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XXV.

Und abermals waren sie gemeinsam nach den Dünen gegangen. Es war ungefähr ein Monat nach der Prozession. Das Meer lag spiegelglatt da, als ginge Jesus noch einmal über die Wogen. Die Bienchen saugten sich im goldenen Sonnenlichte an den herbduftenden Blumenkelchen fest. Es summte und schwirrte in der Luft wie Glockengeläute. Ein Segen breitete sich über allen Dingen aus wie eine allmächtige Hand. Eine sanfte Brise schwellte die Segel der Fischerbarken. Auf den Dächern der Häuschen sahen die Schornsteine ihren wachsenden Schatten zu. Und alle Hausgärtchen hinter den Dornenhecken standen voll blühender Heckenrosen, Malven, Phlox und Sonnenblumen gleich goldenen Kuchen. Auf den Trockenplätzen blähte sich die Kinderwäsche wie die Segel am Meere.

Langsam wandelten sie die Küste entlang. Der Sommer lachte aus Cordulas blühenden Wangen, auf ihren Krauslöckchen lag es wie goldener Sonnenschaum. Ganz besonders zärtlich nannte sie ihn »ihren kleinen Nazarener«.

Aber Ivos Stirn blieb nach wie vor in gedankenvolle Falten gelegt. Seine bleichen Lippen öffneten sich nicht diesem glücklichen Frieden, der über der Welt lag. Er schüttelte sein wallendes Haupthaar und sprach mit müder Stimme:

»Erinnert Euch nur daran, Cordula: ausgepfiffen haben sie mich! Solange ich noch wie die anderen Leute war, da konnten sie sich gar nicht genug daran tun, mir ihre Achtung zu bezeigen. Ich hätte Stadtrat werden können. Damals machte ich eben nichts anderes als was alle anderen auch taten. Ich aß und trank nach Belieben, ohne derer zu gedenken, die da Hunger und Durst leiden. Ich sprach zu ihnen: ›Der Herr ist mit euch. Auch euer Tag, auf den ihr so lange schon wartet, wird kommen.‹ Seither hat sich die ganze Stadt gegen mich gewandt: ich werde bestraft, weil ich mich über mich selbst überhob. Und jetzt kommen nur mehr die ganz armen, kleinen Fischer vom Strande zu mir herein, um Seile und Samen einzukaufen. Für die reichen Leute bin ich ein Gegenstand des Abscheus geworden. Ach Cordula! Cordula! Mein Leben ist fertig! Ich bin nicht mehr der Nazarener, ich bin weder Christus noch Ivo Mabbe, der mit hocherhobener Hand in Jerusalem einzog. Ich bin nichts anderes mehr als ein unscheinbarer Krämer mit einem kleinen Laden neben der Kirche. Ist das nicht traurig, Cordula?«

Sie zeigte ihm ihr zärtliches, feuchtes Lächeln, das wie ein Regenbogen von ihren roten Lippen zu ihren goldschimmernden Augen emporstieg.

»Bleibt Ihr denn für mich nicht immer Christus?« sprach sie, ihn hingebungsvoll mit leicht zur Schulter geneigtem Kopfe anblickend, wie Magdalena in der Nische von Sankt Walburgis Christus im Grabe ansah. Auch jene mit dem strohgelben Haar und dem schwellenden, für Küsse und Seufzer wie geschaffenen Munde war schön und verführerisch. Ihre feuchten, heißen Blicke verrieten, daß für sie Jesus nicht tot war, daß er für sie in von Liebe verklärter ewiger Jugend immerdar leben würde.

»Ach, Cordula! Ich wäre mein ganzes Leben lang Christus geblieben, wenn ich falsches Gewicht oder schlechten Samen für guten gegeben hätte wie es alle Kaufleute tun. So wäre ich mit der Zeit zu einem bejahrten Christus herangealtert, der der Stadt keine Schande gemacht hätte. Ich aber wollte das wahre Evangelium predigen! Wenn heutzutage unser Heiland nochmals auf die Erde herabkäme, so würde man nicht einmal mehr ihn anhören.«

Er sprach das alles voll bitterer Resignation, ohne Groll. Sie bogen um einen Sandhügel und erblickten das kleine Eselchen, das von den Reflexen des Himmels umblaut, die wilden Veilchen abweidete. Ivo kraute seine Ohren und sprach:

»Christoph war mir ein Freund; er bildete einen Teil meines Lebens. Und jetzt? jetzt will Barbara ihn verkaufen. Der Esel, der Christus nach Jerusalem trug, wird künftighin den Dünger auf die Felder schleppen müssen.«

Und er brach in Tränen aus.

»Teurer Freund, Ihr braucht nur ein Wort zu sagen, und Christoph verläßt nie mehr die Dünen«, sprach Cordula.

Er hob seine Augen zu den ihren empor, in denen die Sonne funkelte.

»Wirklich, Ihr wolltet das tun, Cordula?«

»Dieses und alles, was mein teurer Herr und Gebieter von mir verlangen wird.«

Und von allen anderen Menschen verlassen, fühlte er sich von dieser Liebe doppelt gerührt. Er dachte, daß Maria Magdalena zu Jesus ebenso gesprochen hätte.

Er ergriff ihre Hand:

»Darf ein armer Mann wie ich es wagen, einem Weib wie Ihr, Cordula, zu sagen, wie sehr er sie seit jeher liebt und begehrt?«

»Ich habe in Treuen auf Euch gewartet, Ivo«, antwortete sie.

Und augenblicklich fühlten sie sich wie durch ein Gelübde auf immerdar vereint. Alle beide waren verstummt, ihre Blicke suchten die Erde. Als Ivo sah, wie da der Schatten ihrer Hände zusammenlief, erinnerte er sich wieder der Zeiten, als er auf der Düne ritt und den Schatten seiner erhobenen Hand auf den Sand zeichnete.

»Oh Cordula!« rief er aus, »bisher warf meine Hand allein einen Schatten. Und jetzt erblicke ich einen zweiten neben dem meinen. Könnte man nicht …« Ein paar Augenblicke suchte er nach den richtigen Worten, um seine Gedanken auszudrücken. Dann fuhr er mit leicht bebender Stimme fort: »Könnte man nicht sagen, Gott selbst habe unsere Hände ineinander gefügt? Alles hat seinen tieferen Sinn, man muß ihn nur zu erfassen wissen.«

»Ach Ivo,« rief sie, »ihr sprecht gerade so schön, wie der Herr Obervikar.« Sie bückte sich, um die kleinen Dünenstiefmütterchen zu pflücken, deren Stiele sie zusammenflocht; und als sie auf diese Weise eine leichte, schmiegsame Kette gewunden hatte, wand sie sie um ihren eigenen und Ivos Finger. So wurden die Blümchen zu einem einzigen Ringe für beide.

»Jetzt bin ich dein Gatte,« sprach er lächelnd. »Wir brauchen nur noch den lieben Gott in Sankt Walburgis um seinen Segen zu bitten! … Wie ist doch alles schön und gut in der Welt!«

Er sprach wie einer, der nach einem langen, bangen Traume erwacht, und die Schönheit der Welt in durstigen Zügen eintrinkt. Seine Nasenflügel bebten, seine Brust weitete sich in langen, tiefen Atemzügen. Der klare Himmel zitterte in seinen tiefblauen Augen.

Sie gingen wieder weiter. Die großen Sonnenblumen im Garten Wishje Brads sahen sie vorübergehen. Ivo sagte:

»Wishje Brad hat bei mir den Samen für die Blumen eingekauft, und nun ist er so schön aufgegangen. Mit den Gedanken ist es gerade so wie mit den Samen: früher oder später beginnen sie doch dort zu keimen, wo sie gesäet wurden.«

Und aus alter Gewohnheit zitierte er das Gleichnis vom guten und schlechten Samen, wie er es so oft im Evangelium des heiligen Matthäus gelesen hatte.

Der Fischer war aufs Meer hinausgefahren; seine Frau war allein zu Haus. Ivo rief ihre im Sande spielenden Kinder herbei und verteilte Kupfermünzen unter sie. Dabei erinnerte er sich, daß er einstmals auch die kleine Schollenhausiererin mit ihnen spielen gesehen hatte. Diese war eine der Ursachen seiner Mißachtung durch die Stadtleute geworden. Indem sie sich damals, als er mit erhobener Hand vorüberritt, vor ihm in die Knie warf, hatte sie ebensowohl sich wie ihm den Zorn der Geistlichkeit, die Mißbilligung der Propheten und die Klatschsucht der heiligen Frauen zugezogen. Doch trotz allem konnte Ivo Mabbe es ihr nicht vergessen, daß sie die einzige war, die den starken Glauben an seine Erlösermission bewahrt und ihn wie den leibhaftigen Heiland verehrt hatte. Er erkundigte sich, was aus Ilje geworden sei.

Das Weib zuckte die Achseln und erwiderte:

»Vor drei Wochen ungefähr ist sie pfeifend, wie das ihre Gewohnheit war, zum Meere gegangen. Es waren eine Menge schlechter Burschen da unten, die Strandgüter sammelten … Und seither ist sie nicht mehr zurückgekommen.«

»O höre doch, Cordula, höre nur!« rief er hastig. Seine Lider zuckten; er war fest überzeugt, daß auch jene ihn geliebt hatte.

»An jenem Tage,« setzte Wanja Brad fort, »sang das Meer, wie immer wenn es verliebt ist und nach unseren Männern ruft … Wir armen Fischerfrauen, wir kennen das nur zu gut. Es heißt, es sind die kleinen Zeemarminnen, die vom Meeresgrunde heraufsteigen … Auch die kleine Ilje wurde Zeemarminne genannt … Glaubt nun davon, was ihr wollt … Das beste ist noch, für sie zu beten!«

»Die Frau hat recht,« wiederholte Ivo, nachdem sie sich entfernt hatte, »das beste ist, für sie zu beten.«

Seine Stimme klang schwach und gedämpft, seine Blicke hafteten an irgend einem fernen Punkte, den sie nicht sehen konnten. Es war ihm, als wäre mit diesem Mädchen ein Teil seines Lebens dahingegangen. Zu ihren Zeiten wandelte er noch wie Christus durch die Gassen und wirkte Wunder. Die starke Macht der Liebe strömte von ihm aus und verbreitete sich auf die Armen und Leidenden. In seiner Herzenseinfalt kam ihm nicht in den Sinn, daß gerade seine Ähnlichkeit mit Jesus, den die Kirche ständig als Vorbild hinstellte, ihm den Groll der Geistlichkeit und der reichen Bürger eingetragen hatte.

Er hatte einen letzten Rückfall in seine alte Schwäche:

»Ach Cordula, denke nur,« seufzte er, »ich werde nie wieder das violette Gewand des Heilands tragen können, und kein Mensch wird mich mehr Christus nennen.«

Und neuerdings übermannte ihn ein feiger, kindischer Schmerz.

Cordula aber schlang ihre Arme um ihn und flüsterte ihm ins Ohr:

»Es wird einen Tag geben, an dem du dir gar nichts mehr aus all diesen Dingen machen wirst, mein Geliebter. Du wirst dann wieder ein Mensch sein wie die anderen.«

»Jawohl,« sprach er, »das sollte es sein: wieder ein Mensch werden, um den anderen, denen, die leiden, näher zu sein. Und dann wird niemand mehr einen Stein auf mich werfen und mir vorwerfen, daß ich Gutes und Gerechtes übe.«

Und er schüttelte seine Schultern, als wollte er ein Kreuz von ihnen abschütteln.

Zärtlich begann sie ihn nun mit ihrer kosenden, wie Musik klingenden Stimme zu locken. Ihre goldschimmernden Augen blickten ihn an wie eine Eidechse, die nach einer Fliege schnappen will.

»Unser Haus soll warm sein oder kühl, je nach der Jahreszeit. Wie köstlich muß es sein, zu zweit unter dem warmen Federbette zu schlafen, wenn draußen der Sturm heult. Und wenn mein Ivo keinen Schlaf finden kann, dann werde ich ihm alte Weisen singen, um ihn einzulullen. An bösen Fiebertagen wird ein Tränklein für ihn auf dem Herde bereitstehen. An Sonntagen trinken wir Kaffee und essen Brügger Biskotten dazu. Von Zeit zu Zeit wandern wir gemeinsam heraus, das Eselchen zu besuchen. Und dann … könnte es sich nicht fügen, daß der Schneider vor dir stirbt? Dann wirst du, wenn es Gott so beliebt, im Himmelfahrtwagen fahren. Das wäre ein würdiger Abschluß nach einem so langjährigen Einzug in Jerusalem.«

Sie war wieder zur Magdalena, der Sünderin, geworden, die alle Freuden und Genüsse des Daseins versprach. Er fühlte die Wärme ihrer molligen, üppigen Brust an seinem Herzen. Sie lachte: und ihre Wangen bebten wie dicker, köstlicher Honig.

Ivo schloß die Augen und flüsterte:

»Ja, das müßte ein himmlisches Leben sein, wie ein Vorgeschmack des Paradieses.«

Sie wickelte die feinen, weichen Strähne seines Lockenhaares um ihre Finger und sprach zärtlich:

»Künftighin werde ich dir deine Papilloten eindrehen, kleiner Nazarener!«


Gedruckt im Jahre Neunzehnhundertundzwölf
in der Roßberg'schen Buchdruckerei zu Leipzig

 


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