Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von nun ab war das eine ausgemachte Sache: so oft einer der Männer aus den Hintergäßchen eine Handvoll Sous für irgend ein Saufgelage benötigte, schickte er Ivo einen der abscheulichen Bengel, von denen es dort wimmelte, die, schmutzig und voll Ungeziefer, ihr Leben von den Abfällen der Küchen und vom Kehricht der Straße fristeten. Der Schlingel brauchte Ivo nur zu erzählen, der Mann, der ihn schickte, sei dem Tode nahe. In der Idee, es gäbe eine Seele zu retten, suchte der gute Christus dann schleunigst den Sterbenden auf und fand in irgend einer schmutzigen Höhle einen alten Trunkenbold, der sich unter Krämpfen wand und eine Darmverschlingung simulierte.
»Christus! Christus!« rief der Mann, »es geht mit mir zu Ende. Wollt Ihr mich denn so verscheiden lassen? Nicht ein Stückchen Leinwand für ein Leichentuch ist mehr im Hause, nicht einmal ein armseliger Sou für eine Kerze, wenn meine letzte Stunde kommt.«
Ivo hatte nach einigem Suchen unter einem Dachziegel die alte Ledertasche gefunden, darin Barbara ihre Ersparnisse aufbewahrte. Seit kurzer Zeit schöpfte er nun daraus kleine Prischen von Sous- und Frankenstücken; aber das Geld schmolz sichtlich dahin. Es hätte auch niemals für alle, die in den kleinen Hintergäßchen tatsächlich Hunger litten oder nur Krankheit und Elend heuchelten, gereicht.
Kaum hatte sich Christus wieder entfernt, als man den alten Säufer seine Lagerstätte verlassen und in die eine oder die andere stinkende Schnapsbude schleichen sehen konnte, von denen es in dieser Gegend wimmelt. Selbst der lange Brad, der sich eifrig bekreuzigend in die Kirche ging, um dort seine Räuschchen auszuschlafen, verschmähte es nicht, die Leichtgläubigkeit des Seilhändlers auszubeuten. Und dennoch konnte man ihm eine gewisse Aufrichtigkeit nicht absprechen, wenn er seine Mütze zu Boden warf und schrie, er wolle es jedem heimzahlen, der Christus auch nur ein Haar auf dem Kopfe krümmen würde. Eine Minute darauf hatte er diesem bereits wieder eine kleine Silbermünze abgebettelt.
Die Anziehungskraft, die dieses niedrige Gesindel auf einen Bürger wie Ivo Mabbe ausübte, war wirklich ganz unerklärlich. Er war der einzige in der ganzen Stadt, der zu ahnen schien, daß jene auch menschliche Geschöpfe mit einer Seele seien. Hingegen die Geistlichen, die kleinen Rentner, ja selbst die Handwerker nichts anderes als Verachtung für sie übrig hatten. Christus aber war in reiner Glut edelster Nächstenliebe für sie entbrannt. Es war, als hinge er mit all seinen Gliedern, mit seiner ganzen Haut an jenen von allen verleugneten Menschenleibern: das Feuer echt biblischer Nächstenliebe schien durch Christi Wunden auf ihn übergegangen zu sein. Und da Christus seinerzeit gegangen war, den Armen, Elenden am Hafen und in den Jammerquartieren die Worte vom ewigen Leben zu predigen, so hatte wohl auch er das Recht, zu wiederholen, was Christus dereinst gesagt. So ward er der schlichte Säemann der Seelen.
Fast täglich schlüpfte er in die verpesteten Quartiere, als ein reinlichkeitsliebender Mann nur ängstlich bemüht, seine Schuhe an den Schmutz und Jauchelachen, die allüberall das Pflaster bedeckten, nicht zu beschmutzen. Es gab doch auch hier wie überall ehrliche Herzen, die, schwer geprüft, wohl einer Tröstung bedurften. Die Leute mit ihren traurigen, erloschenen Augen wie die alter Hunde kamen zu ihm, ehrfürchtig, so wie man zum heiligen Tische tritt, und nannten ihn demutsvoll »unseren Christus«. Und Christus hegte keinen Groll mehr in sich, weder gegen den Vikar noch gegen sonst jemanden.
Zu Pfingsten begann er ihnen das Evangelium des heiligen Matthäus vorzulesen. Die Leute versammelten sich im Hause eines alten Ehepaares. Der Mann, ein Maurer, war von einem Gerüste gestürzt, und beide Beine hatten ihm amputiert werden müssen. Die Frau, eine Spitzenarbeiterin, hielt den Rahmen bis in die finstere Nacht auf den Knien. Sie besaßen zwei Stuben.
Brad, der bei der Versammlung die Polizei spielte, überragte alle andern. Er zeigte sich um so wachsamer, je betrunkener er selber war. Manchesmal schlug er in der dunklen Stube mit seinem langen Stecken, den er als Zeichen seiner Würde handhabte, nach den Ruhestörern, die etwas angeheitert waren und laut lachten. So oft sich die Masse rührte, stieg ein Fischgestank wie von einer ganzen Ladung Seefischen auf.
Nach jedem Abschnitt hielt Ivo im Lesen inne und begann ihn auf seine Art auszulegen. Lange Zeit war ihm das alles so dunkel wie die ganze Gotteslehre selber geblieben. Und dann war ihm plötzlich ein Licht aufgegangen, ähnlich wie er von seinem Hinterstübchen aus hoch über sich den Himmel aufleuchten sah. »Christus ist die ewige Wahrheit,« überlegte er. »Alles, was er über seine Zeitgenossen gesagt hat, paßt ebensogut auch auf die Menschen von heute. Man muß ihn nur richtig verstehen.« Es war ganz merkwürdig, wie er jetzt immer gleich den Stoff zu seiner Auslegung fand: ein Schriftgelehrter hätte auch nicht besser sprechen können. Er drückte sich voll Milde und Klarheit aus. Der gute Christus merkte allerdings nicht, daß er mit dieser Auslegung der Gleichnisse den offenen Aufruhr predigte. Manches Mal rief auch einer seiner Zuhörer aus, Christus habe ganz recht, es könne so nimmer weiter gehen, man müsse handeln, wie es geschrieben stehe.
Nach beendeter Vorlesung gingen Brad und die anderen ein Gläschen Schnaps trinken. Nur Ilje folgte ihnen nicht; in einer Ecke zusammengeduckt, starrte sie mit ihren wirren Blicken Ivo so unverwandt an, wie den schönen Christus zwischen den Söldnern in der Kirche. Niemand hätte zu sagen vermocht, was in diesem halb tierischen Mädchen vorging, das so merkwürdig den kleinen Seeunholdinnen, den Zeemarminnen, ähnelte, von denen sich die Fischer erzählten. An einem der letzten Abende hatte der Küster sie nach dem Abendsegen wieder dabei ertappt, wie sie ans Gitter der Kapelle gepreßt die Lippen vorstreckte, als bemühte sie sich den göttlichen Leib von weitem zu küssen.
Bald war die Stadt in zwei Lager geteilt. Die kleinen Handwerker, die Arbeiter und Kanalschiffer, die Landleute, die zum Markt hereinkamen, um ihr Gemüse zu verkaufen, die hielten alle zu Christus. Dagegen die Bürger, die Reichen und alle die »hinter geschlossenen Türen« lebten, gegen ihn waren. Noch niemals, seit dem viele Jahrhunderte alten Bestande der Prozession, hatte man in Furnes dergleichen erlebt, daß ein Christus seine Rolle für Ernst nahm. Die Christusse waren immer sehr ehrenwerte Biedermänner gewesen, die den Einzug in Jerusalem oder die Kreuztragung schlichtweg als einen Akt freiwilliger Buße betrachteten. Danach wurden sie wieder Bäcker, Schneider, Schuster oder Zimmerleute, je nach ihrem Gewerbe. Der Ärger der anständigen Leute war namentlich, daß Ivo Mabbe sich mit den kleinen Handlangern, den Strandhausierern und dem ärmsten Gesindel abgab. Ein Mann, der selbst immer so gute Geschäfte machte! Ein Mann, der sich durch eine Heirat mit der reichen Cordula eine der beneidenswertesten Stellungen in der Stadt hätte verschaffen können! Herodes war jetzt nicht mehr der einzige, der sich mit dem Finger an die Stirn tippte und sagte, bei Christus sei hier etwas nicht ganz richtig.
Ivo Mabbe litt unsäglich unter dieser Verringerung seines Ansehens. Daß ihn die Hofschranzen des Herodes verleugneten – das war schließlich ihrer Rolle gemäß. Aber selbst die Bürger von Jerusalem verspotteten ihn. Man nannte ihn voll Geringschätzung den »Armeleutechristus«. Wenn er vorüberging, wurde er öffentlich verlacht.
Einmal, als Ivo zu Kas Onkelaer kam, um dessen Rosengärtchen zu besichtigen, sagte ihm auch dieser sein Teil. Er ließ durchblicken, daß es »da drüben«, damals ehe man dem Könige den Hals abschnitt, auch so ähnlich begonnen hätte … »Ich bin immer für die Ordnung … Zu meiner Zeit hätte ich dieses ganzes Gesindel mit dem Säbel niedergemacht; und wer weiß, Ivo, ob ich nicht auch Euch selbst …«
Das Geheimnis, was er mit ihm gemacht hätte, behielt er für sich; allein nach der Bewegung zu schließen, mit der sein Arm die Luft durchschnitt, war sein altes Gendarmenherz in ihm noch nicht erstorben. Ivo richtete den Kopf in die Höhe.
»Armer Mann, ich sage und tue nichts, was nicht auch unser Herr und Heiland selbst gesagt oder getan hat. Es steht im Gleichnisse geschrieben, ein Säemann ging aus, die Saat auszustreuen; und als er säete, fiel ein Teil des Samens längs des Weges zu Boden, und da kamen die Vögel und fraßen ihn auf. Ein anderer Teil fiel auf steinigen Boden, wo er nur wenig Erde fand; und er ging allsogleich auf, weil er nicht tief genug in das Erdreich eingedrungen war. Da aber kam die Sonne und verbrannte die Saat. Ein anderer Teil fiel zwischen Dornen; und die Dornen wucherten und erstickten ihn. Ein kleiner Teil aber fiel auf guten Boden und trug Früchte: ein Körnchen gab hundert, ein anderes sechzig, ein drittes dreißig. Wer Ohren hat zu hören, der höre …«
Während er so sprach, lauschte ihm das kleine Gärtchen mit seinen zitternden Blättern und seinen hellen Lichtern und scharfen Schatten, die sich an der Hauswand abzeichneten, und es war, als verstände es ihn. Die Erde unter dem Fliederstrauch knisterte; rosige Blütensträußchen schmückten den Birnbaum. Dann und wann wollte sich ein Schwärm Vögel niederlassen; als sie aber den Strohmann in den Zweigen schaukeln sahen, flogen sie erschrocken fort, in den Nachbargarten.
Ivo hatte eine Geste gemacht, wie wenn er selber Samen auswerfen wollte; und aufmerksam blickte er auf den Boden. Der alte Magier sah ebenfalls dahin; aber an der Art, wie er die Achseln zuckte, konnte man wohl erkennen, daß der gute Samen in seinem Geiste nicht Wurzel gefaßt hatte. Jawohl: Onkelaer, der ehemalige Gendarm, gehörte zu den Schachern, den falschen Schriftgelehrten und schlechten Richtern, denen der Sinn der Lehre Jesu dunkel geblieben war. Er stand in seinem großen Erbarmen mit dem Jammer dieser Welt ganz einsam und traurig da.
In all seinen Bitternissen gab es einen süßen Trost für ihn; das waren die Besuche bei seinem Eselchen. Inmitten der Blütenpracht des Lenzes glich Christoph einer großen grauen Blume mit silbernen Staubgefäßen. Ganz einsam und allein in den weiten Sandflächen, kaute er süße Kräuter und Wurzeln, unbekümmert um Gott oder die Menschen. Wenn ihm aber Christus ein Wort in seine langen Ohren raunte, dann wandte er den Kopf: und mit seinen schönen, klaren Augen und bebenden Nüstern schien er ihm auch seinerseits etwas sagen zu wollen. Die lieblichen blauen Lüftchen schienen es dann den anderen Eselchen weiterzugeben, die zwischen den Sandhügeln der Dünen verstreut weideten. Und dann versuchte Ivo sich auf seinen Rücken zu schwingen, um ihn für den kommenden, heiligen Tag vorzubereiten, wo er seinen Einzug in Jerusalem halten würde. Aber die Einsamkeit hatte das Eselein störrisch gemacht. Es begann sich zu sträuben und mit den Hufen in der Luft zappelnd im Sande zu wälzen. Kaum, daß Ivo noch Zeit hatte abzuspringen. Ein Glück, daß die boshaften Bürger Jerusalems dies nicht sehen konnten.
Ivo war sanft und ausdauernd: unter Streicheln und liebreichem Zureden versuchte er Christoph zur Vernunft zu bringen. Schließlich schien der Esel zu begreifen, welche Ehre es für ihn sei, den Heiland tragen zu dürfen. Und so konnte Ivo einige Zeitlang mit bis zur Erde herabbaumelnden Beinen auf dem Esel reiten, ganz wie es in der Bibel stand. Die Kaninchen kamen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und guckten diesen wunderlichen Mann mit der Mütze an, der nach rechts und links hin segnende Gesten austeilte.
Christus hatte sich übrigens angewöhnt, auch bei den Fischern der Küste das Wort Gottes zu verkünden, so wie er es bei den Armen der Stadt tat. Ihrer zwanzig bis dreißig fanden sich bei Wishje Brad ein, namentlich die allerelendsten und allerbedürftigsten unter ihnen. Das Zimmer war voll von verwitterten Angesichtern mit salzzerfressenen Augen und gegerbter Haut, hartlederig wie eine Tierhaut. Und mitten unter ihnen stand Ivo und predigte ihnen; da aber jene nichts von der Moral der Gleichnisse verstehen konnten, beschränkte er sich darauf, diejenigen Worte des Erlösers, die auf ihre Lage Bezug hatten, zu erklären. Auf die Dauer vergaß er dann ein bißchen, wer sie zuerst ausgesprochen hatte, ob Christus oder er.
»Ihr stehet Gott viel näher als die anderen … Eure Freude wird anheben, bis die der anderen zu Ende sein wird … Die jetzt die letzten sind, werden die ersten sein …«
Sie nickten mit den Köpfen, zum Zeichen, daß sie derselben Ansicht seien. Durch die offene Tür drang sein Wort weit in die Dünen hinaus. Wenn er geendigt hatte, folgten sie ihm ehrerbietig mit geräuschlosen Schritten im Sande nach.
Jesus von Nazareth war also längs des Meeres gewandert; er ließ sich auf einem Hügel nieder und von überall kamen die Fischer herbeigeströmt. Und er verkündete ihnen den Anbruch einer Zeit, die sie für ihre lange Mühsal entschädigen würde. Welch unaussprechliche Freude für ihn, den schlichten Samenhändler, zur Ausbreitung der göttlichen Lehre auserkoren sein!
Man mußte Ivo Mabbe eben nehmen, wie er war: Christus selbst im Himmel oben würde über ihn mild gelächelt haben.
Infolge seiner häufigen Predigten gewöhnte er sich ganz seltsame Gesten an, und auf der Straße sprach er manchmal laut zu sich selbst. Esperitz, der Haarkünstler, behauptete, ihn öfters mit dem gemalten Christus von Sankt Walburgis reden gehört zu haben. Und wirklich, hier wurzelte tatsächlich die ganze Kraft seines Lebens. Die alte Kirche war ihm wahrhaft mütterlich und liebreich gesinnt. Wenn er, mit dem Betschemel in der Hand, die Kreuzwegstationen durchnahm, so feuchteten sich seine Augen mit ehrfürchtigen Tränen der Inbrunst und des Glaubenseifers. An seiner glühenden Opferfreudigkeit schmolzen all seine Kümmernisse dahin. Sowie er nur den Duft der alten Wachskerzen und erkalteten Weihrauchdämpfe, die die Luft durchtränkten, einatmen konnte, fühlte er sich von köstlichen Kräften wie neubelebt. Bei regnerischem Wetter strömten die Beichtstühle einen Duft von feuchter Eichenrinde aus. Bisweilen auch stieg durch die Fliesen ein leichter, fader Verwesungsgeruch auf, von all den vielen vornehmen Damen und Herren, auf denen die Lebenden herumspazierten. Wahrzeichen des Todes und der Auferstehung waren wie in einem Beinhause auf dem Wege zum Paradiese in Hülle und Fülle vorhanden. Sankt Barbara mit ihrem Turm, Sankt Katharina mit ihrem Rade hoben die Köpfe zu den Engeln und Palmen empor, die einen der Altäre schmückten. Bis in die fernsten Ecken standen Bischöfe mit Stäben und Mitren neben den hölzernen Lampenträgern. In den zwei Nischen, inmitten einer Unmenge von Kreuzen, die am Tage der Prozession herauswanderten, sah man eine wahre Knochensammlung von Schädeln und Schienbeinen auf Tränentüchlein ausgebreitet. Die ganze Kirche verblutete sich aus vielhundertfachen Wunden der Abnützung und Verwahrlosung. Der Armeleute-Tod von der Straße brandete auch gegen diese verstümmelte Basilika, der nur mehr ein Restchen mystischer Lebenskraft unter den hohen Fensterwölbungen übrig blieb. Ein Armeleute-Christus wie Ivo Mabbe konnte das so tief mitempfinden.