgeben müssen und den Überschuß aufsparen sollen. Nun hast du für 400 Taler Waren, hast 60 Taler erübrigt, ja, aber das ist nur der Betrag, den die 5% Aufschlag hineinbrachten. Weggegeben hast du mit 15 und 25% unter dem ortsüblichen Verkaufspreis. Du hättest sonst für 1500 Taler Waren und 500 Taler Reinüberschuß.

Nun haben die Mitglieder wohl billige Lebensmittel gehabt, aber die Genossenschaft hat die Abwehr des Handels zu leiden. Hier ist der Fehler: zu billig verteilt, zu billig weggegeben! Wir hätten es genau so machen müssen wie die Schuhmacher zu Delitzsch, die alle Vierteljahre den Überschuß in Form einer Rückvergütung nach dem Umsatz verteilen.

Die Müller wundern sich, daß sie einen ganz andern Fritzsche vorfinden, als sie vor ein paar Minuten verließen. Da war nichts mehr von der Niedergedrücktheit, der peinlichen Sorge eines Mannes, dem geholfen werden muß. Sie wundern sich, daß er auch nicht die Stirn runzelt und sorgenvoll den Kopf schüttelt, als sie ihm sagen, daß sie ihm heute noch keine Ware verschaffen können, er müsse bis morgen hier bleiben, sie würden ein paar Dörfer weitergehen und dort mit den Kollegen reden. Es wäre eine schwierige Sache, die den Müllern großen Schaden zufügen könne, wenn sie nicht zur allseitigen Zufriedenheit ausgeführt werde.

Troitsch hält Fritzsche zum Nachtessen da. Fritzsche erzählt von allem, nur nicht vom Geschäft, und Troitsch weiß, daß dem Mann geholfen werden kann, weil er sich selber hilft.

Am andern Morgen läßt Fritzsche sich die Namen der Müller geben, bei denen er vorsprechen soll. Da ist der Zielitz, der auf einer Windmühle sitzt und von den Bauern gemieden wird, weil er einmal Getreide unterschlagen hat. Er ist durch den Prozeß bettelarm – und mißtrauisch geworden.

Als Fritzsche mit einem Gruß von Troitsch kommt, horcht Zielitz auf. Fritzsche legt ihm Bargeld auf den Tisch, schreibt ihm eine große Bestellung auf und am gleichen Morgen noch rollt ein Wagen mit Mehl nach Eilenburg.

Frttzsche fährt mit dem Müller über Land. Der Müller kauft für ihn Produkte und Brotfrucht ein; Zielitz verspricht, sobald alles zusammen ist, mit den Waren zu kommen und sich die Eilenburger Sache anzusehen.

Später geht Fritzsche zum Ortsvorsteher und erfährt, daß der Müller Zielitz durch einen ungeratenen Sohn in die Schande gekommen ist; nicht er, sondern der Sohn hat das Getreide der Bauern verkauft und der Vater hat die Schuld auf sich genommen. Weil Fritzsche nicht ganz von der Unschuld des Vaters überzeugt ist, hinterlegt er einen weiteren Betrag beim Ortsvorsteher, der dem Müller nach Vorlegung der Ablieferungsquittung ausgezahlt wird. Der Ortsvorsteher geht mit Fritzsche persönlich zur Windmühle und Fritzsche hat das Gefühl, die Sache geht gut.

Als er zu Troitsch zurückkommt, haben sich die Müller nochmals getroffen und ihm eine Reserve von Mehl versprochen. Ein Bäcker im Ort macht den Mittelsmann. Auch dieser Bäcker ist dem Bankrott nahe. Fritzsche spürt Eilenburger Luft: wenig Arbeit, viel Sorge, keine Hoffnung! Der Bäcker weiß nicht, warum gerade ihm das Geschäft für Eilenburg zufällt, warum jemand aus Eilenburg kommen muß, um ihm zu helfen.

»Nur die Armen können den Armen helfen!« sagt Fritzsche. Nun macht er, daß er aus dem Bannkreis von Elend und Not hinaus, kommt. Er fährt nach Delitzsch in den Gasthof »Zum Adler« zurück.

Am andern Morgen, es ist der dritte Tag, kommt eine Fuhre von der Zielitz-Mühle und wartet am »Adler« zu Delitzsch. Zwei weitere Wagen mit Bohnen, Erbsen, Grütze und Linsen fahren an. Von einem Bauer hat Fritzsche zehn Seiten guten Speck so lächerlich billig kaufen können, daß es ihm eine Sünde schien, den Speck nicht mitzunehmen. Der Bauer hatte eine schlechte Ernte. Die Fuhrleute stehen bei ihren Pferden und trinken ihr Bier. Die Lieferanten haben im »Adler« ihr Geld bekommen. Fritzsche setzt sich in die Kutsche und reicht dem Stellmachergesellen eine Zigarre. Der Braune zieht an; Fritzsche verläßt Delitzsch glücklich und zufrieden.

Auf dem Heimweg fällt ihm das Gebet ein, welches ihm die Erleuchtung gebracht hat und von selber klingt es weiter in ihm: vergib uns unsre Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. So kommt Eilenburg bald in Sicht.

Als er in die Torgauer Straße kommt, sieht er einen großen weißen Flecken auf dem Pflaster, als hätte jemand einen Eimer Kalk ausgegossen. Als das Fuhrwerk darüberwegfährt, sieht er, es ist Staub. Vielleicht Gips oder auch Mehl. Er kommt an einem zweiten, gleichen Flecken vorbei und an einer Straßenecke sieht er knieende Kinder, die etwas aufheben. Eine scheltende Frau hält eine Tüte in der Hand. Da sind es Erbsen, die im weiten Kreise herumliegen; im Weiterfahren sieht er den Polizeisergeanten, wie er eine Jungensschar gestellt hat.

Fritzsche läßt halten und erfährt, daß seit einigen Tagen die Ferien begonnen haben. Solange Eilenburg bestehe, habe es immer Jungenskriege zwischen den einzelnen Stadtteilen gegeben, die Schützenhöfer gegen die Muldentäler, die Mauerwegkinder gegen die Burgberger. In diesem Jahre seien die Kinderstreitereien nicht so sehr nach den Bezirken, als nach den Vätern eingeteilt. Die Assozistenkinder hätten die anderen Jungens mit »Krämerpack« und »Händlersack« beschimpft. Diese wiederum schimpften mit »Fabrikpöbel« und »Assozistenbälge« zurück. Bei den Steinwerfereien und Raufhändeln zerplatzten einige Tüten. Herr Fritzsche solle nur nicht annehmen, die Kinder seien von den Kindern aufgestachelt, wie Herr Stolle das auf dem Platz am Magistrat ausgeschrieen hat. Es sei reine Kinderei, sonst nichts! Herr Fritzsche sei ja einige Tage verreist gewesen, Herr Stolle habe ihn vertreten, nicht ohne ein großes Durcheinander zu schaffen. Er möge nur schnell zur Töpfergasse fahren, da könne er sehen, was Herr Stolle angerichtet hat.

Im Trab geht die Fahrt zur Töpfergasse. Fritzsche ist nun wirklich neugierig. Viel Volk sieht vor seinem Haus. Aus der Türe drängen Frauen und Kinder, die Waren eingeholt haben. Der Flur steht voll. Seine Frau und Stolle stehen hinter dem Ladentisch. Im Höfchen ist ein Gefeilsche wie bei einer Kirmeß. Auf Kisten und Kasten stehen die Kiepen der Hausierer, die mit lautem Rufen ihre Ware ausbieten. Es ist noch nicht zwei Uhr, die Verkaufsstunde noch nicht zu Ende.

Immer noch kommen klagende Frauen, die Fritzsche sprechen wollen. Fritzsche müsse sofort zum Magistrat. Ihre Kinder dürften nicht einmal mehr in die Stadt. Aus allen Ecken wird ihnen aufgelauert, ihnen die Waren abgenommen und über die Straße gestreut. Da müsse die Polizei für Ordnung sorgen und die Bürgerschaft für den Schaden aufkommen.

Fritzsche holt den Polizeidiener ins Lokal. Der erklärt, er habe sein Bestes getan. Er könne doch diesen Kinderstreit nicht allein schlichten, die Eltern müßten vernünftig sein und in der Vakanzzeit eben selber einholen. Die Arbeiterfrauen gehen mit Fäusten auf Herrn Hanisch los: »Wir dürfen doch noch unsere Kinder in die Stadt schicken!«

Nun ruft der Polizeidiener mit lauter Stimme auf die anrückenden Frauen ein. Die Frauen drängen auf den Polizisten zu, der zieht sich zurück und Fritzsche springt zwischen die Parteien, die auf der Straße schon zu johlen anfangen.

»Mitglieder, Freunde! Es darf nicht zu Tätlichkeiten kommen! Vor allen Dingen muß unser Polizeidiener nach bestem Willen und Gewissen seine Meinung sagen dürfen; geht Ihr gegen ihn an, so ist das Widerstand gegen die Staatsgewalt!«

»Müssen wir uns denn unsere sauer erworbenen Pfunde Mehl unter die Füße treten lassen!« ruft eine Frau. »Was stehen da all die Männer? Unsere Männer sind in den Fabriken!« Sie macht eine Faust gegen die Leute auf der Straße: »Wartet, bis unsere Leute von der Arbeit kommen! Die werden Euch helfen, an Kindern und Frauen sich auszulassen! Häh!«

Die Frau bekommt einen Wutanfall und will sich mit geballten Fäusten in die Menge stürzen. Herr Hanisch sieht einen alten Mann über die Straße rennen:

»Polizei! Polizei!« gellt seine Stimme. Der Polizist geht dem Mann entgegen. »Herr Polizeidiener, am Schloßberg haben die Taugenichtse meinen Garten ausgeräubert, die Birnen, die Äpfel, alles ist weg! Die Lümmels wissen genau, wo Ihr am Mittag und Abend seid, und weil Ihr immer in der Töpfergasse bei den verfluchten Assozisten liegt, drum scheuen sie sich nicht vor Gewalt und Raub, – wir alten Leute können gar nichts mehr machen!«

Da ruft eine Frau von der Straße her:

»Die Assozisten sollen ihren Jungen Äpfel kaufen, dann brauchen sie nicht in anständiger Leute Gärten einzubrechen!«

Ein Mann aus der Menge schreit:

»Schnaps saufen, das können sie, aber ihren Kindern was zu fressen geben, das können sie nicht!«

Herr Hanisch weiß nicht, wohin er sich wenden soll. Der Alte verlangt, daß er sofort zu ihm in den Garten am Schloßberg kommt. Herr Hanisch sieht, daß es notwendiger ist, hier zu bleiben.

Der Polizist wendet sich an die Eilenburger auf der Straße:

»Liebe Leute! Was sieht ihr hier herum? Geht doch mit Herrn Wittsche und treibt die Jungens aus den Gärten hinaus! Ich kann doch nicht überall sein!«

»Es sind Fabrikarbeiterkinder! Daran dürfen wir nicht rühren, sonst heißt es: ›Das Händlerpack schlägt unsere Kinder!‹« ruft eine Bürgerfrau.

Da drängt eine Frau aus der Menge vor:

»Schandweib!« brüllt die Arbeiterfrau: »Wenn es Räuber sind, dann haben sie Prügel verdient! Es werden wohl eure Jungens ebensogut dabei sein als unsere! Kinder sind Kinder! Wenn sie räubern, dann müssen sie alle ihre Prügelsuppe bekommen!« Die Arbeiterfrau weint und ballt die Fäuste: »Ihr habt Geld, ihr habt Zeit, ihr habt alles und schimpft uns aus in unserm Elend!«

»Hö, die ist am lichten Tag besoffen!« spottet ein Halbwüchsiger.

»Nun macht euch heim, alle heim! Weg von der Straße, alle weg! Schämt euch, hier zu stehen und zu schimpfen! Geht doch und helft Herrn Wittsche, die Räuber und die Diebe fangen! Bringt sie zum Magistrat, damit sie die Namen aufschreiben; dann wird sich ja finden, wessen die Kinder sind!«

Herr Hanisch drängt in die Menge hinein.

»Untersteht euch!« ruft die Arbeiterfrau. »Dann laßt ihr die euren laufen und schleppt die unsrigen zum Magistrat, wir sollen dann Strafe zahlen! Kommt, wir können unsern Jungens selber die Jacken vollhauen!«

»Wenn ihr sie fangen geht,« ruft eine andere Frau, »dann laßt ihr die euren laufen und schleppt die unseren zum Magistrat! Ihr spielt euch nur auf, freches Pack!«

»Um Himmels willen! Was soll die Zankerei? Ist Eilenburg denn ganz verrückt geworden? Was können die Fritzscheleute dafür, wenn Jungens die Gärten plündern? Das ist doch jedes Jahr so! Seid vernünftig, Leute! Sonst muß ich euch alle aufschreiben!«

»Hö, hö, hö, hö, hö! Herr Hanisch hält es mit den Assisten!« gellt eine Stimme.

»Ich halt es mit der Ordnung, Ordnung muß unter den Bürgern sein! Oder seid ihr keine Bürger, seid ihr hergelaufenes Gesindel?« Herr Hanisch schreit mit seiner ganzen Lungenkraft.

»Alles, was zu mir gehört, kommt ans Haus!« ruft Fritzsche. Er ist zwischen die Menge auf der Straße und zwischen die vor seinem Haus getreten. »Geht alle so lange hinein, bis Herr Hanisch mit denen auf der Töpfergasse fertig ist.«

»Zum Burgberg! Zum Burgberg!« schreit ein Junge und läuft zur Seite. Eine Schar Jungens rennt hinter ihm her. Langsam verziehen sich die Leute. Nun geht Hanisch umher, er ohrfeigt einige Jungens, Heulen und Schreien gellt, die Burschen nehmen reißaus.

Als Herr Hanisch zurückkommt, hat Fritzsche seine Leute auf der Schulgasse versammelt.

Fritzsche hält ihnen eine Rede, sagt, daß es ihm gelungen sei, das Fehlende an Waren aus der Umgebung herbeizuholen. Weder er noch sonst jemand habe das voraussehen können. Das Kapital habe eben alle Produzenten am Gängelbande und könnte ihren Kunden befehlen, an wen sie zu liefern haben oder nicht. Genau so, wie es viele Handwerker gäbe, die nicht wagen, in der Genossenschaft einzuholen, genau so gibt es Händler und Müller, die nicht wagen, an uns zu liefern. Vorübergehend hätte er die Waren ein wenig teurer erwerben müssen und die Mitglieder sollten nicht murren, wenn dieser Zustand noch einige Wochen anhielte. Nun fragt Fritzsche, warum die Hausierer anwesend seien. Stolle will ihm nachher Antwort geben. Vorher sagt er den Hausierern, sie sollen morgen mittag um zwölf Uhr wieder hier sein und möglichst mit den Artikeln, die ihnen aufgegeben worden sind.

Fritzsche entläßt nun seine Leute: Über die Schulgasse, als auch über die Töpfergasse gehen sie in ihre Häuser zurück. Fritzsche ist mit Stolle in die Stube gegangen, er bekommt von seiner Frau ein Butterbrot. Er ist hungrig und kaut mit vollen Backen, während Stolle erzählt:

»Also, vor drei Tagen, als Ihr wegfuhrt, da kamen mit einem Male die Frauen unserer Mitglieder an und klagten, daß ihre Kinder in den Läden ungebührlich lange, oft eine halbe Stunde, haben warten müssen, obgleich sonst kein Käufer anwesend war. Als endlich dann der Händler nach ihren Wünschen frug, so schnauzte er: ›Die Sachen haben wir nicht!‹ oder er sagte: ›Sind ausverkauft!‹ Wenn die Kinder dann auf diejenigen Artikel, die da lagen und sie haben wollten, zeigten, raunzte der Verkäufer: ›Diese Waren sind schon verkauft und werden abgeholt!‹ Schließlich sind die Frauen selbst hingegangen zu den Läden, wo sie bisher ihre Einkäufe gemacht haben; da begegnete es ihnen, daß man sie überhaupt nicht anhörte, sondern sie wie Luft behandelte. Schließlich ist es den Frauen nicht anders ergangen, als den Kindern auch. Weder Strick- noch Nähgarn, Nachttopf oder Muskatreibe, Mehlbesen oder Viehsalz haben sie mit gutem Geld kaufen können! Als ich diese Klagen hörte, packte mich die Wut. Ich bin gleich auf die Herberge gegangen, wo die Hausierer übernachten. Und habe jeden, den ich unterwegs traf, hierhin bestellt. Diese Hausierer sind nun einmal unterwegs; sie haben die Erlaubnis, Handel zu treiben. Es ist ihnen nicht verboten, auch unsere Mitglieder hier oder in ihren Häusern zu bedienen. Die Mitglieder sagen ihnen die Artikel an, die sie brauchen und die wir wegen Mangel an Raum noch nicht führen. Ich habe ihnen geradeheraus gesagt: ›Die hiesigen Händler wollen 300 Familien nicht bedienen, sie wollen unsere Genossenschaft kaputtmachen.‹ Nun sind sie, die Hausierer, schon den zweiten Mittag hier; unsere Mitglieder werden vorläufig ohne unsere Kleinhändler fertig! Ist das nicht ein gescheiter Einfall von mir gewesen?«

Fritzsche lacht, daß ihm die Krümel aus dem Munde fallen, denn der Schuster wirft sich mit dem Stolz eines Siegers in die Brust und droht mit der Faust gegen die Stadt:

»Nun habt ihr vor der Genossenschaft Ruh! Jetzt könnt ihr den ganzen Tag schlafen und braucht euch gar nicht mehr über uns aufzuregen! Bald werdet ihr eure Läden zehn Stunden am Tag schließen und wir werden den unsrigen zehn Stunden öffnen!«


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