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Und so kam die Nacht der goldenen Messe heran. Ivo zündete seine Kerze an und begann unter Gebeten sich anzukleiden. Er bewohnte ein kleines Stübchen, dessen Fenster, nicht größer als eine Schiffsluke, auf die Dachrinne ging. Um diese Zeit war in allen Häusern der Stadt das Erwachen leiser Geräusche zu hören, als ob kleine Kinder darinnen zur Welt kämen. Die Engelein aus dem Paradiese guckten hinter den finsteren Scheiben durch die Vorhangspalten.
Ivo hörte durch die dünne Bretterwand, wie Barbara sich ebenfalls ankleidete. Dem Talglicht entflackerten rosig und goldig zitternde Strahlenbündel, wie kleine Nordlichter. Die Stube mit dem kleinen Jesukindlein in einem Muschelkranz (eine niedliche Handarbeit Cordulas), den Heiligenbildern und dem Weihwasserkessel, darin ein geweihtes Zweiglein stak, glich einem von der Purpurflamme eines ewigen Lichtchens nur schwach erhellten Altarraume. Sobald der Docht aufzuckte, begann eine kleine Mutter Gottes mit dem Kinde ihr Köpfchen in einer Spitzenkrause hin und her zu wiegen. Ivos Schatten wob mit den beiden Händen, die einander beim Kämmen des schönen Bartes und Scheiteln der Haupthaare halfen, ein kunstvolles Maschengewebe auf die Mauer, als wäre ein geheimnisvoller Weber am Werke. Die Nacht war heilig und weihevoll.
Ivo schob den Vorhang zur Seite und drückte die Nase an die Scheibe: alles draußen war weiß. Ein feiner Zuckerschnee stäubte das Waffelmuster der Dächer. Ihm ward es wieder so ähnlich wie einstmals zumute, da er, ein kleiner Meßnerknabe, den Schnee von den Fingerspitzen naschte, wenn er in der Früh die Altarkerzen anzünden ging. Der erste Schnee besaß für ihn immer den mystischen Zauber einer ersten Kommunion. Als ein richtiger, wackerer Vläme stellte er sich das Paradies schneeweiß vor, wie den Winter.
Er schloß wieder das Fenster. Die große Glocke des Kirchturmes hub an mit langsamen, feierlichen, durch die Flocken gedämpften Schlägen zu tönen. Nun begann Sankt – Nikolaus ebenfalls zu dröhnen, hierauf kam ein Glöckchen nach dem anderen von den verschiedenen Klosterkapellen an die Reihe. Nun bildeten die Fenster in allen Häusern helleuchtende Vierecke. Sachte klapperten die Türen, ein winterliches Räuspern und Hüsteln schwirrte durch die Luft. Jedes einzelne dieser Geräusche riß ein Loch in die Stille des Flockenfalles.
Ivo stieg hinab, die Kerze in der Hand. Barbara kam aus ihrer Stube heraus, ebenfalls eine Kerze tragend, und folgte hinter ihm her. Sie redeten nichts miteinander, wie zwei Menschen, die schon lange nebeneinander leben.
Draußen huschten bereits eilige Schatten vorüber, die ebenfalls zum Hochamte wollten. Die Männer hatten Filzsocken über ihre Holzschuhe gestreift, die Weiber, in lange Mäntel eingemummelt, trugen Kohlenpfannen, in denen eine rötliche Glut schwelte. Die Glocken dröhnten immerzu, ernst, feierlich, mit silbernen und goldigen Tönen. Sie bogen um die Straßenecke; da lagen in der klaren Winternacht Sankt-Walburgis Fenster so leuchtend hell vor ihnen, als wollte der junge Tag von dorther kommen. Unter dem Portale netzte Ivo seinen Finger mit Weihwasser, bot es seiner Schwester dar und beugte, sich bekreuzigend, das Knie.
Nach und nach versammelte sich die ganze Heilige Schrift. Der alte Magier, Onkelaer, stramm wie ein Mauerpfeiler, nickte ihm würdevoll zu, als erinnerte er sich, einstmals seinethalben aus der Wüste herbeigekommen zu sein, um ihm, da er noch als Jesukindlein zwischen Ochs und Eselein in der Krippe lag, seine Verehrung darzubringen. Badilon, der Mohrenkönig, lächelte mit seinen wulstigen Lippen und zwinkerte mit den Äuglein. Zannekin, der Metzger, kam nun auch, schwerfällig, behäbig, einen Fettwulst um den Hals. Er spielte schon fünfundzwanzig Jahre den König Herodes und hatte sich allmählich eine solch barsche, befehlshaberische Miene angewöhnt, als wäre er tatsächlich fähig, kleine unschuldige Kindchen massakrieren zu lassen. Er galt für einen guten Hausvater und Ehemann. Er wechselte ein paar Worte mit Joseph, dem Zimmermann vom Apfelmarkte. Der wackere Mann schien ihm keinen Groll mehr nachzutragen, daß er seinetwegen mit der heiligen Familie hatte nächtens fliehen müssen, wie man es auf den Gemälden heute noch sehen kann.
Dank dem engen Zusammenleben und den gemeinsamen Trinkgelagen hatten all diese Leutchen des Neuen Testamentes ihre lange verjährten Gegensätze vergessen. Christus war Pilatus' Freund geworden, obzwar dieser, mit Namen Schlimm, seinem Berufe nach ein Schlosser, in ganz Furnes dafür bekannt war, sich die Hände in seinem Blute gewaschen zu haben.
Apostel, Propheten, heilige Frauen, Bürger Jerusalems strömten herbei. Vergebens jedoch suchte man die heilige Jungfrau Maria, die Tochter des reichen Brauers Sporkin. Diese war wegen des Schneefalles behaglich daheim, in den feinen Linnen geblieben. Christus wandte nach allen Seiten den Kopf, um Maria Magdalena zu entdecken.
Er fühlte sich hier wie zu Hause. In seiner schlichten Denkungsart war ihm die Kirche ein wenig wie sein eigen Heim, das Haus, darin er das Räucherfaß geschwenkt, wo er aufgewachsen war und vor den heiligen Bildern gelernt hatte, ein guter Christ zu werden. Die Kirche war das göttliche Herz seines Lebens. Mit seinen welligen Haaren und dem wachsbleichen Gesichte schien er wirklich nicht viel anderes als ein zu den Menschen zurückgekehrter Jesus zu sein, über dem unsichtbar das Mysterium seiner Gottheit schwebte.
Das purpurne Kreuz der Wachskerzen flammte auf; der Offiziant bestieg den Altar; die Stühle kreischten auf den Fliesen. Und die Messe begann, eine richtige, heilige Seelenmesse. Von fernen Inseln und fernen Meeren, aus dem Lande der Rothäute und wilden Tiere kamen sie herbei, alle, die hinausgezogen waren, die in der Fremde den Hunger- oder den Wassertod erlitten hatten, Wanderer der Zeitlichkeit oder der Ewigkeit, sie alle kamen herbei und gesellten sich in geistiger Gemeinschaft zu den Daheimgebliebenen, die ihrer geharret hatten.
Voll Inbrunst gedachte Ivo der Seeleute, der Missionäre, der auf fernen Wegen verirrten Wanderer, um deretwillen die Kirche dieses christliche Mysterium die Messe der Wanderer benannte. Und in der großen, gottgeweihten Nacht, weit über alle Entfernungen hinaus, umfingen sich Brüder und fremde Menschen in inbrünstigem Glauben und Liebe.
Ein Kniff in den rechten Arm ließ ihn jäh den Kopf umwenden. Im Schatten eines Pfeilers gewahrte er Cordulas heitere Lippen, die ihn mit ihrem frischen, rosigen Gesichte wie ein dicker, rotbäckiger Apfel anlächelte. Ein paar Schneeflocken zerschmolzen unter dem Rande der Kapuze auf ihren Haarlöckchen. Und strahlend, strotzend vor Lebenslust, blickte sie ihn an, die Augen von zitternden Kerzenreflexen erfüllt. Unglücklicherweise tauchte ein wenig hinter Cordula der Schneider Maene Daele auf, derselbe, der im »Auferstehungswagen« alljährlich gen Himmel fuhr, den schönen Bart fächerförmig auf der Brust ausgebreitet und die rechte Hand erhebend. Im Nu war seine Freude gesunken: das war so, als ob er plötzlich nur mehr der Torso des wirklichen Christus wäre.
Dann und wann hustete irgend ein Alter, ein anderer antwortete etwas weiter davon, und mit einem Male begann die ganze Gemeinde gleichzeitig zu husten. Als der Prophet Jeremias sich in sein rotgewürfeltes Taschentuch schneuzte, dröhnte seine Nase wie eine Posaune des jüngsten Gerichtes. Eine der heiligen Frauen, die Regenschirmhändlerin, zog jeden Augenblick ihre Glutpfanne unter ihren Röcken hervor und blies mit vollen Backen in die Glut; dann zischte ein Wirbel rosiger Fünkchen auf. Insbesondere aber Joseph, der Zimmermann, gebärdete sich recht auffällig, um sein Erbarmen zu zeigen. Es war ihm deutlich anzumerken, daß er aus Erfahrung wußte, was es hieß, mit der süßen Last eines Weibes und eines zarten Kindleins beschwert, auf den Landstraßen umherzuirren.
Menschliche Wärme, den Brüsten entstiegen, wogte als ein feiner Nebel über der Menge. Der große Chor mit seinen rötlich glühenden Kerzen, deren Heiligkeit in den hohen Spitzbogen erstarb, hatte die mystische Form eines in Liebe blutenden Herzens angenommen.
Ivo vermochte nicht mehr seine frühere Inbrunst zu erlangen: seine Seufzer klangen trocken und gezwungen. Er betete nur ganz mechanisch auf seinem Stuhle kniend, die Arme weit ausgebreitet.