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Christus hörte drei Messen. Dann, plötzlich unter die nach dem Ausgange hindrängenden Bürger Jerusalems gemengt, befand er sich auf dem Vorplatze vor der Kirche. Eine köstliche Mattigkeit hielt ihn umfangen; er mußte sich an dem Fensterflügel eines Hauses festhalten, um nicht umzusinken. Er hatte gelobt, bis zur Mitte des Tages keine Nahrung zu berühren, um ein Gott wohlgefälliges Opfer zu bringen. Der Seewind blies auf seine feuchte Haut; er hatte das Gefühl, zusammenzubrechen oder in Ohnmacht zu sinken. Dennoch lehnte er das Glas Wasser ab, womit ihn die Krämerin, die in der Haustüre erschien, laben, wollte. Nach ein paar Sekunden kam ihm ein wenig seiner alten Kraft zurück. Zwischen der zweiten und dritten Messe hatte er gebeichtet. Und davon war sein ganzer Leib noch wie durchtränkt von der Gottheit geblieben. Mit gesenktem Blick und kurzen Schrittchen ging er durch die Gassen, der Außenwelt gänzlich entrückt. Sein Haupt war leicht zur Seite geneigt; und so behutsam schritt er aus, als trüge er ein geweihtes Gefäß in seinen Händen.
Da und dort blieben die Leute stehen und sprachen ganz ohne Arg: »Da, seht nur, ist das nicht Christus selbst, der hier vorübergeht?« Er stieß die Ladentüre auf; und beinahe wäre ihm infolge des durchdringenden Duftes von heißer Butter übel geworden, der ihm vom Herde entgegenquoll.
»Schwester Barbara,« sprach er mit matter Stimme, »das wird ein richtiges Weihnachtspoulard, das du da brätst.«
»Ja, ja, ein prächtiges Stück, das ›sie‹ eigens für uns gemästet haben. Aber es hat mich auch nicht wenig gekostet.«
»Unser Heiland wird auch nicht alle Tage geboren«, versetzte er lächelnd.
Die große Standuhr schlug zwölf Mal, als er sich endlich zu Tische setzte. Die Serviette um den Hals geknüpft, sprach er das Mittagsgebet, das Barbara, ohne sich in ihrem geschäftigen Hin- und Hertrippeln stören zu lassen, mit ihrer rauhen Stimme begleitete. Der Suppennapf erschien, und hastig begann er, sich eine stattliche Anzahl Löffel in den Magen zu gießen. Das Leben kam ihm wieder zurück; auf seinen Wangen brannte ein rötliches Feuer. Nun er in den behaglichen Zustand eines wohlhäbigen Bürgers zurückgekehrt und nach der langen Kasteiung den sinnlichen Genüssen der Tafelfreuden wiedergegeben war, dachte er nicht mehr an die armen Leutchen aus der Kirche.
»Ein richtiges Weihnachtsessen, Schwesterchen.«
»Sie haben ihr bestes dazu getan«, erwiderte sie.
Das war eine ihrer Eigentümlichkeiten, daß sie – ob nun von sich selbst oder von anderen oder sogar vom lieben Gotte – immer in der dritten Person der Mehrzahl sprach, gleichsam als wäre immer eine ganze Schar an den geringsten Dingen ihres Lebens beteiligt. Wenn in der Frühe beim Feuermachen die Späne nicht gleich anbrennen wollten, oder wenn sie den Faden nicht durch ihre Nadel brachte – immer hieß es dann: »Ach, so etwas! aber was denken ›sie‹ sich denn eigentlich da droben?«
Ivo verspeiste zwei Schenkelchen, einen Flügel und die halbe Brust. Er blühte zusehends auf, heiter, glückselig lächelnd. Er glich nun einem ganz frisch gestrichenen Christus.
Barbara hatte aus dem Keller eine Flasche alten Bordeaux heraufgeholt, der noch aus des Vaters Zeiten stammte, und schenkte ihm fleißig ein. Aber erst als sie zum Nachtisch die Torte auftrug, ließ sie sich herbei, mit ihm anzustoßen.
Gleichzeitig sagten sie:
»Fröhliche Weihnachten!«
Er leerte sein Glas und verzehrte ein Viertel der Torte. Die große Standuhr im Laden hielt vor Staunen über den üppigen Schmaus die Zeiger auf ihrem messingenen Zifferblatte an.
Nach dem Kaffee riß sich Christus die Knöpfe seines Wamses auf, seufzte vor Behagen und schlummerte sanft ein. Nun erst begann Barbara, der flandrischen Sitte getreu, daß die Frauen sich erst bedienen bis die Männer gesättigt sind, auch ihrerseits ihr Mittagmahl zu essen. Schließlich sank auch sie in Schlaf, dicht neben dem Lehnstuhl, in dem Christus, das Haupt schief auf die Schulter geneigt, laut schnarchte. Es begab sich, daß einige Fischer und Landleute, zu denen das, Gerücht von der Heiligkeit des frommen Seilhändlers gedrungen war, sich draußen vor den Schaufenstern aufstellten und bemühten, zwischen den aufgerollten Tauen und Näpfen mit Sämereien ins Innere des Ladens zu gucken. Hätte man jenen sagen wollen, daß der Mann, der hier vor der reichbesetzten Tafel saß, der Nazarener sei, sie hätten es sicherlich nicht geglaubt. Der kleine Fink sang in der Stube.
Barbara erwachte beim Klange der Glocken. Das Haus war nur durch ein winziges Höfchen von der Kirche geschieden, darin ein kärglicher, muschelumsäumter Rasen hinter einem grüngestrichenen Lattenzaune sproßte; außerdem befand sich da eine Statue eines heiligen Rochus auf einem Sockel und ein kreuzförmig verschnittener Buchsstrauch, wie in einem heiligen Gärtlein. Oben, im Dämmer der Strebepfeiler, flatterten schon die Raben mit heiserem Gekrächze. Diese waren Barbaras ständiger Ärger, wegen des Mistes, den sie ihr oftmals gerade auf ihre Schultern fallen ließen, und der ätzend war wie Kalk. »Ivo!« rief sie, »der Abendsegen!«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, bürstete seinen Hut und machte sich auf den Weg, indes sie hinaufging und ihren Mantel umnahm; sie hatte der Frau Apothekerin versprochen, sie im Vorübergehen abzuholen.
Ein paar Gestalten huschten geräuschlos durch die Gassen. Nun begann auch Sankt Nikolaus, jenseits des Hauptplatzes, mit ganzer Kraft auf seine großen Glocken einzuhämmern Es war für das Städtchen ein festlicher Tag, ein richtiger Gottestag. Den Haupterfolg aber hatte unzweifelhaft der Kuchenbäcker in der Hauptstraße, der in seinem Schaufenster zwischen einem Ochsen und einem Eselchen aus rotem Kartoffelzucker eine Krippe mit einem Jesukindlein aus Fondant ausgestellt hatte. Die Frauen, die von der Küste hereingekommen waren, blieben vor diesem frommen Kunstwerk andächtig stehen. Bloß in den engen Seitengäßchen ging es etwas geräuschvoller zu: für diese kleinen Leute gab's keine Lustbarkeit ohne ein Räuschchen oder Gejohle. Bisweilen kam einer der Stadtgendarmen herbei, warf einen Blick hinein und entfernte sich dann wieder, nachdem er ausgespien hatte.