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Heute ist der 18. April. Im Gasthof Krieger an der Badergasse sitzen Bittkow und Ottokar Glubsch. Sie haben zwar nicht das schlechteste Gewand angezogen; doch kommen sie sich in diesem Lokal, in dem die Handwerksmeister verkehren, ein wenig ärmlich vor. Glubsch hat natürlich noch nicht zu Abend gegessen, sein dicker Brotpacken liegt neben ihm auf der Bank, er geniert sich, mit vollen Backen loszukauen. So krümelt er nur ab und zu an einer Brotschnitte, trinkt öfter an dem Glas, als er sonst gewohnt ist; denn hier gibt es keine dürren Heizerkehlen, die mit einem Maß in zwei Schlucken fertig werden. Da kommen die Handwerksmeister, Mann um Mann, setzen sich an die Stammtische, grüßen behäbig rund durchs Lokal, ganz, als seien sie hier zu Hause. Bittkow, in grimmiger Weise ungeniert, begrüßt sie leutselig, als hätte er ganz Eilenburg zu einem Gastmahl eingeladen. Darum pufft Glubsch ihm eine in die Seite, Emil lacht unmäßig, winkt mit seinem Krug einem Tisch jüngerer Leute zu, die besser als Arbeiter gekleidet sind.
»Mensch, das ist ja einer von unsern Schreibern, ja, der Federfuchser vom Kontor! Ob der auch Assozist werden will?« spricht Bittkow über den Tisch hin.
»Emil, wenn du nicht so taub wärst, hörtest du, daß sie über uns losziehen!«
»Das haben sie auch schon in der Fabrik getan; daran erkennst du die sogenannt besseren Leute! Sie dürfen über die Arbeiter höhnen, und über Sachen schwatzen, die sie nicht verstehen.« Bittkow spricht es ungeniert aus.
»Mach keinen Krach!« Glubsch stößt ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen, denn durch die Tür kommt Paule, lautredend, einen Arm hochgestoßen, die Hand reicht von weitem schon zu Glubsch: » How do you do? Ottokar, welcom!«
Er schüttelt den Heizer bei den Schultern, schmeißt sich neben ihm auf die Bank, freizügig und ungeniert. Nun sieht alles auf den Schmiedesohn, der nicht nur in Geste und Sprache, sondern auch noch in der Kleidung seine Herkunft aus dem sagenhaften Lande überm großen Wasser zeigt. » Speek english!« entgegnet er dem Heizer, der gut Eilenburger Sächsisch spricht.
Fritzsche mit einigen Männern tritt ein. Sieht sich nach den Arbeitern um, findet nur Glubsch und Bittkow. Neben Paule sitzt ein Hamburger Zimmermann. Er hat einen großen Hut auf dem Kopf, seinen Stenz überm Tisch liegen, als sei er in der Herberge. Zu dritt reden sie englisch miteinander.
Fritzsche fragt den Wirt nach dem Besuch:
»Ein gutes Dutzend werden oben sein!« sagt er. Fritzsche geht von Tisch zu Tisch, bittet, hinaufzukommen. An dem Tisch, wo die gutangezogenen, jungen Leute sitzen, macht einer eine tiefe, hohnvolle Verbeugung und sagt:
»Wir kommen nach Ihnen! Sehr geehrte Herren! Nach Ihnen!«
»Wenn Sie nur nicht zu spät kommen!« sagt Meister Fritzsche, ebenso höflich, wartet auf Paule, der Glubsch unter den Arm genommen hat und mit ihm spricht. Als Letzter geht der Buchbinder; er läßt die Frau des Wirtes, die herabkommt und in den zwei Händen ein halb Dutzend leere Krüge schwenkt, vorbei.
»Es sind mehr als 20 Leute oben«, sagt sie eifrig und ruft zum Schenktisch hin: »Acht Halbe, drei Ganze!«
Solange Fritzsche noch in der Tür ist, schweigt die Runde am Tisch, – als er die Tür hinter sich zugezogen hat, dröhnt Gelächter durch die Stube.
»Wie die Herren Studenten benehmen sie sich!« sagt die Frau, »und es sind doch nur ...« Da unterbricht der Wirt sie heftig: »Frau, begreifst du denn immer noch nicht, daß ich gar kein Wort über meine Gäste hören will!«
In dem Sälchen ist für mehr als hundert Personen Raum, es sind also ungefähr fünfzig Personen gekommen. Die Arbeiter sind über den Hof die Treppe hinaufgegangen und sitzen zusammen.
Fritzsche blickt zur Tür. Sie ist lange Zeit nicht mehr geöffnet worden. Nun wird wohl niemand mehr kommen. Er sieht noch einmal über die Erschienenen hin, die unterm Schein der Öllampe die Augen auf ihn richten. Ihm zur Seite steht eine dicke Kerze, sie beleuchtet eine weiße Mappe mit Schriftstücken. Ehe Fritzsche spricht, trinkt er noch einmal aus seinem Bierkrug. Da kommt aus der Ecke, wo die Arbeiter sitzen, der Zuruf einer hellen Stimme:
»Zum Wohlsein!«
»Danke!« sagt Fritzsche und trinkt noch einmal. Darauf heben alle ihre Krüge und trinken sich zu. Nun muß Fritzsche noch einmal: »Zum Wohlsein alle miteinander!« sagen; dann dauert es eine Zeit, lang, ehe die allgemeine Fröhlichkeit in Stille übergeht.
Fritzsche beginnt mit leiser, aber klarer Stimme: »Werte Mitbürger Eilenburgs! Ich brauche mich euch nicht vorzustellen; wir sind Eilenburger. Links neben mir sitzt Herr Sekretär Wagner, rechts neben mir der Schuhmachermeister Stolle! Färbermeister Vogel ist auch bekannt. Den Mann zu seiner Linken, den muß ich euch extra vorstellen, das ist Paul Zöckler, der Sohn des Schmiedemeisters; er ist vor einigen Wochen erst aus Amerika wiedergekommen. Die Sache ist die: seit vielen Jahren sind wir Handwerker ohne ausreichende Arbeit und den Leuten in den Fabriken geht es, trotz vielem Schaffen, jämmerlich schlecht. Das Einkommen ist so gering, das Brot so teuer. Bis jetzt haben wir nichts anderes getan, als unter dem Elend gestöhnt und auf die Kapital- und Maschinenbesitzer geschimpft. Wir haben auch nach dem Staat gerufen; doch was weiß der Staat von uns? Da kommen die Reisenden und Zeitungsleute in unsre Stadt, sie schreiben von dem großartigen Eindruck des Maschinenbetriebs und des machtvollen Handels. Wunderbar reden sie über das Rasseln der Dampfwerke und die überaus sinnreiche Mechanik des unermüdlichen Räderwerks! Schreiben: es wird nicht lange dauern, daß der Kleiderschrank des Weibes eines einfachen Gewerbemannes den Neid einer angelsächsischen Königin erregen wird.
Freunde, was ist denn tatsächliche Wirklichkeit?
Unser leerer Brotschrank erregt nicht einmal mehr den Neid eines aus Hunger davongelaufenen Kettenhundes! Daß wir aber unter der Segnung dieser gewaltigen Industrie und der arbeitfressenden Maschine in unerträglicher Armut seufzen, das sagt dem Staat niemand!
Nun ist im Volk die Meinung, daß die Fabrikanten an unserm Elend schuld sind! Ist das nun so? Die Verhältnisse in der Industrie haben sie dazu gebracht, daß sie nicht mehr an das Volk denken, sondern bloß noch an Kapital und Konkurrenz. Ich glaube fest und bestimmt, wenn sie das Elend des Volkes spürten, so würden sie bessere Verhältnisse schaffen. Weil sie es nicht mehr fühlen, darum haben sie kein Interesse mehr für das Volk. Hier muß ich einige unserer Mitbürger ausnehmen, der Fabrikant Degenkolb, er hat es bewiesen, will gerne die Verhältnisse ändern. Auf der Nationalversammlung hat er Rechte für die Arbeiter, und Pflichten für die Fabrikanten in solchem Ausmaß gefordert, daß man Herrn Degenkolb für verrückt erklärte. Er hat eine Krankenkasse gegründet und ist die treibende Kraft zur Schaffung von Assoziationen unter den Handwerkern. Doch, was hat Herr Degenkolb für einen Einfluß bei den Fabrikanten? – Gar keinen! Er kann, sagen wir es frei heraus, nicht einmal in seiner Fabrik Ordnung schaffen. Er ist an die andern Fabrikanten, die Konkurrenz, gebunden. Das Land leidet, also muß der Staat es schaffen. Was der Staat ist, hat unser Mitbürger, der Doktor Bernhardi, uns ja so erklärt:
» Der Staat ist der gesetzliche Vormund aller unmündigen Staatsangehörigen, der natürliche Schutz aller unterdrückten Schwachen!«
»Es ist seine natürliche Pflicht, uns, seinen Landeskindern, beizustehen. Er soll durch die Machtmittel, die wir ihm zur Verfügung stellen, mittels des Militärs, das aus unseren Söhnen besteht, und den Waffen, die wir mit unsern Steuern bezahlen, er soll mit seiner ganzen Autorität, die in den Gesetzen Kraft hat, uns, den Armen, beistehen. Dafür heißt er ja der Vater Staat und nennt sich das ›Vaterland‹.«
»Sehr richtig!« ruft es aus dem Hintergrund.
Fritzsche spricht diese Worte über den Staat sehr langsam aus und spricht unwillkürlich leise, denn er gedachte der Folgen, die daraus erwachsen könnten. »Der Staat aber tut es nicht und wir können nicht darauf warten, bis er ein Machtwort spricht. Das Volk ist arm und einsam, die Starken haben sich losgesagt von uns. Jetzt müssen wir wieder feststellen, was eigentlich noch zum Volk gehört. Denn wir müssen wieder als Volk zusammentreten und unser Recht auf das Brot und das Leben verteidigen. Volk heißt in diesen Tagen Arbeitsvolk, das wie eine Familie zusammensteht, in der einer dem andern hilft, in der entweder alle zu essen haben, oder alle hungern! Wer aus dieser Familie ausgetreten ist, mag wieder zu uns kommen, er sei willkommen, wer nicht will, bleib da. Wir scheiden uns nicht nach Rang und Stand, bekämpfen nicht Arbeiter noch Handwerker. Wollen auch das Wort Fabrikant nicht. Brotherr! Das ist gut. Wir wollen keine Fabrikanten mehr haben, sondern Brotherrn! das ist ein deutsches Wort und deutsch soll es bleiben: Wer Herr sein will, muß Brot schaffen. Hier, an diesem Ort und in dieser Stunde wollen wir es entscheiden. Meine Freunde und Nachbarn, ihr seht, wir beginnen einen Kampf; es sind viele, die in unsrer Vaterstadt leben, aber nicht Vater der Stadt sein wollen. Die sollen nicht mehr sagen dürfen: Vaterstadt, sondern die sollen: Verdienerstadt, sagen. Also, ich rufe die Vaterstädter zusammen, um das Brot zu seinem Recht zu bringen. Wir kämpfen gegen das Recht des Geldes für das Recht des Brotes. Das Brot also ist das Element, daß dem Volk zeigt, wer zum Volk gehört. Die Fabrikanten können es uns nicht geben, der Staat kann es auch nicht, also schreiten wir zur Selbsthilfe und zeigen dem Staat, wie wir als Volk tun, was er nicht kann.
Wenn ich Brot sage, so meine ich natürlich auch die andern Viktualien, alles, was zur Ernährung dient. Jetzt sag ich es von vorneherein, es wird unser Vorhaben schwer bekämpft. Denn, es haben sich in diesen schweren Jahren uralte, in früheren Zeiten nützliche und fast unantastbare Rechte gebildet, die wir, wenn auch nur vorübergehend, angreifen müssen. Ich meine hier ganz klar und ausdrücklich das Recht des Handelsstandes auf den Verkauf von Lebensmitteln. In diesen Tagen ist das Recht hinfällig geworden, denn es verkürzt dem armen Volk das so karge und teure Brot. Wir alle sind in Borg-Schulden verstrickt; das ist ein gewaltiger Mißstand. Dadurch bekommt der Handelsstand ein Recht auf den einzelnen, den er bei Barzahlung gar nicht hätte. Jetzt wird der arme Mann aus dem Volk an den Händler gekettet und der Händler verliert sein Geld.
Das durch Borg verlorene Geld muß aber auf andre Weise wieder eingeholt werden und das geschieht durch höhere Preise, damit die Verluste wieder einkommen. So muß auch der Mann, der nicht auf Borg kauft, höhere Preise zahlen. Jetzt sind die Verkaufspreise so hoch, daß die Arbeitsmänner für ihren Lohn sich nur halbsatt essen können. Darum ist eine heimliche Feindschaft ausgebrochen: Jeder muß den Handelsstand hassen, weil er das Brot und die Lebensmittel mit hohen Preisen kürzt. So ist der Handelsstand jetzt das trennende Element geworden; die Verhältnisse haben es mit sich gebracht, daß er zwischen dem armen Arbeitsvolk und seinem Brot steht. Diese Auswüchse eines altehrbaren Gewerbes zu bekämpfen, ist unsre Pflicht. Wir fürchten nicht den Kampf und die Leiden, die uns daraus erstehen. Wir führen den Kampf so lange, bis das auch der Handelsstand einsieht, daß der arme Arbeiter auch zum deutschen Volk gehört und nicht ausgestoßen werden kann. Wir wollen den ehrlichen Händler, der in der Tat handelt, nicht verachten. Aber er soll kein Krämer sein und im Handel vorangehn. So werden wir, ein ehrliches Volk, uns zusammenschließen und zeigen, daß der Mensch stärker als die Verhältnisse ist: wir ändern die Mißwirtschaft durch die Errichtung einer Genossenschaft, in der jeder für den andern, alle für einen und einer für alle verantwortlich ist! Wie wir das machen wollen, das wird euch der Paule Zöckler erzählen, der solche Einrichtungen deutscher Männer in Amerika gesehen hat.«
Es dauert eine Weile, bis die Zuhörer begriffen haben, daß Fritzsches Vortrag zu Ende ist; die älteren Anwesenden klatschen Beifall, die jüngeren, nachdem sie einen Schluck getrunken haben, hämmern aus Lust und Freude am Klatschen die Hände zusammen, so daß sie alle befriedigt zum Schluß die Krüge heben und trinken.
Da steht Paule auf, steht stolz und aufrecht in seinem besten Rock, das glattrasierte Gesicht glänzt vor innerer Erregung, die Augen aller Eilenburger sehen zu ihm hinauf:
»Liebe Eilenburger Kollegen! Wenn ich auch nur seit einigen Monaten im Land bin, so habe ich mich genug umgesehen, und kann mir ein Bild machen von dem, was sich in den zehn Jahren, die ich fort war, ereignet hat. Ihr habt es schwer, meine Freunde, ich darf nichts darüber sagen, ich hab es nicht miterlitten und darum darf ich nur von einer ähnlichen Zeit sprechen, die ich in Boston mitgemacht habe. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie zu guten Zeiten dort Handwerker gesucht und bezahlt werden, nicht vorstellen, wie dort Geld verdient – und ausgegeben wird. Auf einen Hieb hatte die gute Zeit ein Ende. Ich war in einer landwirtschaftlichen Maschinenfabrik, ein Aufstand im Absatzgebiet kam und aus war die ganze Herrlichkeit. Zuerst haben wir eine Zeitlang von den Ersparnissen, wie die Herren gelebt. Dann ging das Geld aus, zu Hunderten, zu Tausenden standen die Herren von gestern an den Fabriktoren und verlangten Arbeit. Die Fabrikanten mußten auf Lager arbeiten und boten uns den halben Lohn. Daraufhin liefen wir wieder weg, Leute wie wir und halben Lohn? Ausgeschlossen! Nach einigen Wochen schlimmster Hungerzeit gingen wir wieder vor die Fabriken und jetzt erklärten die Fabrikanten, sie könnten nur noch die Hälfte vom halben Lohn geben, die Konkurrenz habe sich des Absatzes bemächtigt. Ob es wahr oder gelogen, das End vom Lied hieß: Arbeit um jeden Preis. Wir schafften wie die Wilden, es nützte nichts, wir konnten kaum die nötigsten Lebensmittel kaufen, denn die Preise standen immer noch auf dem alten Stand. Wir konnten nur den vierten Teil vom Nötigsten kaufen. Nun ist Boston eine richtige Handelsstadt; die Händler hatten riesige Kapitalien hinter sich und waren nicht auf die kleinen Groschen der Arbeiter gestellt. Uns aber fraß der Hunger die Därme aus dem Leib. Da wurde eines Tages ein krummer Mechaniker, dem ein Formkasten ins Kreuz gefallen war, mit einem Transport Ersatzteile aufs Land geschickt. Schon am dritten Tag erhielten wir einen Brief, wir sollten doch Geld sammeln und ihm schicken, er könne dort die Lebensmittel bei den Bauern zur Hälfte des Preises kaufen. Am nächsten Lohntag schickten wir einen Mann hin und der kam gleich wieder zurück, die Ochsenkarren hoch mit allem beladen, was zum Leben nötig ist. Der Fabrikant erlaubte uns, die Sachen in seiner Fabrik zu verteilen. Er freute sich, als er von dem Gewinn hörte, jetzt brauchte er nicht die heftigen Klagen zu hören, er bot uns Vorschuß an und setzte uns in den Stand, einen regelrechten Austausch zwischen Stadt und Land durchzuhalten. Der krumme Mechaniker kam nur noch zurück, um von uns die Erlaubnis zu großen Verträgen in Verpflichtungen und Unterschriften zu bekommen. Wir gründeten eine Lebensmittelassoziation, richteten eine Abgabestelle ein und da wir selber nach Feierabend die Waren verteilten, brauchten wir nur den Mechaniker und seine Familie zu unterhalten. Diese Tat des krummen Mechanikers wurde im ganzen Land bekannt und in kurzer Zeit gab es 40 solcher Vereine, die sich im Jahr 47 zu einer Vereinigung zusammenschlossen. Das wirkte auf den Handel so ein daß in kurzer Zeit die Lebensmittel und Bedarfsartikel um ein Viertel bis ein Drittel im Preise sanken. Dadurch stieg der Umsatz wieder und der Wohlstand stieg, auch ohne die Löhne auf die alte Höhe zu bringen. Alle Welt sprach von der genialen Tat des Mannes. Seitdem heißt es in Amerika, wenn etwas Neues gemacht werden muß, noch öfter, dringender als früher: ›Wie machen es die Deutschen!‹ Denn der Mechaniker war ein Landsmann von uns. Aus dem verbitterten Krüppel war ein weitblickender Kaufmann geworden, der im letzten Jahr eine halbe Million Dollar für die Mitglieder verwaltete. Die Mitglieder ersparten dadurch ¼ bis 1/3 Lohn, mehr als 140 000 Dollar. Meine Freunde, nun braucht ihr nicht zu glauben, dieser Mechaniker wäre ein besonders gerissener Kaufmann gewesen, nein, es war genau so ein einfacher Arbeiter wie wir es alle sind. Schaut auf die Auslandsdeutschen! Sie vergessen den alten Bruderzwist und sind im Lande Amerika nur noch Deutsche, Landsgenossen, Brüder des großen Volkes in Europa! Es wär eine Schande, wollten wir hier nicht von ihnen lernen. Hier, im Vaterland, schafft das Volk das Brot, und das Brot soll wieder zum Volk hinkommen! Trennt uns der Hunger, soll uns das Brot wieder zusammenbringen. Nicht als grimmige Hungerfeinde, die sich darum zerfleischen, sondern als vernünftige Menschen, die sich als Volksgenossen erkennen. Der Handwerker hat seine Konkurrenz in der Maschine, der Handelsstand soll seine ebenbürtigen Gegner in der Assoziation finden: Bringt der Handel eine neue Idee auf, zeigt er mit der Tat, wie das Volk zu seinem Brot kommt, dann können wir uns wieder ganz auf unsre andern Arbeiten beschränken. Jetzt aber die Genossenschaft gegründet. Da kann man nicht lange beraten, das muß man praktisch beginnen! Denkt, was jetzt nicht von Euch und für uns getan wird, das tun die Kapitalisten bald für sich und gegen uns. Eure Kinder und Kindeskinder werden dann nicht nur in den Fesseln der Produktion schmachten, sondern auch noch in den Ketten der kapitalistischen Verteilung. Die Zukunft schaut auf euch hernieder, Freunde, es ist eine historische Stunde, ihr habt es in der Hand, ob Eilenburg den Ruhm hat, die erste Lebensmittelgenossenschaft in Deutschland zu haben. Wächst sie hier nicht auf, dann wird die Idee weiterwandern und irgendanderswo aufwachsen. Aber wachsen wird sie, groß werden und mächtig, die Genossenschaft der vereinigten, schaffenden Stände!«
Diesmal gab es direkt und unmittelbar ein Gewitter von Händeklatschen, eh Paule sich noch gesetzt hat, ein Bravorufen und immer wieder Händeklatschen. Der Vorsitzende der Schmiedegilde steht auf und klopft Paule mit seinen schweren Händen auf die Schultern, daß Paule, der ein bißchen sich nach vorne geneigt, auf den Stuhl schießt, daß die Lehne bricht. Die Schmiede nehmen die Ehre, die Paule zugedacht ist, stolz auch für sich in Anspruch, sie lassen das große, zinnerne Trinkgerät, einen Amboß in Lebensgröße, aus der Lade holen und machen einen gewaltigen Umtrunk.
Paule geht, nachdem er als Erster getrunken hat, zu Glubsch hin und stellt ihn der Versammlung vor. Auch der könne von Amerika reden, trotzdem er schon zehn Jahre dort fort sei. Paule gibt den Trinkamboß an Glubsch weiter und dann läßt dieser ihn der Reihe nach weitergehen. Der Schmiedemeister macht ein verblüfftes Gesicht, Paule sieht es und ruft:
»Es lebe die Genossenschaft aller schaffenden Stände!«
Nun steht ein Mann auf, etwas erregt und sagt überlegen:
»Liebe Leute, wer garantiert denn, daß der Mann, der Geld und Ware verwaltet, nicht die Finger zuerst und zutiefst ins Fettöpfchen steckt? Es könnten ihm gut die mit unserm sauren Schweiß verdienten Silbergroschen daran kleben bleiben!«
Fritzsche antwortet:
»Der Mann, der Geld und Ware verwaltet, wird von den Mitgliedern kontrolliert. Jeder, der glaubt, es sei etwas nicht in Ordnung, kann die Mitglieder zu einer Versammlung zusammenrufen. Und jederzeit kann der Kontrollausschuß in die Bücher, Kassa- und die Warenbestände hineinblicken. Außerdem muß ja der Mann im Lager eine Kaution, ich denke, so an 200 Taler, stellen.«
Da sieht ein anderer Arbeiter auf und sagt:
»Da möcht ich fragen, woher kommt das Geld, um die ersten Anschaffungen zu machen? Soviel wie ich gehört habe, soll nicht auf Borg abgegeben und nicht auf Rechnung eingekauft werden. Die zehn Silbergroschen machen doch auch den Bock nicht fett! Und dann: habt ihr schon ein Lokal in Aussicht? Das muß doch auch gemietet werden. Dann denk ich an die Auslagen für die Einrichtung: Waage und Kästen. Dazu gehört, mein ich, viel Bargeld. Unsereins ist doch froh, wenn er die zehn Silbergroschen leisten kann und sich auf Barzahlung einrichtet. Wollt ihr darüber nicht ein paar Worte sagen?«
Herr Wagner sieht auf:
»Da hat der Kollege ganz recht, über diese Sache zu sprechen. Zum ersten: der Buchbindermeister Fritzsche hat mittlerweile ein Kapital von nahezu 200 Talern, teils erborgt, teils aus seinen Ersparnissen, für diese ersten Anschaffungen bereitgestellt. Außerdem will er noch, um bei den Lieferanten große Einkäufe zu machen, 420 Taler zugunsten der Genossenschaft auf seinem Erb und Eigen eintragen lassen. Die Lokalfrage haben wir so geregelt: Herr Fritzsche stellt die beiden Zimmer in seinem Unterhaus zur Verfügung. Wenn unsere Vereinigung gedeiht, ist es ein Kleines, ihn durch Prozente vom Umsatz zu entschädigen und ihm auch Miete für das Lokal zu bezahlen. Habt ihr sonst noch etwas zu fragen?«
»Bravo! Fritzsche!« ruft es aus der Versammlung heraus. Händeklatschen und Beifall zeigen, daß diese Lösung befriedigt.
Herr Wagner spricht weiter:
»Meine Freunde und Kollegen, nachdem Fritzsche euch und uns solches Vertrauen erwiesen hat, ist es recht und billig, daß auch wir ihm unser Vertrauen beweisen. Ich schlage vor, daß sich die Mitgliedschaft solidarisch für dieses geliehene Kapital haftbar macht, wie es die Schuhmacherrohstoffgenossenschaft auch getan hat. Wer dafür ist, erhebe seine Hand!« Fast einstimmig wird dieser Vorschlag angenommen. Nun wird von Herrn Vogel die Wahl des Vorstandes angesagt. Er schlägt Fritzsche als Geschäftsführer vor. Da sich niemand meldet, steht er auf und ruft mit starker Stimme: »So nehme ich an, daß Herr Buchbindermeister sein Amt mit dem Vertrauen der Versammlung übernimmt.«
Im allseitigen Beifall sieht Fritzsche auf, dankt der Versammlung und sagt:
»So schlagen wir euch noch vor, als Vorsteher und Kontrolleur Herrn Färbermeister Vogel zu wählen. Wer für Herrn Vogel ist, siehe auf!«
Über dreiviertel der Anwesenden sind einverstanden.
Nachdem Herr Vogel sich bedankt hat, schlägt er für das Amt des Schriftführers Herrn Friedrich Wagner vor; es ergeht keine Einwendung.
Der Schuhmacher Stolle erhebt sich:
»Werte Anwesende! Ich konstatiere, daß der Vorstand zu allseitiger Zufriedenheit gewählt ist und daß die Herren die Ämter annehmen.«
Der Vorstand steht auf, Vogel macht eine Verbeugung und sagt:
»So hoffen wir, dem Wohl der Mitglieder zu dienen. Ihnen lege ich ans Herz, auf das nötige Eintrittsgeld, zehn Silbergroschen zu sparen und für die Genossenschaft zu werben. Alles Weitere erfahren Sie aus den Zeitungen.«
Der Wirt und seine Helferin tragen Bier heran; von den Tischen der Jungen schallt ein Rundgesang. Bekannte setzen sich zu kleinen Gruppen zusammen. Einige Eiferer und Neugierige scharen sich um den Tisch des Vorstandes, hören Zahlen und Summen mit einer Andacht an, als ertönte dort eine herzbezwingende Musik. Es ist ein Lärm, wie nach dem Schützenfest. Fast ungesehen von den meisten ist ein Herr gekommen, hat sich durch die Tischreihen gezwängt und sieht auf einmal vor Herrn Fritzsche. Er reicht ihm die Rechte, legt ihm die Linke auf die Schulter und sagt:
»Lieber Freund und Kamerad, ich kann Euch von Herzen gratulierenl«
»Danke! Ich danke Euch!« sagt Fritzsche. »Doch mir nicht allein gebührt die Ehre und der Ruhm, sondern ich teile ihn freudig mit den Mitarbeitern, den Freunden und Kameraden, besonders aber mit dem verehrten Kollegen Paule, dem doch wohl der Löwenanteil gebührt! Bitte, Herr Doktor Bernhardi, die Kameraden dort!«
Wieder schüttelt der Doktor die Hand des Buchbinders und sagt: »Was? Nicht Ihr allein seid der Vater dieses Kindes, das soeben das Licht der Welt erblickte?«
»Aber, Herr Doktor, wie soll ich allein die Ehre auf mich nehmen? Die Vaterschaft an diesem stattlichen Wesen kommt gleicherweise der tätigen Hilfe und Mitarbeiterschaft der Freunde zu; ich habe nur, wie diese Männer, mich in den Dienst der öffentlichen Sache gestellt. Darum nehme ich die Gratulation im Namen meiner Freunde an!«
»Zum Teufel, Fritzsche! Wovon, von welchem Kinde redet Ihr denn?« schreit der Doktor; er lacht, daß ihm der Zwicker von der Nase fällt.
»Ich rede von der soeben stattgefundenen Gründung der Lebensmittelgenossenschaft!« sagt Fritzsche und kommt sich zum erstenmal in diesen Tagen wirklich ein wenig wichtig vor.
»Und ich rede von dem kleinen Mädchen, Tochter einer gewissen Frau Juliane, das soeben das Licht der Welt erblickt hat!« sagt der Arzt.
»Hoch leben sie beide! ruft Paule und schwenkt sein Glas.
Die ganze Versammlung stimmt freudig ein in den Ruf und sitzt noch lange zusammen.