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Siebentes Kapitel

Das Eilenburger Volksblatt hat schon manche überraschende Nachricht in die Bürgerhäuser getragen. Wer die kleine Anzeige zufällig übersehen, der wird sehr bald von seinen Bekannten aufmerksam gemacht, daß der Buchbindermeister Fritzsche zu der Gründungsversammlung einer Lebensmittelassoziation auf den 18. April in Kriegers Gasthof in der Badergasse einberufen hat. In den Krämerläden hören die Frauen über Fritzsche und seinen Verein viel höhnische und spöttische Worte. Die Gründungssucht der Eilenburger sei einfach eine Narretei. Schlimmer noch, eine neue Methode, den Bürgern ihre Zeit zu stehlen und den Saalbesitzern Kundschaft zuzubringen. Man solle den Phantasien und Narren Fritzsche doch einfach mit den törichten Konsorten sitzen lassen.

In allen Gasthäusern, Schenken und Kramläden wird so heftig über diese Sache gesprochen, daß auch die Leute, die keine Zeitung bekommen, genau wissen, daß am 18. April in Eilenburg etwas Neues geschieht. Es ist so viel Spott und Hohn über die Einberufer verbreitet worden, daß mancher den Weg zum Meister selber wagt und sich Rat und Auskunft holt. So gern Meister Fritzsche die Bürger für das Unternehmen interessiert, dies ist ihm doch zu viel. Er ist kaum noch imstande, die Pappkästen für den Doktor, die schon geschnitten liegen, fertig zu machen. Er muß sie bis zum 18. April abliefern, denn er braucht das Geld dafür. Überdies muß er noch die Paragraphen des Statuts mit Herrn Wagner bearbeiten.

Große Sorge macht ihm das Betriebskapital. Er muß mindestens 100 Taler Bargeld haben. Er geht zu seinem Schwiegervater und zu anderen Verwandten. Er bekommt 45 Taler zusammen. Als er mit dem Geld nach Hause kommt und es auf den Tisch hinzählt, kommt seine Frau hinzu.

»Liebe Juliane, 100 Taler muß ich haben, was hast du noch im Notstock?« Frau Fritzsche geht in die Schlafkammer und legt ihm 70 Taler auf den Tisch. Davon zählt er 55 Taler ab. Herr Wagner ist über die Zählerei hereingekommen und besieht staunend die große Summe:

»Das wollt Ihr der Genossenschaft als Betriebskapital anbieten? Wißt Ihr auch, daß sie keine Sicherheit leisten kann?«

»Das ist die Hauptsache, ich habe das Vertrauen! Nebenbei, wir brauchten das Vierfache; ich hoffe, auch das kommt zusammen!« Fritzsche übergibt das Geld Herrn Wagner.

Nun muß er mit Ottokar Glubsch sprechen, ihn über den Betrag des einzelnen Mitgliedes fragen. Was kann ein armer Handwerker und wieviel ein Arbeiter abspleißen? Darum muß man schon die Gründung hinausschieben, weit hinaus, damit die Leute sich ein wenig sparen können, um die von ihm vorgeschlagenen zehn Groschen Eintrittsgeld zur Hand zu haben. Außerdem müssen sie Bargeld zum Einkaufen bereithalten. Es sind nicht viele unter den armen Leuten, die gänzlich ohne Schulden stehen. Darum hat er als ersten Paragraphen den folgenschweren Satz aufgestellt:

Ware wird nur gegen Barzahlung abgegeben.

Gerade in diesen Tagen, wo er alle Gedanken auf die wichtigen Arbeiten richten muß, laufen ihm die Leute wegen diesem Krämerschwatz ins Haus. Ihm wird klar, daß die Genossenschaft, noch ehe sie gegründet ist, grimmige, einflußreiche und skrupellose Feinde hat.

Eines Tages kommt Herr Wagner und bittet ihn, mit der Gründung noch ein halbes Jahr zu warten. Die Feindschaft der einflußreichen Leute sei zu groß.

»Was würden wir tun, wenn sie uns mit aller Macht angreifen? Wir sind doch machtlos!«

»Machtlos? Wir?« sagt Fritzsche und haut auf den Tisch. »Sagen, was wir tun werden? Nein, das kann ich nicht! Aber – Moment? Das werde ich Euch zeigen!« Er geht an einen Schrank, wirft Pappe und Karton heraus und kommt dann mit einem Bild zurück, welches mit Ölfarbe auf einer Leinwand gemalt ist. Nachdem er es abgestaubt hat, hängt er es an die Wand, grad über seinen Arbeitstisch. Sie treten einige Schritte zurück und sehen auf diesem Bild ein großes, unendlich weites Schneefeld, das von der kalten Wintersonne eisklar beschienen ist.

In der Mitte des Bildes hat sich eine Herde wilder Pferde versammelt. In einem dichten Kreis stehen die schlanken Stuten, eine neben der andern; inmitten dieses Kreises stehen zitternd die Füllen. Die Mütter beruhigen mit streicheln und lecken die Jungtiere, denn sie sehen in der Ferne große Rudel von Wölfen herankommen. Die Hengste stehen, wie Vorposten, um diese lebendige Festung. Sie packen die blutgierigen Bestien mit ihren starken Zähnen und schleudern sie in die Luft. Einer trampelt einen niedergefallenen Wolf mit den Hufen in den Schnee. An einer Stelle haben sie die wilde Rotte nicht abhalten können. Sie ist zwischen die Hengste durchgebrochen und schnuppert schon mit roten Schnauzen an den Hinterfüßen der Muttertiere. Ehe sich einer der hungrigen Wölfe an die Füllen heranschleichen kann, schlagen die Stuten mit den Hinterbeinen aus und, wohin sie schlagen, treffen sie einen der Wölfe an den Kopf, vor den Bauch, daß sie weit über den Schnee fliegen und von den Hengsten zertrampelt werden. Innen, im Kreis, stehen in der Hut der Mütter, im Schutz der Väter, die Tierkinder; sie hören wohl das Heulen der wilden Bestien, den Todesschrei der Zertretenen.

Prachtvoll hat der Maler die roten Schnauzen der Wölfe, ihre gierigen Zungen, die bläkenden Gebisse gemalt. Prachtvoller noch die schmetternden Hufschläge der sich wehrenden Stuten; am schönsten jedoch die dahinstürmenden Hengste, die ihre Feinde im Maul in die Höhe stemmen, niederschlagen, zertrampeln und zertreten.

»Dieses Bild hat mir ein Buchbinderkollege gemalt, der im sagenhaften Rußland war und viele seltsame Dinge gesehen hat. Er hat sicher nicht gewußt, daß mir dieses Bild noch einmal Mut und Kraft geben würde.«

Wagner lacht den Meister an; sie geben sich die Hände. Jetzt weiß Wagner, was getan werden muß.

Am 17. April ist alles vorbereitet, die Handwerkervereine wollen ihre Vertreter entsenden, die Arbeiter haben zugesagt. Fritzsche wartet auf Paule, er hat ihn nicht mehr gesehen; von den Arbeitern hört er, daß er abends in den Gasthäusern gewesen ist, und sich mit ihnen unterhalten hat. Nun geht Fritzsche ins Schmiedehaus hinüber. Er muß doch wissen, ob er den Vortrag hält.

»Ach, dies Kreuz mit dem Jungen«, sagt die Mutter, »ich seh ihn nur ein paar Stund über Tag, wann er jetzt wieder nach Haus kommt, kann ich nicht sagen. Kein Tag vergeht, da er nicht bis zehn, elf Uhr schläft. Dann kommt er mit Singen die Stiegen hinunter. Er ist wohl betrunken, denk ich, nicht doch, nüchtern ist er, nur lustig! Wie oft habe ich ihm gesagt: »Geh' doch zum Nachbar Buchbinder, er wartet auf dich!« – »Hö!« lacht er dann, »Fritzsche und die Kollegen brauchen mich nicht, die haben klügere Köpfe!«

Fritzsche geht heim. Er schickt den Lehrjungen zum Doktor Bernhardi; bald kommt der mit dem Bescheid zurück, daß der Doktor zu Hause sei und ihn vor der Sprechstunde erwarte.

Beim Mittagessen ist Fritzsche einsilbig. Er denkt an den Schmiedesohn. Zwar hat sein Artikel, der vor vier Wochen erschienen ist, mächtig die Trommel gerührt, doch nur bei den Handwerkern, die sich lange schon für die Sache interessierten. Fritzsche will, daß Paule bei der Versammlung sein soll; er weiß, wie es die deutschen Arbeiter in Amerika gemacht haben, muß den Leuten Mut machen. Die Angst vor den Behörden steckt dem ganzen Volk noch mächtig im Leib.

Grade, als er zum Doktor gehen will, tritt der Kanitzky ein. Er kommt mit einer Freudigkeit, als hätte er die Nachricht von einer großen Erbschaft zu bringen. Er legt dem Meister eine lange Liste vor, auf der sämtliche Spezereiwaren mit Großhandels- und Kleinverkaufspreisen versehen sind. Den Briefkopf mit der Lieferfirma hat er mit seinem eigenen, großgedruckten Namen überklebt. Mit einem Blick hat Fritzsche gesehen, daß die Einkaufspreise viel zu niedrig, die Verkaufspreise zu hoch sind; gleich schiebt er den Brief zurück und sagt: »Bluff, Herr Kanitzky!«

Nun redet der Agent von Großhändlern in Leipzig und Halle, die auf drei Monate Kredit verkaufen wollen; Fritzsche sagt ihnen gradeaus, daß die Genossenschaft nur gegen bar kaufe und abgebe. Denn sie würde nur bei Produzenten direkt kaufen, dabei brauche kein Vermittler seine Finger hineinzustecken.

»Nur gegen bar?« fassungslos starrt der Agent den Meister an.

Der Lehrjunge kommt. Fritzsche lädt ihm die Pappkästen für den Doktor Bernhardi auf die Schubkarre und bedeckt sie mit einer Zeltplane. Der Agent sieht, daß er überflüssig ist und geht.

Beim Doktor erfährt Fritzsche, daß Paule verschiedentlich bei ihm war und daß sie über die Presse und auch über die Genossenschaft viel gesprochen haben, leider kann der Doktor nicht zur Versammlung kommen; er bedauert es; er will später bei den abendlichen Beratungen hinterher gern mit Rat und Tat behilflich sein.

Nun melden sich schon wieder Patienten im Wartezimmer; der Doktor bezahlt dem Meister die Rechnung. Er wünscht ihm nochmals viel Glück zur Versammlung und bittet, die Erschienenen von ihm zu grüßen.


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