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Es ist ein heißer Tag im Juli. Auf dem Straßengraben vor der Fabrik sitzen die Arbeiterkinder, zwischen den Knien einen Beutel oder ein Körbchen; sie tragen den Vätern das Essen zu. Die Augen stieren durch die Sonne, auf die weiße Dampfwolke, die über dem Dach in harten Stößen pufft. Solange der Dampf in solch dickem Geklumpe hochstiegt, sind die Webmaschinen noch nicht abgestellt, wird das Tor nicht aufgemacht. Nun kommen auch einige Frauen und alte Mütterchen, an 40 Essenträger warten schon. Die Alten hocken im Schatten der Chausseebäume, die noch von anno tobak stehen geblieben sind. Die Jungens haben auf das Gepuffe der großen Maschine einen Reim gefunden und singen ihn in monotoner Eintönigkeit:
»Degenkolb, zohlst nur holb, Degenkolb, zohlst nur holb!« Unermüdlich, wie Bienensummen und Gesirre der Heuschrecken: »Degenkolb, zohlst nur holb!«
Schwarz liegen die Dächer in der Sonne, ein vielgestaltiger Bau, ineinandergeschachtelt hoch und tief, alte und neue Betriebe.
Der Heizer Glubsch klettert auf das Kesselhausdach, er steigt die eiserne Leiter zum Wasserbassin hoch, hakt die Schwimmerkette neu ein. Er sieht es, dieser Haken ist losgeschlagen worden; wenn er nicht an der langen Pumpzeit gemerkt hätte, daß da oben etwas in Unordnung sein müßte, wäre das Wasser übergelaufen und die Stücke, die unten lagern, durchnäßt worden.
Glubsch sieht über die Fabrikdächer hin und sieht in das Tal der Mulde. In der Ebene weit leuchten die gelben Kornfelder, der rote Klee, der grüne Wald unterm silberblauen Himmel.
Da hört er wieder den durchdringenden Ton. Der kommt vom Websaal her. Glubsch hat keine Ruhe, er steigt hinunter und trifft den Webmeister, der aus der Schlosserei mit einer neugefeilten Kurbel kommt.
»Ist was los Meister?« ruft ihn Glubsch an.
»Seit Stunden junkt und jault das Lager«, sagt verdrießlich der Meister. »Schon dreimal hab ich den Leuten gesagt, sie sollten nachsehen; ich hab' auch soviel Zeit nicht, mich darum zu kümmern, Glubsch! Die Leute sind rabiat, wohin ich komme, fällt eine Kiste um, schlägt ein Kettenbaum auf die Erde. Ich sag dir's, es ist was los. Hüt dich, Glubsch!«
Der Heizer geht in die Weberei, sieht mit einem Blick rund: an der langen Wand qualmt ein Lager, natürlich, es ist heißgelaufen. Als er an die ersten Stühle kommt, brüllen ihm Weber und Spuljungens entgegen:
»Stell deine Karre ab. Glubsch, es ist Mittag!«
»Noch zwei Minuten!« ruft Glubsch durch das Geklapper der Stühle, »aber, schmeißt den Riemen ab, denn die Achse läuft heiß!« Der Betriebsleiter kommt mit dem Färbermeister. Die Gesichter der Weber hängen über den Kettbäumen, das Kreischen ist jetzt lauter als das Geräusch der Schläge auf den Spulen, doch niemand kümmert sich darum.
»Wenn Ihr den Riemen nicht abschmeißt, mach' ich das Tor nicht auf, hier soll was aufgesteckt werden!« schreit der Betriebsleiter mit einer Stimme wie ein Feldwebel; umsonst, nicht ein Auge sieht auf, nicht ein Ohr hört hin.
Der Betriebsleiter geht und kommt nach einigen Augenblicken mit Herrn Degenkolb zurück. Herr Degenkolb schreckt auf: Pfiffe gellen. Herr Degenkolb hat seit zwei Jahren diesen Pfiff nicht gehört, es ist der Pfiff der Revolte. Aus den weitesten Ecken wird Antwort gegeben. Da heult das große Doppelhorn auf dem Dach des Heizraumes, die Maschine geht langsamer. Die Achsen rollen aus, die Webstühle werden abgesetzt, das kreischende Pfeifen des Achsenlagers erstirbt, wie ein Mensch, der seinen letzten Hauch ausstößt. Es ist Mittag. Die Arbeiter gehen hinaus.
Herr Degenkolb horcht.
»Haut ihn!« Eine fürchterliche Stimme schlägt über, »haut ihn!« drei, zehn Stimmen zugleich stoßen diesen Ruf aus, »haut den Schmidt, den Antreiber!«
Auf der langen Hofstraße tobt das Schreien, und Brüllen. Der Betriebsleiter, erregt und blaß, schreit:
»Hierbleiben! die Weber!« Die Weber gehen weiter und lachen. Glubsch sagt zum Betriebsleiter:
»Schmidt soll zum Herrn in die Weberei kommen!« Glubsch geht zu seiner Frau, die ihm den Essentopf reicht:
»Geh nur wieder heim!« rät er ihr, »hier ist heut was los, ich eß im Kesselhaus.«
»Mußt Mittag durcharbeiten?« fragt sie sorgenvoll.
»Wie immer!« Glubsch klopft ihr auf die Schulter, nickt ihr zu und geht in die Fabrik.
Der Betriebsleiter ist zu Herrn Degenkolb gegangen, ein wenig beschämt, weil seine Autorität nicht Gewalt genug hat.
»Bestrafen müßte man sie alle, ohne Ausnahme, alle!« sagt er; ehrerbietig steht er vor Herrn Degenkolb, hält die Mütze in der Hand.
»Nein, auslaufen lassen, Schmidt, auslaufen lassen! Wenn die Leute was wollen, schicken Sie sie zu mir auf's Büro, ich komm auch herunter, wenn's not tut! Gewalt ist zwecklos! Drohungen sind überflüssig! Wenn wir nur wissen, was sie wollen, dann werden wir mit ihnen schon fertig!«
»Haben nichts zu wollen! Haben zu müssen! Ich muß auch!« sagt der Betriebsleiter und stockt einen Augenblick, »da hör ich sie im Kesselhaus bei Glubsch reden, ich will einmal lauschen!«
Eben hat er den Kopf in die Tür gesteckt, da fliegt ihm auch schon ein Scheit Holz entgegen, die Tür prallt zu und der Betriebsleiter ist draußen. Er läuft zu Herrn Degenkolb und sagt heiser:
»Dürfen wir uns so was bieten lassen?«
»Ich bin auf dem Kontor!« sagt Herr Degenkolb, zuckt die Achseln und geht.
Im Heizraum, dessen Tür sich hinter dem Betriebsleiter verschlossen hat, steht ein Weber und schreit:
»Einmal muß die Quälerei ein Ende haben! Es geht nicht mehr! Entweder hau ich alles kaputt oder sie können mich kaputthauen! Es muß was gemacht werden!« Der Weber läuft, wie ein Besessener, durch den Heizraum. Er greift einen Holzknüppel, haut ihn auf die Fellbank, daß die Werkzeuge hoch aufspringen, brüllt und schreit immerzu: »Totschlagen! Totschlagen!«
Glubsch geht an seinen Kessel, nimmt die Schaufel, schwingt sie über dem Kopf des Webers und sagt mit lauter Stimme:
»Raus! Raus! Der Aufenthalt im Kesselhaus ist verboten!«
»Was? Was? Wer schlägt dort, wer verbietet?« Zehn, zwanzig Männer kommen ins Kesselhaus, sie schwingen ihre Eßnäpfe und umringen die beiden:
»Ruhig! Wir stehen auch für dich ein! Ruhig, dir soll keiner was tun!«
»Stell den Knüppel hin und nimm den Löffel!«
Die Kollegen reden aus den Wütenden ein. Auch Glubsch stellt seine Schaufel in die Ecke. Da kommt Bittkow an, er hat seinen Essentopf vom Wärmeofen geholt und stochert mit dem Löffel in ihm herum. Enttäuscht ruft er:
»Verdammt! Nun hab ich meinen Kartoffelsalat angewärmt, ich meint, es wären Feldhühner gewesen!«
Glubsch lacht ihn aus und sagt:
»Nun ja, freu dich, daß du wenigstens Feldkartoffeln hast. Sieh da, der Kurt Micke hat nichts als eine alte Zeitung. Er liest die fettgedruckten Buchstaben, die schmälzen ihm den Hals!«
Die älteren Leute haben es sich auf Klötzen und Kloben bequem gemacht, die jüngeren auf der blanken Erde. Eigentlich ist es verboten, während der Mittagszeit sich im Kesselhaus aufzuhalten. Glubsch läßt sie aber heute in Ruh.
»Verdammt, nun muß ich noch das Lager nachsehen«, sagt er laut über die Köpfe hin, »warum habt Ihr kein Öl daran getan?«
»Glubsch, du kümmerst dich heut mal nicht um das Lager!« ruft der alte Bettke, »die Geschichte mit dem Lager mach' ich in Ordnung! Das soll solange pfeifen und kreischen, bis Herr Degenkolb es in seinem Kontor nicht mehr aushalten kann. Das soll trockenlaufen, bis es verbrennt!«
»Eure Sache!« meint Glubsch und schüttelt den Kopf. Er hat seinen Napf zwischen den Knien und löffelt den Haferbrei. Ein Halbwüchsiger blinzelt ab und zu gegen ihn. Glubsch merkt, der Junge beneidet ihn um die Speckstückchen, die er gelegentlich herausfischt und mit einem Stück Brot genießerisch kaut. Glubsch fühlt die Augen auf seinen Händen wie heiße Sonnenstrahlen brennen. Er nimmt die große Speckschwarte, die noch am Boden des Topfes liegt. Legt sie zwischen zwei Brotscheiben und reicht sie dem Jungen. Der alte Bettke hat es gesehen, er geht zu dem Jungen, haut ihm das Brot aus der Hand und tritt die Speckschwarte unter die Feilbank. Dann schreit er den Kleinen an:
»Verflucht und verdammt, was hab ich dir gesagt: ›Brülle mit‹, hab ich gesagt! Aber, wenns drauf ankommt, hältst du das Maul! Wenn der Betriebsleiter kommt, machst du Augen wie ein neugeborenes Kalb!«
Der Junge holt die schmutzige Schwarte unter der Feilbank weg, der Alte tritt ihm auf die Hand.
»Hunger hab ich!« sagt der Junge, »laß sie mir doch!«
»Sag das Herrn Degenkolb, nicht uns!« ruft der Alte, reißt ihm die Schwarte aus der Hand und wirft sie ins Kesselfeuer.
»Herr Glubsch«, entschuldigend naht der Junge sich dem Heizer, »ich hätt sie so gerne gegessen!«
»Ich bin kein Herr!« sagt Glubsch, »der Herr ist zu Halle in die Scheiße gefallen!«
»Wir alle würden gern Speck fressen, wir haben bloß ...« sagt Bettke.
»Kartoffelsalat!« ruft Bittkow, lacht und stößt den Löffel in den Topf.
»Verdammt, hat die Alte das Öl dran vergessen!«
»Such dir ein paar dicke Schnecken, so recht fette, rote, Paderbörner mit Kreuzen auf dem Rücken! Was meinst du, was die dir die verrostete Kehle hinabglitschen!« rät ein anderer.
»Mensch, das ist doch ne Delatesse! Bei Mitscherlich haben die Meister das Staufferbüchsenfett wegschließen müssen! Das schmierten sich die Weber aufs Brot. Da sagt der Meister: ›Dies Staufferfett ist aus den Kadavern von solchen Pferden und Kühen geschmolzen, die am Milzbrand kaputtgegangen sind.‹ ›Ihr habt gut reden‹, sagen die Weber, kratzten aus allen Staufferbüchsen die Reste und taten sie in die Essenskessel. Damit haben sie zu Haus die Kartoffeln braten lassen. Nun glaubt Glubsch, er könnte mit seiner Genossenschaft bessere Verhältnisse schaffen?«
Glubsch geht hinaus. Er kann diese bitteren Gespräche nicht hören. Er weiß, überall, wo die Arbeiter zusammensitzen, da wird die traurige Lage besprochen. Draußen hat er keine Ruhe. Er möchte helfen, aber mit den schönen Reden kann er das nicht. Er will Hoffnung säen, aber er erntet nur Enttäuschung. Er kommt zurück, setzt sich auf seinen Feilbankplatz.
»Ich bin bald so schlapp, daß ich mich selber nicht mehr tragen kann«, sagt der alte Bettke, »wie soll ich da noch Arbeit leisten können? Das geht Tag um Tag schwerer, ich brauch für den Weg von zehn Minuten schon eine halbe Stunde, bald ist es mit mir zu Ende, dann lieg ich zu Haus, den Kindern zur Last und muß mich treten lassen. Hier steh ich wenigstens keinem in den Füßen!«
Glubsch steht auf, langsam, wie ein Mensch aus dem Schlaf sich erhebt. »Kollegen, was sollen wir denn tun? Wir sind noch jung, aber der Bettke ist alt. Nun, was sollen wir tun? Redet!« Er geht langsam mit hängenden Schultern an die Uhr. Neben der Tür hängt ein Draht vom Dach herunter. Er wartet, bis der Zeiger genau auf eins sieht dann zieht er an dem Draht. Ein gurgelndes Röcheln knurrt, fauchendes Zischen, dann tönendes Heulen, und mit einem machtvollen Einsatz braust ein Doppelton aus dem Dampfhorn, daß die eisernen Gegenstände im Kesselhaus mitzittern. Die Fensterscheiben schwirren, der ganze Raum hat sich mit Brausen gefüllt. Glubsch zählt bis zwanzig, dann läßt er den Draht los, der Dampfhahn schnappt wieder zu und nur das Echo schallt zurück.
»Arbeiten! Das sollen wir tun! Das ist ja deine Antwort! Arbeiten sollst du, Arbeiterpack! Ob du satt bist, danach fragt keine Sau! Mittagspause: Hungerpause!« so schreit der alte Bettke dem Heizer ins Gesicht und niemand hat ein Wort für den Alten.
Mann an Mann geht hinaus. Bald ist Glubsch mit Bittkow allein.
Glubsch geht ins Maschinenhaus, dreht das große Ventil auf und läßt den Dampf auf den Kolben gehen, der Dampf stößt die Stange in die Höhe, der schwere Balancier, der am entgegengesetzten Ende die Pleuel bewegt, neigt sich, sinkt, hebt sich wieder und fängt an zu schaukeln, wie der Balken, den die Kinder zu einer Wippe über den Bock legen; die wippende Bewegung wird durch die Kurbel in eine drehende verwandelt und das Wunder der Maschine ist ein sausendes Schwungrad, sind verbindende Riemen, drehende Achsen, rollende Bänder, Webstühle, Roleaux, Waschmaschinen, Spülbänke, Spindeln.
»Lauf, alte Karre!« sagt er, als er die Zylinderhähne der Dampfmaschine schließt.
Da beginnt die Achse im trockenen Lager zu knirschen, sie gellt durch das Toben der Webstühle, das Rasseln des Balanciers, durch das Rauschen des Dampfes. Der Heizer wirft Holzscheite auf die Glut des Kesselfeuers, Bittkow bringt neue Kloben heran. Der Betriebsleiter stößt die Tür auf; sieht sich vorsichtig im Heizraum um und schreit:
»Nun? Ist das Lager immer noch nicht fertig?«
Glubsch knallt die Feuertür zu, winkt den Betriebsleiter zu sich. Der kommt langsam, Glubsch geht ihm entgegen und sagt:
»Freundchen, erst habt Ihr die Weber rebellisch gemacht mit Eurer Schnauzerei, Euren Treibereien, jetzt habt Ihr Angst vor ihnen, vor den armen braven Leuten! Ihr wollt nicht mal hinein zu ihnen. Auch der Schlossermeister geht nicht! Da soll ich wohl wieder dran! Behandelt die Menschen anständig!«
»Herr Degenkolb wird Euch helfen, auch noch aufsässig zu werden!« sagt der Betriebsleiter und verschwindet.
Glubsch kann das Schreien der malträtierten Achse nicht länger anhören, er geht in die Weberei, stellt sich vor das Lager und besieht den Schaden. Gleich fährt ihn der alte Bettke an:
»Die Achse läuft trocken, bis Herr Degenkolb selber Öl daran macht!«
»Eure Sache!« sagt Glubsch. »Ehe es aber Brand gibt, schmeiße ich den großen Riemen ab, Eure Webstühle stehn still und Ihr verdient nichts!«
Als Glubsch wieder bei der Feuermaschine sieht, kommt der Schlossermeister.
»Ich geh zu Herrn Degenkolb«, sagt er bedrückt, »ich geh gleich! Als ich durch die Wäscherei komme, da sehe ich, wie die Leute das gute, reine Wasser aus dem oberen Bassin in den Abfluß laufen lassen! Glubsch, die ganze Bude stinkt nach Sabotage und Resistenz! So können wir nicht weiter! Weißt du auch, daß du schuld dran bist, du und dein Verein? Nun haben sie gesehen, was Ihr da mit Eurem Zusammenschluß gemacht habt, gleich wollen sie auch was machen. Hast du wieder schlimm geredet? Du meinst es nicht so, aber es wirkt wie Wasser in gebranntem Kalk, es macht Hitze!«
»Kalk, Wasser und Sand dazu, das gibt erst guten Mörtel!« sagt Glubsch. »Bestell das auf dem Kontor! Ich weiß es besser, die Weber kriegen für die schlechte Ware denselben alten Akkord, sie können nichts dran verdienen. Darum sind sie rebellisch!«
Der Schlossermeister geht; im Hof trifft er mit dem Betriebsleiter und Herrn Degenkolb zusammen. Nach einigen Minuten kommt Bittkow mit einer Karre Holz. Glubsch hört ihn: »Achtung!« brüllen, doch schon ist er dem Betriebsleiter, der auf Herrn Degenkolb einredet, in die Rippen gefahren. Glubsch sieht die Drei zur Weberei gehen.
»Bittkow«, sagt er zu seinem Helfer, »bleib mal hier, ich will mal ein wenig laustern gehn!«
»Na, glaubst wohl, mir würd's keinen Spaß machen, wenn der freche Schmidt eins in die Schnauze kriegt!« sagt Bittkow; Glubsch hat es nicht gehört, er ist schon in der Weberei. Die Achse heult, der Qualm stinkt durch den ganzen Saal; Herr Degenkolb geht voran, hinter ihm der Betriebsleiter, dann der alte Schlossermeister Münster. Die Weber sehen nicht auf, der alte Bettke, der seinen Stuhl abgestellt hat, starrt in's Riet, nun stehn die Drei an dem rauchenden Achslager.
»Abstellen!« sagt Herr Degenkolb, »Schmidt, schicken Sie doch zur Maschine!« Der verlegene Betriebsleiter sagt zögernd:
»Wen soll ich schicken? Es geht ja keiner, wenn wir es ihm auch befehlen! Schon den ganzen Morgen hab' ich gesagt: ›Macht das Achslager in Ordnung!‹ Ungehorsam! Und dabei wollen Sie ja nicht, daß ich die Kerls hinausschmeiße!«
»Mensch, Schmidt, wenns nach Ihrem Willen ginge, hätten wir längst Streik und Aufruhr! Was haben Sie aus den braven Leuten gemacht? Dann gehen Sie doch selber und stellen die Maschine ab!« befiehlt Herr Degenkolb.
»Was sollen die Leute von mir denken, nein Herr, ich muß Gehorsam von den Leuten verlangen!« zetert der Betriebsleiter.
»Gut, dann mach ich es!« sagt Herr Degenkolb und will in den Maschinenraum. Da kommt Bettke, der alte Weber, und stellt sich ihm entgegen, die Mütze in der Hand, wie es sich gehört:
»Herr Degenkolb, warum soll die Achse nicht noch ein paar Stunden so weiter laufen? Kann der Herr das eklige Gekreisch nicht vertragen? Oder stinkt die Schmiere zu sehr? Oder hat der Herr Angst vor einem Brand? Hundert Lager laufen in der Fabrik, nur das eine kreischt, weil es ohne Öl läuft. Kann das Herr Degenkolb nicht anhören? Nicht für fünf Minuten, für fünf Stunden? Herr! Herr, hört doch! Lauft nicht fort! Dem Lager fehlt nur so viel Öl, als in diese hohle Hand geht, Herr, es ist doch nur ein eisernes Lager und eine Achse. Hat der Herr schon mal gehört, wie Kinder vor Hunger heulen, wie die Weiber kreischen, wenn das Geld auf ist? Herr, wir arbeiten so gut wie die Achse und das Lager und alle Maschinen; aber uns fehlt auch soviel Öl, als in diese hohle Hand geht! Wir braten unsre Kartoffeln ohne Öl, wir kochen unsre Suppe ohne Fett, wir schmieren unser Brot mit kaltem Grützebrei, anstatt Schmalz und Butter, Herr! Seit vielen Jahren hören wir unsre Kinder heulen, unsre Weiber kreischen. Wir müssen sagen: ›Heult nur, das legt sich!‹ Die Kinder hören von selbst auf, wenn sie müde sind, den Weibern schlagen wir eins aufs Maul. Herr, da kommt kein Herr Schmidt und gibt uns Fett und Öl und Butter. Warum hört die Achse nicht zu heulen auf? Der Achse und dem Lager kann man in die Fresse schlagen, soviel man will, sie heulen, bis sie Öl kriegen. Herr, wir tun das gleiche, wie die Achse. Wir heulen auch, bis es Öl gibt. Wir heulen vor Hunger!«
Dieses Wort ist von den Webern der nächsten Stühle verstanden worden, weil Bettke es herausgeschrien hat; ein Junge stößt einen Pfiff aus und nun stellen alle auf einen Hieb die Stühle ab, nur noch das Lager heult. In Schreien und Brüllen tobt der ganze Saal. Herr Degenkolb legt dem Alten die Hand auf die Schulter und will etwas sagen, da strömen die Arbeiter zusammen und stellen sich im Gang zuhauf. Das Schreien hört auf, nur einzelne, gellende Pfiffe lassen Herrn Degenkolb zusammenzucken. Da stoppt die Maschine ab und mit einem gräßlichen Ausklang erstirbt der Ton des Achslagers. »Herr, gleich wird der Schlosser kommen, das Lager aufschrauben und abkühlen, er wird tüchtig gutes Öl hineinschmieren und das Schmierglas füllen. Herr, dann ist der Achse und dem Lager ihr Recht gegeben. Herr wer gibt uns recht? Wer schmiert die hungrigen Mäuler unserer Kinder? Wer versorgt die kreischenden Weiber mit Fett? Sind wir weniger als Maschinen?«
Herr Degenkolb fährt sich über die Stirne, ballt die Fäuste und ruft über die Menge her:
»Leute, das könnt Ihr mit mir machen! Ihr wißt, daß ich ein Ohr und ein Herz für Euch habe, aber ich habe keine Gewalt, diese Welt zu ändern. Ich habe diese neue Ware in Lohn zu weben angenommen, es ist weder mein Schuß noch meine Kette. Sie ist schlecht, die Ware, sie verarbeitet sich noch schlechter, als man vorher annehmen mußte. Ich werde den Vertrag zu unsern Gunsten zu ändern suchen, ich zahl Euch nach, was dabei herauskommt. Leute, wir haben auch bessere Ware gemacht, da habt Ihr mehr verdient, da hab ich auch nicht abgezogen. Ich will versuchen, eine Ausgleichskasse einzurichten, damit Ihr jede Woche euren festen Lohn habt. Tu ich nicht schon mehr, als einer der Fabrikanten in Eilenburg! Kann ich mit meinen Kunden machen, was ich will? Bin ich zu teuer, krieg ich doch gar keine Arbeit. Also muß ich zu genau denselben Bedingungen arbeiten, wie meine Konkurrenz, die zahlt bestimmt niedrigere Löhne als ich Euch, verlaßt Euch drauf! Ich weiß das ganz genau, Leute, ich kann es Euch bloß sagen, ich tue, was ich kann! Tut Ihr, was Ihr nicht lassen könnt, laßt die Webkarren stehn oder arbeitet, geht nach Haus oder bleibt hier! Feiert oder schafft! Wenn einer Unglück in der Familie hat, der kann zu mir kommen, ich kann für den einzelnen Rat schaffen, aber nicht für alle!«
»Schmeißt den Treiber raus! Der Kerl von Betriebsleiter hats verpfuscht!« ruft einer der Arbeiter, »raus mit ihm, der ist schuld!«
»Betriebsleiter raus! Schmidt raus!« »Kennt nichts von Ware und Weben, der Schinder!« Viele Stimmen riefen durcheinander.
»Ich habs Euch schon einmal gesagt, bringt mir einen Besseren. Er versteht seine Sache!« sagt Herr Degenkolb.
»Ihr auch!« schreit der Jüngere.
Herr Degenkolb geht. Die Weber machen ihm die Bahn frei, ein großer, bärtiger Mann folgt ihm und hält ihn an der Tür mit guten Worten an:
»Dem Bettke, Herr, geht es nicht gut, tut was für ihn!«
»Jeder kann zu mir kommen, hab ich gesagt, auch Bettke, selbstverständlich!« erwidert Herr Degenkolb.
Der Bärtige spricht weiter:
»Er ist zu stolz, er kann es nicht. Ich bin sein Nachbar!«
»So kommt Ihr zu mir!« sagt Herr Degenkolb, »ich weiß, er ist ein Radikaler, gut –«
Es schallt aus der Menge:
»Klugscheißer, Arschkriecher, Liebediener!«
Herr Degenkolb geht, der große Bärtige wird beschimpft.
»Und Ihr, was macht Ihr jetzt?« sagt er zu den Kollegen, »wird nun weitergearbeitet oder nicht? Soll der Nachmittag kaputtgemacht werden oder nicht? Was hat jetzt die ganze Heulerei genützt?«
»Gesagt hats ihm der Bettke, richtig gesagt! So hats ihm noch keiner gesagt!« ruft jemand. »Das hat der Bettke gut gemacht. Du kriegst so was doch nicht fertig!«
Der Bärtige ruft in den Saal hinein:
»Ich geh zum Glubsch, er soll die Maschine wieder anstellen, wir sind keine Junggesellen, die sich auf die faule Haut legen können!«
»Richtig und vernünftig!« sagt ein Weber. »Weiterarbeiten! Es hilft alles nichts!« Die Weber gehen an die Stühle, der Webmeister, der den ganzen Tag in der Passiererei war, kommt mit Glubsch und sie sehen das Lager nach. Glubsch ruft sogleich in den Saal hinein:
»Feierabend! Achse verbrannt! Morgen früh wieder in Ordnung!« Nun drängen sich die Meister um die Leiter, sie wollen es nicht glauben, daß es so schlimm mit der Achse sieht. Glubsch wirft ihnen den Lagerdeckel hinunter, löst die Schrauben vom Lagerbock und nach ein paar Minuten fliegt auch der hinunter. Die Achse ist um einen halben Zoll eingefressen, die Lagerschalen ausgeschmolzen; Glubsch ruft: »Ich muß den ganzen Lagerstuhl um einen Fuß versetzen, neue Löcher in die Wand schlagen, neu verschrauben, Lager frisch ausgießen, das ist Arbeit bis Mitternacht!«
Es dauert lange, ehe sich der Saal beruhigt hat. Eine große Anzahl Weber werken an ihren Stühlen, gehen in die Schlosserei und feilen, schleifen, ersetzen schlechtgewordene Schrauben, säubern und schmieren, solang das Taglicht scheint. Glubsch hat dem Schlossermeister das Lager zum Ausgießen gegeben. Er selber muß immer wieder an die Maschine. Ein Maurer schlägt die Löcher durch die Wand.
Herr Degenkolb kommt und besieht sich die Achse; er steht auf der Leiter und reibt mit dem Zeigefinger über die noch immer warme Stelle. Sie ist in der Breite, wo sie trocken im Lager lief, um einen Finger dick abgefressen. Eine tiefe, breite Narbe, blau und gestriemt, für alle Zeiten sichtbar, glänzt in dem geschundenen Eisen.
Herr Degenkolb fragt:
»Macht es nichts aus, daß die Stelle hier dünner ist als anderswo?«
»Nein, Herr Degenkolb, an und für sich ist es gleichgültig. Es kann aber sein, daß das Eisen von dem Glühn und Reiben krank geworden ist, eigentlich sagt man: gekränkt. Das sieht man nicht und kann man auch nicht kontrollieren. Dann bricht sie eines schönen Tages an der Stelle einfach ab!«
»Und was machen wir dann?« fragt Degenkolb weiter.
»Dann setzen wir an jedem Ende eine Kuppelung auf und schrauben die Stücke wieder zusammen!«
Der Heizer steht auf dem Gerüst und sieht Herrn Degenkolb gerade ins Gesicht. Auch der Herr sieht ihn an. Glubsch hat weiter nichts zu tun, als daß er den Schlüssel am Schraubenknopf festhält, derweilen der Maurer von der anderen Seite die Mutter festdreht. Es ist das erste Mal, daß er dem Herrn so nahe ist, das erste Mal, daß er ihm ins Gesicht sieht. Glubsch ist etwas geniert, aber er will auch jetzt den Blick nicht abwenden; er hat zuerst in dieser Richtung gradaus gesehen, erst, als der Herr die zwei Sprossen hinaufstieg, kamen die Gesichter sich blicknahe. Nun sehen sie sich schon wer weiß wie lange an. Keiner will zuerst den Blick fortwenden. Glubsch hat das Gefühl, es sind Herrenaugen, es ist ungehörig, ihnen so zu begegnen. Dann aber spürt er, der Herr will ihn mit Gewalt weggucken, er weiß, jetzt beleidigt er seinen Herrn. Einen Augenblick lang sagt er sich: Du bist der Knecht. Doch unentwegt sieht er ihm in die grauen Augen, den dunklen Stern darin, alles andere ist ihm gleichgültig. ›Mag er mich rausschmeißen, mag er seine Gewalt brauchen.‹ Er spürt eine gewaltige Überlegenheit, er sieht ihn mit den Augen Bittkows an, mit den Augen Bettkes, mit den Augen der ganzen Arbeiterschaft. Er fühlt den Schlüssel in der Hand zucken, der Maurer an der anderen Seite reißt stoßweise, Glubsch hebt, ohne den Kopf zu wenden, die linke Hand von der Leiter und bringt auch sie an den Schlüssel. Die Schultern des Heizers zucken, so reißt der Maurer an der Mutter. Ein Knall, der Schraubenschlüssel schießt voran, die Schraube ist zersprungen. Immer noch sieht er in die Augen seines Herren. Auch dann, als er die zerbrochene Schraube aus dem Mauerwerksloch nimmt. Er hält sie jetzt zwischen seine und des Herrn Augen. »Muß das immer auf Biegen oder Brechen gehen?« fragt Herr Degenkolb.
»Auf Biegen oder Brechen! Auch Menschen werden zu Eisen und Maschinen, Eisen und Maschinen kann man nicht betrügen!«
Nun sieht Herr Degenkolb den Heizer wieder an, der Heizer sieht ihn an, Herr Degenkolb hat eine Hälfte der Schraube in der Hand, besieht den Bruch, sieht den Heizer an:
»Was wird damit gemacht?«
»Schrott!« sagt Glubsch, »schlechtes Eisen! Hielts nicht aus!«
Herr Degenkolb geht die Leiter hinunter, Glubsch sieht ihm einige Augenblicke nach. Wahrhaftig, der Herr hat das Schraubenstück noch in der Hand und nimmt es mit.
»Glubsch!« redet er sich selber an, ›Ottokar, entweder kommt er dir nie im Leben mehr auf Reichweite zu nahe – oder er schmeißt dich raus!‹
Inzwischen ist der Maurer mit dem andern Teil der zerbrochenen Schraube zurückgekommen.
»Wo ist deine Hälfte?« fragt er. Glubsch nimmt das andere Schraubenstück, geht ins Kesselhaus, legt es in seinen Schrank, »wir wollen doch die Stücke zusammenschweißen!« sagt der Maurer.
»Nein!« sagt Glubsch. »Wenn die zwei Brocken wieder zusammenkommen, giebts ein Unglück. Die kannst du zehnmal schweißen, die brechen zehnmal auseinander – das ist zweierlei Eisen! Komm mit! Wir machen eine neue!«