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XIII.

Der Schnee lag ein Fuß hoch auf Cordulas Haus. Mit langausgestreckten Beinen vor dem Ofen sitzend, wußte Christus es wohl zu würdigen, welch ein Schatz die Liebe eines guten Weibes für den Mann ist. In der großen Stille der traulichen Stube meinten sie das Lied ihres eigenen Lebens zu hören. Zuweilen ergriff er ihre Hände; eine Zeitlang blickten sie einander an, sie ihn mit ihren schönen, saftigen, lächelnden Lippen wie eine Begonienblüte, er sie mit seinen ernsten, ruhigen Augen. Es war eine so ehrbare, innige und alte Liebe, wie man sich nur in Flandern zwischen Mann und Frau lieben kann! Monatelang sprachen Cordula und Ivo nichts über ihre Heirat; und eines Tages sprachen sie davon wie von einer selbstverständlichen Sache, die eben so natürlich ist, wie das Blühen einer Pflanze, das Fließen eines Baches. Weder der eine noch der andere hatte Eile; und dann schwiegen sie wieder darüber bis zu einer neuen Gelegenheit.

Nun war der Winter gekommen wie vordem der Sommer. Der Schnee fiel, der Ofen summte, der Kanarienvogel sang in seinem Bauer. Man hörte die Klingel an der Türe des Apothekers auf dem Platze: das klang so fern und traut wie ein Glöckchen aus einem anderen Leben. Das Schifflein auf dem Simse droben segelte noch immer um die Welt, ohne sich von der Stelle zu rühren. Der Kirschzweig in der Glasvase auf dem Schrank hatte seine letzten Blüten getrieben. Bei jeder halben und ganzen Stunde ließ die Uhr ihr leises Hüsteln ertönen. Man brauchte nicht erst miteinander zu reden, um die Traulichkeit all dieser Dinge zu empfinden. Ivo sah sein Gesicht im blanken Kupfer des Wasserkessels spiegeln. Und als von der Küche das knirschende Geräusch der Bohnen in der Kaffeemühle herüberdrang, da lief ihnen das Wasser im Munde zusammen, und es blieb ihnen nichts mehr zu wünschen übrig.

Am Dreikönigstage hatten sie die letzten Nüsse geschält. Jetzt naschten sie allerlei Plätzchen, Kringel und Brügger Zuckerbiskoten und schlürften ein Gläschen Anisette dazu. Cordula, das Naschkätzchen, die Magdalena mit ihrer schönen, rundlichen Fülle, liebte es den ganzen Tag zu knabbern. Das Mäuschen huschte leise herbei, um die feinen Krümchen zusammenzuscharren.

Zuweilen auch holte Cordula aus ihrem Schubfache einen uralten, von Würmern benagten Kalender hervor. Dann blätterten sie beim Lampenlichte gemeinsam in den alten Stichen. Sie standen alle in Beziehung zu den Jahreszeiten und Feiertagen. Naive Gestalten, Handwerker, Landleute und Hirten machten ewig dieselben Gesten. Ein Bild stellte die Hirten vor einem Reisigfeuer vor in einer Landschaft mit weidenden Schafen. Über ihren Köpfen entrollte ein Engel ein Spruchband, und die Hirten wiesen sich mit ihren Krummstäben in der Hand diese Erscheinung; ein Mutterschaf sah gleichfalls andächtig zu. Die Blümchen, die aus dem Boden sproßten, glichen Kinderaugen.

Ein anderes Bild zeigte die heilige Jungfrau mit gefalteten Händen vor dem Jesukinde kniend. Der Esel neigte anbetend das Haupt; der Ochse zeigte ein erstauntes, menschliches Antlitz. Hinter einer Hecke standen flöteblasende Hirten, und während der eine der drei heiligen Könige, der eine brennende Wachskerze hielt, sich wie ein Verzückter gebärdete, berührten die anderen beiden das Knäblein sachte mit der Hand. Der Stern sah von oben, aus einem Loche im Himmel oberhalb des Stalles zu.

Ivo liebte es, diese schlichten Stiche zu betrachten. Stellten sie doch die gute, naive Menschheit dar, von der er selbst ein Glied war.

Seit einiger Zeit beschäftigte er sich damit, das Schiffchen auf dem Kaminsimse zu übermalen. Überdies besserte er das Takelwerk mit den feinsten Bindfäden aus seinem Geschäfte aus. Dann und wann überkam ihn die Lust zu solcher minutiöser Kleinarbeit, die den Gewissensprüfungen vor der Beichte glichen. Zweimal des Jahres erneuerte er den Kitt an den Schaufenstern seines Ladens, pinselte da und dort etwas im Hause und firnißte die Möbel. Das half ihm, sein Gemüt in einem Zustande gleichmäßiger Heiterkeit zu erhalten.

Eines Abends traf er Cordula weinend über ihren Strickstrumpf gebeugt.

»Ach!« seufzte sie, »wo ist der Christus, den ich liebte? Wo ist mein Christus hingeraten?«

Sie schlug die Augen zu ihm auf, und er wagte keinen Schritt weiter zu gehen. Es war, als wäre das kleine Schiffchen vom Kamine herabgefallen und gerade vor ihren Füßen zerschellt.

Mit einem erstickten Schluchzen wiederholte sie:

»Was soll ich nun beginnen, wenn sich aller Augen auf mich richten und die allerunglücklichsten der Frauen mich noch bedauern werden?«

Diesmal blickte sie ihn voll zärtlicher Liebe an, als verlangte sie nichts Besseres denn seinen Trost.

Ivo Mabbe durchmaß zweimal das Gemach. Die kleine Fliege auf dem Plafond machte ebenfalls ein paar Schrittchen. Der Kanarienvogel horchte auf, was er nun erwidern würde. Ivo trat auf sie zu und flüsterte, den Kopf senkend:

»Also auch Ihr, Maria Magdalena?«

Denn er glaubte die Ursache ihrer Tränen zu kennen. Seit dem Tage, da er zum ersten Male in die kleinen Gäßchen gegangen war, wandten sich alle von ihm ab. Herodes hatte ihm gerade heraus erklärt, er setze sich der Gefahr aus, der Achtung aller anständigen Leute verlustig zu werden. Pilatus, der Schlosser, hatte ihm vorgeworfen, daß er sich in Angelegenheiten einmengte, die ihn nichts angingen. Die Schriftgelehrten des Tempels lachten ihm spöttisch nach, wenn er an ihren Haustüren vorüberging: und selbst Joseph, der Zimmermann, ein frommer Mann, mied ihn.

Cordula ließ Knäuel und Strickstrumpf fallen. Und die Hände vors Gesicht schlagend, wimmerte sie leise.

»Ivo, Ihr habt Euch abgewandt von den ehrbaren Leuten dieser Stadt und Euch mit dem schlechten Gesindel angefreundet. Eine Frau kam zu mir, und die erzählte mir alles, was sie von den anderen gehört hat. Sie beklagt Euch. Es ist dieselbe, die bei der heiligen Prozession das Schweißtuch der heiligen Veronika trägt.«

Eine heftige Scham bemächtigte sich seiner, als hätte man ihn in seiner nackten Blöße erschaut. Ein Feuer brannte auf seinen Wangen. Aufmerksam betrachtete er ein Loch im Fußboden, das das Mäuschen ausgenagt hatte. Nimmermehr hätte er gedacht, daß es so schwer sei, Gutes zu tun, indem man dem eigenen Gewissen gehorchte. Die Uhr tat mehrere Schläge, aber beide hatten die Zeit vergessen. Schwer wog das Schweigen der Minute auf ihnen. Endlich schüttelte er das Haupt:

»Also wirklich, liebste Freundin, auch Ihr seid im Bunde mit meiner Schwester und all den übrigen? Was habe ich denn schließlich getan, das unser Heiland nicht auch getan hätte? Aber so ist's: die Blinden sehen nicht, und die Tauben hören nicht.«

Vor seinem erhobenen Finger schlug Cordula die Augen nieder. Wie er so dastand, den Rücken zur Lampe gewandt, wuchs der Schatten seiner Hand bis zur Decke.

Und nun, nach ein paar Augenblicken des Zögerns noch, schüttete ihr Ivo sein ganzes, schlichtes Herz aus. Er beteuerte, daß lediglich das Erbarmen, das Mitleid mit seinem Nächsten ihn zu dem armen Volke hingetrieben. Voll Schmerz sprach er von diesen Stiefkindern der Menschheit, die in Elend und Sünde leben, ohne daß man zu sagen wüßte, weshalb sie von der Gesellschaft ausgeschlossen seien.

Da legte Cordula ihre beiden Hände auf seine Schulter und lächelte ihn mit ihren munteren Augen an. Er begann nun auch zu lächeln und sprach einfach:

»Ist das nicht recht getan von einem armen Kleinstadt-Christus, wie ich es bin?«

»Ich glaube an Euch, kleiner Nazarener«, erwiderte Cordula.

Das Kanarienvögelchen im Käfig flatterte mit seinen Flügeln wie der heilige Geist.

Das waren seltene, glückliche Augenblicke für den armen Christus, die ihn für seine anderwärts erlittenen Demütigungen trösteten. Cordula mit ihrem gutmütigen, fetten, liebreichen Herzen blieb ihm immer treu, wenn sie auch ein wenig allzu leicht geneigt war, auf das Gerede der anderen zu hören. Für sie war er ein Christus, ein sanfter, liebenswürdiger und gutmütiger Christus, der auch sein Kreuz zu tragen hatte. Wenn er an ihrer Seite beim Feuer sitzen konnte und ein bißchen sein eigenes Leben leben durfte, so vergaß er alles in der Welt. Wenn er ihren schönen Händen beim Nähen oder Stricken zusah, so wurde es ihm warm ums Herz. Wußte er doch, daß es nur von ihm abhinge, ihr wann immer er wollte, den Ring an den Finger zu stecken. So kam er während der Schneezeit täglich zu ihr, aus Wohlgefallen an ihrer Gesellschaft, aber auch aus Liebe zu den Brügger Biskoten, die er in kleinen Stückchen in den Kaffee stippte. Manchesmal sang auch Cordula das Lied von der Tante Therese. Und wenn das Feierabendglöckchen erscholl, schloß er geräuschlos die Türe hinter seinen Fersen. Daheim war es kaum mehr auszuhalten. Barbara zeterte fortwährend wie eine Henne, die nicht weiß, wo sie ihr Ei ablegen soll. Seit einiger Zeit machte sich's der Küster bei ihr hinterm Ladentisch bequem: zuerst spähte er, ob der Seilhändler nicht anwesend sei, dann schlüpfte er flink durch die Türe. Er wußte immer irgend etwas über die lieben Nächsten zu erzählen, was sie beide nicht wenig amüsierte. Da er verheiratet war, wagte er es nicht, ihr allzu offen zu gestehen, daß er sie gerne einmal nach dem Hinterstübchen begleitet hätte. Er war ein schöner Mann mit einem stattlichen Kopfe und sorgfältig rasierten Wangen, ein Liebling aller Frauen. So war er denn auch unlängst gegen Abend bei ihr erschienen, und hatte ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Mitteilung gemacht, daß Ivo heimlich die verrufenen Leute, die so übel röchen, aufsuchte.

»Ein so prächtiger, junger Mann, Barbara! Ein Mann, der stets nur die besten Vorbilder bei sich daheim hatte! Man sagt, er tue es nur, um dem Heilande nachzuahmen: ist das nicht um so betrübender? Jeder bleibe bei seinem Leisten: Christus ist Christus – und ein Mensch ist ein Mensch.«

Diese Worte hatten sich in den Geist des alternden Mädchens wie spitzige Nägel gebohrt. Ihre kurzsichtige Frömmigkeit empörte sich wie über einen Gottesfrevel. Ivo, ihr Bruder, wollte den Heiland spielen? Was würden denn »die« da droben dazu sagen?

Einen ganzen Tag lang beherrschte sie sich, aber am folgenden Morgen kam ihr Zorn endlich zum Ausbruch. Sie schmähte, weinte und wetterte und übermittelte Cordula die ganzen Missetaten. Jetzt sprach sie auch öfters davon, den Esel zu verkaufen. Ivo erlitt dadurch einen argen Kummer. Denn sie hatten ihn allerdings für gemeinsame Rechnung gekauft. Sie hatte nicht einmal über den Preis gefeilscht, vor lauter Freude darüber daß ein Mabbe seinen Einzug als Christus in Jerusalem halten würde. Für ihr sturmdurchzittertes, einsam verkümmerndes Herz war Ivo damals fast ein Gegenstand der Anbetung gewesen. Sie liebte ihn wie einen Heiligenschrein, wie ein Schatzkästlein, darin die Ehre der Familie aufbewahrt wurde. Sie hätte das heilige Eselchen, das ihn in seiner violetten Tunika trug, am liebsten nur mit Biskoten füttern mögen. Und Christus selbst vermochte sie auch nicht vom wirklichen Heiland zu trennen; und nannte ihn ihr »liebes Jesuherz«, wenn sie ihm am Tage der Prozession die Locken mit der Brennschere kräuselte.

Unter dem Hagel ihrer jüngsten Quälereien vertiefte sich Ivo immer mehr und mehr in die Lektüre seines geliebten heiligen Matthäus; oder aber hämmerte er die Randleisten am Ladentische wieder fest, die das Scheuerwasser langsam losgelöst hatte, und hörte auf diese Weise Barbaras Keifereien nicht mehr.

Bei Cordula hätte er seine Stimme laut erheben können, als wäre er Christus in eigener Person: bei sich daheim war er nichts anderes als der kleine Seilhändler, der einmal im Jahre eine Christusrolle spielte – weiter nichts. Barbara bemühte sich, ihn mitten in seinem empfindlichsten Stolze zu treffen. Eines Tages nannte sie ihn den »Narrenchristus«. Ivo erbebte bis in sein tiefinnerstes Herz, und fühlte vor Schande es eiskalt den Rücken hinabrieseln. Er hätte ihr erwidern mögen, daß auch der Heiland von seinen Zeitgenossen mit Schimpf und Spott überhäuft worden sei. Schon öffnete er die Lippen, hochrot im Gesicht; aber als er sprechen wollte, kamen ihm keine anderen Worte als die:

»Was habe ich dir denn getan, Schwester, daß du mich so quälst?«

Gewöhnlich pflegte sich dann Barbara nach solchen Szenen in ihren Mantel zu hüllen und fortzugehen, um in der Nachbarschaft zu erzählen, daß man von ihrem Bruder bald mehr hören würde. Nun ginge er schon daran, Wunder zu vollbringen, jawohl, wahre Wunder! Man habe bereits die armen Leute aus den Seitengäßchen sich vor ihm auf die Knie werfen gesehen, wenn er vorüberging! Und dergleichen mehr.

Endlich allein, stieß Ivo einen Seufzer aus, wie ein Ohnmächtiger, der ins Leben zurückkehrt. Er warf eine Schippe Kohlen in die Glut, machte sich's in seinem Lehnstuhle bequem und beobachtete das Profil seines Schattens auf der Wand, das wirklich aussah, wie Christi eigenes Antlitz. Seit er den Quälereien seiner verbitterten Schwester ausgesetzt war, fühlte er sich noch um ein weniges heiliger. Summend hob der Wasserkessel seinen Deckel empor, gleichsam als wollte er ihn grüßen.


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