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Zwölftes Kapitel

Herr Bürgermeister Brunner kommt vom Gericht. Er mußte eine Sache mit seinem juristischen Kollegen besprechen, mit deren Materie sich in Deutschland noch kein Beamter hat abquälen müssen. Er glaubte sich in Gesetz und Verwaltung so wohlerfahren.

Heut ist er vor eine merkwürdige Entscheidung gestellt; bisher gab es solche Fragen nicht: Handel oder?? Ja, was dann? Wenn jemand kauft und verkauft, so ist das Handel.

Die Sache Fritzsche steht zur Beurteilung. Der Mann tut das Gleiche, wie ein Händler und behauptet, keiner zu sein. Geld gegen Ware, Ware gegen Geld. Das erste nennt er einkaufen, das zweite nicht verkaufen, sondern verteilen. Der Bürgermeister hat sich vorher mit verschiedenen Fachleuten ausgesprochen. Der Richter hält für ausschlaggebend, daß beim Handel Ware gegen Geld, des Gewinnes halber, getauscht wird. Der Gewerberat hingegen findet, daß am Handel der Austausch, – und nicht der Gewinn das Ausschlaggebende sei, daß also auch die Lebensmittelassoziation ein Handelsgewerbe ist.

Unter den vielen Deutungen und Auslegungen hält Herr Brunner diese beiden als die wichtigsten fest. Da kann man in den Pandekten, im römischen und deutschen Recht, keine Erklärung finden, denn das, was die Fritzscheleute machen, das ist bisher noch nicht dagewesen. Sein Urteil schafft einen Prezedenzfall, also können fernerhin sich alle Leute, die eine Assoziation schaffen wollen und den Handel schädigen, sich auf Herrn Brunner, Bürgermeister zu Eilenburg, berufen.

Der Stadtvater Brunner, so nennt er sich selbst, hat ja kein Sonderinteresse. Ihm ist der Arbeiterstand genau so wichtig, wie der Stand der Kaufleute. Eine Bevorzugung der Händler kann man von ihm nicht verlangen; wenn das Gesetz die Besteuerung verlangt, gut, der Magistrat wird die Steuer einziehen. Das Verruchte ist wieder die Frage: Ist es ein Gewerbe oder nicht? Ehe er mit dieser Frage fertig ist, sieht er: von allen Enden rücken diese unfaßbaren Kolonnen an, erobern jedes Dorf, jede Stadt, rücken enger und enger auf Berlin zu, und dann erhebt sich in Berlin selbst die Arbeitermasse in der gleichen Form der unbegreifbaren Organisation. Jetzt muß er als Staatsmann handeln. Das Staatsinteresse steht über dem Gewerbe, über der landläufigen Moral. Nun hat sich Herr Brunner entschlossen, er wird die Sache vom Staatsgedanken aus erfassen und behandeln.

Der Weg sinkt in die Gärten hinunter. Herr Brunner tritt aus dem Schatten der Bäume in die pralle Sonne, – da qualmen und rauchen von ferne die Schornsteine. Von diesen Schornsteinen gehen seine Blicke über die Dächer der Fabriken zu den Arbeitern, die für ihn eine große Masse sind, eine Herde, die von Arbeit und Familie zusammengehalten wird. Welch ein schöner Ruheposten könnte diese Stadt sein, wenn das Pulverfaß Industrie nicht wäre! Zwar stammt der Reichtum der Stadt aus diesem Pulverfaß; doch, so sagt sich Herr Brunner, lieber arm in Ruhe, als reich in Unrast. Herr Brunner macht noch einen Umweg, er geht den Gärten zu. Nun sieht er schon das Haus des Herrn Neer; in den Obstbäumen glänzen die roten Äpfel, leuchten die gelben Pflaumen. Der Gärtner besprengt die grünen Rasenflächen. Zwei Jungen hängen an dem Balken einer Pumpe und treiben den Wasserstrahl in die Luft, der vor dem weißen Haus hellauf sprüht und in Regenbogenfarben erglänzt.

Aus dem Fenster im ersten Stock grüßt ihn Agathe Neer. Er zieht den Hut und erinnert sich der sonderbaren Szene beim letzten Essen dort. Hammerschläge lassen ihn zur anderen Seite umsehen: in der Tiefe des Gartens treibt ein Mann Pfähle in die Erde. Er schwingt einen großen Hammer, ein grünes Hemd leuchtet in der Sonne; die weißen Arme, die auf der Oberseite brandrot scheinen, recken sich hoch und reißen den Eisenklotz immer wieder auf den starken Pfahl. Herr Brunner traut seinen Augen kaum: immer noch winkt Fräulein Neer dem arbeitenden Mann zu, dieser wendet seine Augen dem Fenster hin; er hebt, wie zum Gruß, den Hammer mit dem großen Stiel hoch in die Luft, reckt seinen Körper auf und mit einem gellenden »Hohei!« reißt er den Hammer hinunter, auf einen neuen Pfahl. Herr Brunner sieht dem Spiel des schwingenden Hammers zu, der wohl hundert Schläge auf den Pfahl tut, bis dieser auf eine Handbreit nah, im Erdboden verschwindet. Dann setzt sich der Schläger auf die kleine Bank unter dem Birnbaum, holt eine Flasche aus dem Körbchen und trinkt einen langen Zug. Der Bürgermeister kann sich nicht enthalten, dem Mann ein »Prosit!« zuzurufen.

»Dank, Herr«, sagt der Mann.

»Darf man fragen, was Sie dort einzurichten gedenken?«

»Ich schlage Pfähle in die Erde, um eine Presse aufzustellen. Zwei Fuß unterm Mutterboden liegt guter Kiessand, – ich werde mit einer neuen Maschine versuchen, Steine zu pressen. Kalksandsteine, die nicht gebrannt zu werden brauchen.«

»Haben Sie die Maschine erfunden?«

»Leider nein!« Die Erfindung stammt von Herrn Doktor Bernhardi, ich habe die Maschine nur gebaut. Zöckler ist mein Name, Paul, Sohn des alten Zöckler-Schmieds.«

»Ich bin Bürgermeister Brunner; sehr interessant, was Sie da sagen! Na, soll eine neue Industrie damit geschaffen werden;«

»Vielleicht, Herr Brunner, das kann man noch nicht wissen. Es wird schon vielerlei herumgeredet, der Zweck der ganzen Sache ist, den Arbeiterstand auf dem Gebiet des Hausbaues zur Selbsthilfe anzuregen. So meint es Doktor Bernhardi!«

Der Bürgermeister ärgerte sich, daß der Mann ihn mit Herrn Brunner anredet. Das Wort »Selbsthilfe« kränkt ihn auch.

»Selbsthilfe, sagen Sie, Selbsthilfe? Das klingt ja, als wenn – nein, Selbsthilfe – ja, ja, so, Sie meinen, wenn jemand sich selbst ein Haus baut, so ist ihm geholfen?«

Der Mann lacht.

»Herr Brunner, Selbsthilfe ist nicht die Angelegenheit eines Mannes und nicht der Besitz eines Hauses, – ist der Wille eines Menschen, der sich mit Gleichgesinnten zusammengeschlossen zur gegenseitigen Hilfe.«

»Nein, Herr Zöckler, nein, da bin ich nicht im Bilde! Vielleicht werden wir uns darüber ein andermal unterhalten – ich muß jetzt aufs Rathaus, – guten Tag!«

Herr Bürgermeister geht nun schnell fort.

In seinem Amtszimmer wartet sein Sekretär auf ihn. Er hat schon die Akten zurechtgelegt. Als der Bürgermeister kommt, sieht der Sekretär auf, schließt die Tür zu und stellt sich neben das Pult. Bereit, jeden Befehl auszuführen.

»Sind die Akten Röber und Konsorten vorhanden?«

»Sehr wohl, Herr Bürgermeister. Herr Fritzsche ist auf elf Uhr hierher befohlen.«

Der Sekretär kommt mit den Papieren an.

»Wie habe ich den Brief der Kleinhändler an uns beantwortet?« Der Sekretär liest die Antwort vor und fährt dann fort:

»Dazu liegen beifolgende Anzeigen, die Herrn Bürgermeister wohl bekannt sein dürfen, – ich habe sie vorgelegt am ersten August.«

»Wovon handelt die Sache?« fragt ungeduldig der Bürgermeister.

»Herr E.E. Baumann zeigt dem Magistrat an, daß der Borstenbinder, Herr Ullrich, konstatiert hat, wie der Nachtwächter Lehmann in der Fabrik von Herrn Bodemer seine Mitgliedskarte andern Personen zwecks Einkauf der billigen Lebensmittel weggelieh ...«

»Genug, genug!« sagt der Bürgermeister, »im Bilde: da kommt noch eine Schuhmachersfrau, ein Stiefsohn derselben, ein Barbier Böhler und noch ein halbes Dutzend Übeltäter vor. Da haben wir den Händlern angeraten, uns wirkliche Gesetzesübertretungen der Fritzscheleute zur Anzeige zu bringen, jetzt kommen sie so! Wenn wir das annehmen, werden wir bald wissen, ob sich der Weber Zollnick mit der rechten oder linken Hand den Kopf kratzt. Nebenbei gehört dieser E.E. Baumann zu Röber und Konsorten?«

»Eigentlich nein! Aber der Zweck der Anzeige ist derselbe, wie der von Röber und Genossen.«

»Gut! Sollten noch mehr Beschwerden über die Fritzscheleute eingehen, so lesen Sie sie durch und zeigen mir nur wirkliche, verstanden, Straftaten! Das andere legen Sie zu den Akten! Mit Gewäsch will ich verschont werden!«

»Jawohl, Herr Bürgermeister! Sodann ist gestern die Antwort der Regierung über das Schreiben der Röber und Konsorten eingetroffen. Herr Bürgermeister müßte es zur Kenntnis nehmen, ehe der Fritzsche verhört wird. Er wartet draußen.«

»Röber hin, Konsorten her, ich hab mich jetzt lange genug mit ihnen herumgeschlagen, ich will den Fritzsche doch mal selber sehen und hören; es kommt alles auf den Mann an. Welchen Eindruck macht er?«

»Ein Biedermann, Herr Bürgermeister, genau ein Biedermann; grad, daß er, als ich ihn nach seinem Begehr frug, sehr despektierlich tat und unter Lachen: ›das muß der Magistrat doch wissen!‹ sagte. Ich wies ihn gehörig in die Schranken.«

»Und was sagte der Biedermann da?«

»Nichts, Herr Bürgermeister, nichts, er schnupfte sich in sein Tuch, ohne zu schneuzen, ich glaube gar, er lachte.«

»Also den Brief an die Regierung! Holen Sie Fritzsche heran!«

Der Sekretär verschwindet.

Der Bürgermeister liest den Brief durch und macht Notizen.

Das kennt der Bürgermeister ja schon alles. Es ist der lange Klagebrief der Kleinhändler, indem sie alles, was sie von ihren Gegnern zu hören bekamen, kontrollierbar oder nicht, der Regierung berichteten. Die Händler klagen in Merseburg auf dem Umweg über den Eilenburger Magistrat, daß ein Schankwirt Heringe, einzeln als Mitglied der Assoziation entnommen, und, statt sie selbst zu essen, sie andern Personen abgelassen hat. So geht es drei Seiten lang. Die Regierung empfiehlt dem Magistrat, dem Treiben der Assozisten die größte Aufmerksamkeit zu widmen, da die Bestrebungen der Arbeiter aus der inzwischen verbotenen Zeitschrift der Arbeiterverbrüderung »Prometheus« dieser Regierung bekannt sind. Außerdem sei den Assozisten der Verkauf von Branntwein gänzlich zu verbieten. Der Bürgermeister ruft dem Sekretär zu:

»Also, Herrn Buchbindermeister Fritzsche!« Indessen der Sekretär hinausgeht, blättert der Bürgermeister in den Akten und sieht auch nicht auf, als Fritzsche an den Tisch des Sekretärs geführt wird und schon eine Weile dort steht. Dann schlägt er den Aktendeckel zu und sagt: »Bitte, treten Sie näher!«

Fritzsche geht bis auf drei Schritt an den Tisch des Bürgermeisters heran, der sich erst nach einiger Zeit zu Fritzsche wendet und sagt:

»Sie sind der Buchbindermeister Fritzsche. Wir sind gezwungen, uns mit Ihnen zu beschäftigen. Seit Wochen bringen Sie die Stadt Eilenburg in Unruhe! Meines Erachtens entspringt Ihre Handlungsweise dem Wunsch, der Kaufmannschaft zu schaden. Die heute vorliegenden Gesetze sind, wie alles Menschenwerk, unvollkommen; Ihre Spekulation ist, auf Grund dieser Unvollkommenheit dem Handelsstand den Todesstoß zu geben. Auf diesen Handel ist nun einmal ein Erwerbszweig aufgebaut, der der Allgemeinheit große Dienste leistet. Der Staat und die Behörden sind verpflichtet, das Gewerbe und die Personen zu schützen.«

Der Buchbinder sieht dem Herrn Bürgermeister in die Augen hinein und sagt mit fester Stimme:

»Wenn es die Aufgabe des Staates und der Behörden ist, bedrängte Gewerbepersonen zu schützen, so freue ich mich, Sie, Herr Bürgermeister, als Vertreter dieses Staates und seiner Behörden, auf den großen Notstand von tausenden verarmten Handwerkern und unbegüterten Arbeitern hinweisen zu können. Es hat sich im Laufe der Zeit durch die Erfindung der Maschine das ganze Kapital eines arbeitsamen Volkes in wenigen Händen gesammelt. Diese benützen die Macht, um mit brutaler Gewalt das letzte Eigentum der Handwerker an sich zu reißen und die schon verarmten in die gesundheitsverderbende Hölle der Fabrik hineinzupressen; dort werden sie mit all zuviel Arbeit und viel zu kleinem Lohn schlimmer wie Sklaven ausgebeutet. Das alles geschieht unter den Augen der Behörde und des Staates. Wenn Herrn Bürgermeister das Wohl des größten Teiles unserer Bevölkerung – und nicht nur eines kleinen Teiles begüterter Händler am Herzen liegt, bitte ich im Namen von tausenden Eilenburgern, den Staat und die Behörden auf diese bisher von ihnen versäumte Pflicht aufmerksam machen zu dürfen!«

»Steht hier nicht zur Debatte! Herr Fritzsche, ich frage Sie, ist Ihnen bewußt, daß Sie die Eilenburger Bevölkerung gegen einen ehrenwerten Stand aufhetzen und ihm zu schaden suchen!«

»Jawohl, ich weiß das! Weil Herr Bürgermeister aber vom Schutz des Gewerbes und seiner Personen durch den Staat sprechen, erlaube ich mir darauf hinzuweisen, daß wir verarmten Handwerker und unbegüterten Arbeiter vom Schutze des Staates ausgeschlossen sind. Dazu kommt, daß die hiesigen Materialwarenhändler, die zugleich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln in die Hand genommen haben, sich durch unmäßig hohe Preise am Schaden der Einwohnerschaft mit gutem Verdienst freuen!«

»Falsch! Wird nicht die große Konkurrenz dafür sorgen, daß die Preise in einer erschwinglichen Höhe bleiben? Da haben Sie falsch gedacht! Das kann Ihnen jeder erfahrene Mann sagen! Ein Geschäftsmann wird es lächerlich finden, es stellt eine Beleidigung Ihrer andern Mitbürger dar, – diese darf ich nicht durchgehen lassen!« Während der Bürgermeister dies sagt, geht er zum Tisch des Sekretärs und bietet Fritzsche den Stuhl an. Fritzsche setzt sich und hält den großen Sonntagshut auf den Knien.

»In der Theorie stimmt die Annahme des Herrn Bürgermeisters. Doch die Praxis ist anders! Hier steht es schwarz auf weiß: Einmal die Eilenburger, dann die Leipziger und Torgauer Preise, so wie sie in den Zeitungen offeriert werden.« Der Buchbinder legt drei Blätter mit Zeitungsausschnitten auf den Tisch und schiebt sie dem Bürgermeister unter die Augen. Herr Brunner weist auf die andern Blätter in der Hand des Meisters und fragt:

»Was haben Sie denn da noch für Zettel, nur immer her damit, es ist ein Nachprüfen!«

»So sieht die Praxis aus, Herr Bürgermeister: hier sind die Großhandelspreise und daneben stehen die Preise der Kleinhändler. Im oberflächlichen Überschlag ersieht man gleich, wie da 25 und 30 Prozent draufgeschlagen sind. Auf dem dritten Blatt stehen die Preise in unserm Verein!«

»Das ist doch wohl nicht möglich –« der Bürgermeister stottert – »das sind ja viel niedrigere Einkaufspreise, wer verkauft Ihnen die Ware so billig?«

»Wir kaufen gegen bar beim Produzenten. Wir holen unsern Bedarf selber ab, das Auswiegen und Verteilen besorgen wir nach Feierabend, es entstehen keine Handlungskosten, die die Waren verteuern. Darum wirft uns der Händlerstand vor, wir verkauften unter Einkaufspreis. Wahr ist, daß der Händlerstand an viele Armen auf Borg abgibt und dadurch die Käufer an sich fesselt, so daß sie die schlechteste Ware um den teuersten Preis kaufen müssen! Wir geben beste Ware zum billigsten Preis ab. Da ist jede Hausfrau im stande, meinen Worten von den unmäßig hohen Händlerpreisen recht zu geben!«

»So will ich diese Beleidigung nicht annehmen. Doch, ich laß Ihre Angaben von berufenen Fachleuten prüfen. Hm, und sie fühlen sich vom Staat ausgeschlossen, merkwürdig! Sehr merkwürdig!«

»Ja, und da haben wir erklärt, wir arbeitslosen Handwerker und unsre Schicksalsgenossen, die armen Arbeiter, wollen uns zu einer großen Familie zusammenschließen, weil unsre Mutter, die gemeinsame Not, unser Vater, der alles verderbende Hunger ist. Es werden drei befähigte Brüder als Bevollmächtigte herausgestellt, die verwalten das Einkommen der großen Familie insgesamt; wie die Hausfrau für die kleine Familie im kleinen, so kaufen die drei für die große Familie ein und geben es gegen einen kleinen Zuschlag zur Deckung der Unkosten an die einzelnen Glieder ab.«

»Einfältig, sehr einfältig gedacht! Aber interessant!« sagt Herr Bürgermeister.

»Herr Bürgermeister, das ist für uns gar so interessant nicht! Wir tun nur, was die Behörden und der Staat an uns versäumen; wir wissen, was Gerechtigkeit ist und haben als Volk das Recht, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen.«

Da steht der Meister auf und legt noch ein Blatt Papier auf den Tisch:

»Wenn Herr Bürgermeister sich überzeugen wollen, es ist in dieser Urkunde die Erlaubnis und die Berechtigung zum gemeinsamen Einkauf und zur gemeinsamen Verteilung zu finden; ausgestellt als Privileg von Seiner Gnaden des Kurfürsten von Sachsen. Der Landesherr selber hat in Notzeiten den Handwerkern den gemeinsamen Einkauf und Verteilung empfohlen und gestattet. Sie können dem Landesherrn keine undeutsche und landesfremde Gesinnung unterschieben! Nach diesem landesherrlichen Dokument ist die zeitweise Ausschaltung des Privathandels gestattet!«

Der Bürgermeister liest die Urkunde, prüft das Siegel und liest es wieder. Geht durch das Zimmer, sieht wieder vor dem Meister und sagt:

»Ich meine es besser mit Ihnen, als Sie glauben. Ich halte Sie nicht für einen kommunistischen Revolutionär, ich gebe Ihnen Gelegenheit, mir Ihre Gesinnung zu beweisen. Wollen Sie von Ihrem Tun ablassen, wenn es das Wohl Eilenburgs erheischt?«

»Es kommt darauf an, wen Sie, Herr Bürgermeister, mit Eilenburg meinen? Wenn ich Eilenburg sage, so benenne ich damit die 2000 Familien, die unter der schrecklichen Not erbärmlich leiden! Die Kaufleute, Händler und Fabrikanten leiden keine Not. Für deren Wohl ist herrlich gesorgt. Ich werde sofort von meinem Tun ablassen, wenn der Staat und die Behörden sich der von mir betreuten 2000 armen Familien annimmt!«

»Da Sie unter Brüdern Ware abgeben, so wird doch wohl auch unter Brüdern mit dem Kredite, dem Abholen auf Borg, nicht engherzig verfahren!«

»Muß Herrn Bürgermeister noch einmal ausdrücklich versichern, daß unser erster Grundsatz im Austausch von Ware und Geld, Abgabe nur gegen bar ist!«

»Aus alledem, was Sie erzählt haben, Meister Fritzsche, geht nur hervor, daß Sie im guten Glauben handeln, daß Sie und Ihre Konsorten sich subjektiv im Recht fühlen. Trotzdem kein direkter Verstoß gegen ein Gesetz vorliegt, schädigen Sie die Allgemeinheit. In diesem Falle hat der Magistrat keine Handhabe, Sie mit der Gewerbesteuer zu belegen. Da Ihr Verein jedoch nicht eine Person allein, sondern ein ehrbares Gewerbe angreift, so wird die Kaufmannschaft sich höheren Ortes wohl um die Schaffung eines Gesetzes bemühen; der Magistrat hat die Verfügungen höherer Behörden zur Ausführung zu bringen. Nun, Meister Fritzsche, Sie haben durch den Verkauf und Ausschank von Branntwein ein Gesetz direkt übertreten. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Herrn Bürgermeister zur Kenntnis, daß der Branntwein für die Arbeiter zu den Viktualien gehört. Mit der gleichen Konsequenz, die Herrn Bürgermeister gezwungen hat, einen Handel in unserm Verteilungssystem nicht zu erblicken, es mit Gewerbesteuer nicht belasten zu können, mit derselben Konsequenz muß Herr Bürgermeister zugeben, daß auch hier ein Verstoß gegen ein Gesetz nicht vorliegt, weil innerhalb einer Familie das Schankgesetz keine Wirkung hat!«

»Es wär angezeigt, wenn Sie als Leiter des Vereins den ungehemmten Verbrauch des Branntweins gewöhnlicher Qualität einzudämmen versuchten. Es ist Ihnen doch bekannt, daß der Fusel keine guten Wirkungen auf den Menschen hat.«

»Herrn Bürgermeister zur Kenntnis, daß ich es lieber sähe, wenn der Arbeitsmann westfälischen Korn und Schwarzwälder Kirsch trinkt. Leider sind die Löhne der arbeitenden Bevölkerung derartig miserabel, daß es ein Wunder ist, wie sie zu den nötigen Viktualien den Branntwein überhaupt noch kaufen können.«

»Dann privatim noch eine Frage: Warum machen Sie mit Ihrem zweifellos großen rednerischen Fähigkeiten die arbeitende Bevölkerung nicht darauf aufmerksam, daß der Branntweingenuß ein Krebsschaden am Mark des Volkes ist? Warum leisten Sie der volksvergiftenden Wirksamkeit Vorschub?«

»Wenn der Bürgermeister die Ansicht eines erfahrenen Volksmannes hören will, so will ich sie ihm nicht vorenthalten, auf die Gefahr hin, unliebsam zu werden. Der fressende Krebsschaden ist nicht der Konsum des Branntweins, sondern die unglaubliche, durch keine Sklavenherrschaft zu überbietende Ausnützung der eilenburgischen Arbeiter. In unseren Kattunfabriken verrichten die Arbeiter Beschäftigungen, unterm freien Himmel, im Sturm, in Hitze und Nässe, sowohl als auch in bedeckten Räumen, die ein Mensch nur annimmt, wenn er am Hungerknochen nagt. Hunderte von Eilenburgern haben keine Wahl, sie müssen jede, noch so gesundheitsraubende Arbeit annehmen; würde er es nicht tun, so siechten sein Weib und seine Kinder vollends dahin, so würde er ein Faulenzer und Tagedieb gescholten. In dieser ungesunden Fabrikluft müssen die schweren Krankheitsfälle, Lungenentzündung, Asthma ober Schwindsucht entstehen. Herr Bürgermeister müßte einmal die ekligen Geschwüre, die Haut- und Fleischschäden betrachten, die im Umgang mit Säuren und Dämpfen, Farben und Laugen entstehen. Dessen ungeachtet, muß der Arbeiter schonungslos die Schmerzen unterdrücken, den Ekel überwinden und das kann er nur, wenn er sich des an und für sich schädlichen, aber betäubenden Branntweins bedient.«

Der Bürgermeister geht auf und ab, zieht die Uhr und bleibt im vorübergehen wieder vor Fritzsche stehen.

»Ja, da ist das, was ich zu fragen habe, getan. Indessen der Bericht darüber aufgesetzt wird, können Sie draußen ein wenig warten.«

Der Sekretär steht auf, öffnet die Tür des Vorzimmers und weist Fritzsche einen Stuhl an. Fritzsche setzt sich. Als der Sekretär das Zimmer verlassen hat, steht Fritzsche auf, geht ans Fenster, öffnet beide Flügel weit und atmet die schöne frische Luft ein. Er sieht auf den Hof hinunter, wo die kleinen Häuschen stehen; die Kinder des Polizeisekretärs spielen im Schatten. Dann sieht er über die große Nikolaikirche hin; das kleine Stück Himmel glänzt blau über dem braunen Dach.

Im Arbeitszimmer des Bürgermeisters wird ebenfalls ein Fenster geöffnet. Er hört den Bürgermeister mit schweren Schritten über den Fußboden gehen und diktieren. Fritzsche geht zurück an den Tisch, setzt sich, lehnt den Kopf an die kühle Wand und hört wieder den wandernden Schritt im Nebenzimmer. Der Hut, den er bisher auf den Knien gehalten hat, löst sich aus den Fingern und rollt auf die Erde. Fritzsche ist eingeschlafen. Nach einer halben Stunde kommt der Sekretär zurück. Er muß Fritzsche an der Schulter schütteln. Fritzsche steht auf und folgt dem Schreiber ins Amtszimmer. Er bekommt wieder einen Stuhl angeboten, der Sekretär liest ihm einen drei Seiten langen Bericht über seine Vernehmung vor.

»Dies müssen Sie unterschreiben!« endet der Sekretär. Nun kommt der Bürgermeister von seinem Pult und sagt:

»Ich hoffe, daß Sie den kurzen Sinn der langen Vernehmung verstanden haben! Herr Fritzsche, sollte in der Folge eine Redewendung oder ein Satz nicht der Sache entsprechen, so stehe ich nicht an, einer Korrektur zu folgen; nachträglichen Beschwerden kann nicht entsprochen werden. So mache ich Sie ausdrücklich darauf aufmerksam, daß Sie unter keinen Umständen Branntwein verkaufen oder ausschenken dürfen. Ein regierungsseitiges Verbot geht Ihnen später zu. Sie werden bestraft, sobald Sie dieses Verbot übertreten. Vorläufig kann Ihnen die Verteilung von Waren nicht verboten werden. Jedoch verfolgen die geschädigten Einzelhändler ihre Beschwerden weiter. Sie werden höheren Ortes als Merseburg, Beschwerde führen, die Resolutionen sind daher noch nicht abgeschlossen. Bitte, unterschreiben Sie!« Fritzsche liest es in aller Ruhe durch, unterschreibt und geht.

»Wenn Sie etwas zu erwidern haben, bitte schriftlich! Adieu!«

Schon ist der Bürgermeister mit andern Arbeiten beschäftigt, Fritzsche sagt dann auch einfach in das Lokal hinein:

»Adieu, Herr Bürgermeister!«


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