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Zum letzten Male vor der Prozession machte Christus seinem Eselchen in den Dünen einen Besuch. Sein schönes, glitzerndes Fell, sein bläulich schimmerndes Sommerfell hatte die Farbe blühender Disteln. Ivo gab ihm Zucker, streichelte ihn und schwang sich auf seinen Rücken. Wishje Brad führte ihn am Zügel, und so wurde auch mit dem heiligen Grauchen Generalprobe abgehalten. Christoph schien sich wieder bewußt zu werden, daß er alljährlich, am letzten Sonntage des Julimondes, die Ehre hatte, den Heiland auf seinem Rücken zu tragen. Er zeigte sich gefügig und gab seinen Ohren die gewünschte Richtung, daß sie aussahen wie zwei Kreuzesarme. Dann und wann hielt Christus seinen erhobenen Arm eine lange Weile in der Luft und beobachtete an dem Schatten im Sande, ob seine Hand sich bewegte. Die Unbeweglichkeit, das war die Hauptsache; später erzählten sich dann die Bauern nach der Vesper:
»Eher fiele der Turm von Sankt Nikolaus herab, als daß unser Christus auch nur mit der Wimper zucken würde.«
Der Nachmittag hüllte sie in eine Flut von Helligkeit: Ivo und sein Eselchen erschienen mit Gold umsäumt wie die Figuren auf den Kirchenfenstern. In dem linden Meereswind neigten sich die hohen Gräser vor ihnen wie die Palmenzweige. Und die Düne und die Fischerhäuschen und das purpurne Feuerrad der Sonne da oben waren wie aus der Bibel herausgeschnittene Bilder. Christus war mit dem Esel und sich sehr zufrieden; er hatte nicht öfter als dreimal gezuckt. Dann hatte er jedesmal ärgerlich gerufen:
»Mißlungen! Also fangen wir nochmals an, Wishje Brad!«
Cordula war an jenem Tage nach den Dünen gegangen um die Monatsmiete bei den Fischern einzuheben. Sie hatte bei ihrer Base, Otje Ryckboer, Einkäufe gemacht und dann bei den Smets Kaffee getrunken. Die Mutter und die Tochter waren allein daheim. Die Männer waren draußen beim Fischfang. Es gab jedoch jetzt nicht viel zu fangen, das Meer war zu ruhig; sie brachten kaum sechs Körbe von den letzten Ausfahrten heim.
Hier erfuhr Cordula, daß Ivo in den Dünen sei. Seit einer Woche schien er sie zu meiden, um sich besser im Stande der Heiligkeit zu erhalten. Er beichtete jeden Morgen, versäumte keine Messe und keinen Abendsegen, verschärfte seine Fasten. Es war gleichsam wie eine leichte Furcht vor den weltlichen Freuden und Genüssen des Lebens, die ihn die zärtliche und genäschige Maria Magdalena meiden ließ. Er war seiner nicht so ganz sicher, ob er auch der Versuchung widerstehen könnte, wenn sie aus dem Spinde die Makronenschachtel hervorholen würde. Auch mißtraute er dem geheimen Vergnügen, das er jedesmal bei Berührung ihres molligen, zitternden Fleisches empfand.
Cordula verabschiedete sich von der Familie Smet; über die Dünen laufend, rief sie ihm von weitem entgegen:
Seit mehr als einer Viertelstunde hatte der Schatten seiner Hand auf dem Boden nicht mehr gezuckt: er glich einem bleichen, dem Sande entsprossenen Pflänzchen. Um sich zu überzeugen, daß auch sein Kopf sich nicht regte, betrachtete er aufmerksam seine Nasenspitze: und diese schien unter dem blauen Himmelslichte ebenfalls ganz blau.
Ganz glücklich, daß sie ihn in seiner biblischen Haltung gesehen, stieg er vom Esel herab.
»Denket nur, Cordula!« rief er aus, »einem schlichten Manne wie mir, einem Menschen wie alle anderen Menschen, soll es gegeben sein, dergleichen zu vollbringen!«
Sie fragte sich verwundert, was er eigentlich meinen könnte?
»Ich bin noch immer der Christus, dessen Hand nicht bebt«, fuhr er voll Stolz fort.
Nun lachte sie mit ein klein wenig Übermut in den Augen; ihr Lachen war mit einem ganz feinen Duft von Anisette parfümiert. Ab und zu, wenn sie sich ein bißchen vergaß, leckte sie mit der Zungenspitze den süßen Geschmack von den Lippen.
»Ach was,« rief sie, »das ist viel leichter, als nicht zu niesen, wenn Pfeffer in der Luft herumfliegt.«
Ivo liebte es nicht, daß sie solch einen leichtfertigen Ton anschlug.
»Ich bin Christus,« sprach er zurechtweisend, »und Ihr seid Magdalena.«
Er hatte dies schon oft gesagt, aber nicht mit solch einer strengen Stimme. Deshalb schwoll Cordulas empfindsames Herz alsogleich an. Sie sah ihn mit ihren feuchtglänzenden Augen, die auf die volle Rundung ihrer Wangen einen hellen Widerschein warfen, zärtlich an und seufzte:
»Könnet Ihr wirklich so hart zu der sprechen, die eines Tages Euere Gattin werden soll?«
Die Kaninchen hielten mit ihrem Herumspringen im Grase inne, um zu hören, was er darauf antworten würde. Er schüttelte den Kopf, und eine geraume Zeit hindurch blieb es zwischen ihnen ganz still. Dann aber begann er in demütigem, sanftem Tone:
»Kann ein Mann wie ich überhaupt eine Frau wie Euch heiraten, Cordula?«
Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte. Vielleicht spielte er auf den Makel an, der seit der Zeit, da er sich mit den armen Leuten abgab, an seinem Namen haftete.
Mit ihrer honigsüßen Stimme antwortete sie nur einfach:
»Ich würde so etwas niemals von mir gesagt haben, Ivo.«
Er erbebte bei diesen gütigen Worten, als erwachte er aus einer momentanen Geistesabwesenheit, und sein Haupt vor ihr neigend, bat er sie um Verzeihung.
»Sehet Ihr, Cordula, wenn ein Mensch auf Jesu Esel geritten ist, dann wird ihm ein bißchen der Kopf verdreht.«
Zur Zeit, da er seine Wunder vollbrachte, hätte er nicht so geredet; jetzt aber zweifelte er an sich selbst.
Eine Weile blieb es zwischen ihnen ganz still. Traumverloren blickte er vor sich hin, mit dem versonnenen Ausdruck eines Menschen, der in die Tiefen des Lebens blickt. – – – Sie war schon nicht mehr traurig. Hin und wider schlüpfte ihre Zungenspitze über die Lippen, und dann verbreitete sich wieder der feine Anisettegeruch. Sie war die Verkörperung von Flanderns glückseligem Fleisch.
Endlich sprach er sanft:
»Cordula, bedenket, in fünf Tagen kommt der große Tag, und ich bin nur ein Mensch … Es ist besser, ein jeder von uns geht seiner Wege.«
Seine Augenlider zuckten, während er sie anblickte. Und sie begriff, daß er sie begehrte. Ihr Mund ward wie das Herze einer offenen Frucht. Er schlug plötzlich die Augen nieder und betrachtete aufmerksam den Boden, und sie schlich sich gehorsam von dannen.
Ivo Mabbe sprach bei Wishje Brad vor und erteilte ihm seine letzten Weisungen. Der Esel sollte am Morgen der Prozession in die Stadt geführt werden, ohne übermüdet zu werden. Da alle Ställe in den Herbergen unterwegs besetzt sein würden, so wollte der Prophet Moses, seines Zeichens ein Wäscher, in seinem Schafstalle eine Streu für ihn bereithalten. Dort sollte der Esel bis zu dem Augenblicke bleiben, da man ihn zum Einzuge in Jerusalem abholen würde.
Nachdem er das erledigt hatte, ging Christus quer durch die Dünen. Er wollte keinem der Fischer begegnen; es waren da immer solche Leute darunter, die durchaus wissen wollten, wann denn der Tag anbräche, der sie zu Herren der Erde machen würde. Die Erde, das war für sie der schmale Küstenstreif, den sie von ihren Barken aus übersehen konnten wenn sie ins Meer hinauszogen. Seit drei Wochen predigte Christus nicht mehr das Evangelium.
Er sah eine kleine Eselkarawane herankommen, von halbwüchsigen Treibern geführt. Alle lachten, schrien und hieben auf die armen Grauchen ein. Ein Mädchen lief barfuß neben den Jungen her: und auch sie schlug die Tiere mit einem Stecken. Er erkannte Ilje, platt wie eine von den Schollen, die sie verkaufte. Er verbarg sich hinter einem Sandhügel, und erst nachdem er sie weit genug wähnte, wagte er sich hervor. Und um dieser frechen Dirne und ihresgleichen willen hatte er seine Würde als Christus gefährdet! Eine Bitterkeit schwellte ihm das Herz: er wußte selbst nicht, warum er auf einmal diese Tochter des Meeres verabscheute!
Die Sonne verschleierte sich. Allmählich überzog sich der Himmel mit einem zarten Schiefergrau. Da und dort lugte ein Fenster zwischen den Apfelbäumen hervor. Ein paar kleine Mädchen zankten mit schrillen Stimmchen auf der Straße. In einem Hofe spannte ein Mann einen Ochsen ein; das Häuschen war so niedrig, daß Mensch und Tier bis in den Himmel zu reichen schienen. Und man merkte es an der lauen Luft, daß der folgende Tag wahrscheinlich verregnet sein würde.
Ivos Gemüt wurde wieder ruhiger. Hier und da blieb er stehen, um in dem durchsichtigen Auge einer Kuh oder eines Esels den Abendhimmel spiegeln zu sehen. Die sanften Lämmer verleiteten ihn, trotz allem an die Güte der Welt zu glauben. »Wenn bloß die Menschen minder boshaft wären,« dachte er, »so könnte man so glücklich leben …« Und plötzlich schoß noch ein letzter Lichtglanz auf: der Himmel tauchte sich in rosige Farben, kleine Wölkchen flatterten bandartig darüber hin, wie es zuweilen auf alten Gemälden mit betenden Engeln zu sehen ist.
So also kehrte Christus nach Furnes zurück. Das Angelus war längst ausgeläutet worden. Da aber beim Herannahen des Prozessionstages alle Leute beichteten, stand die Kirche noch offen. Er sah den ungeheuren Torbogen sich gleich einer Brücke von der Erde zum Himmel wölben. Das heisere Gekrächze der Dohlen schnitt durch den Abend. Ihn dürstete nach Glauben, Liebe und Verzeihen.
»Ach, mein Gott, der geringsten einer bin ich vor dir, und ich denke und will nichts anderes, als dich verehren und anbeten …«
Unter den Bäumen des angrenzenden Platzes, den ein paar niedrige Häuschen umsäumten, die aussahen wie kleine Beguinenklösterchen, stieß er auf zwei heftig streitende Männer.
»Ich bin der wahre Christus,« knurrte der eine, »denn ich trage das Kreuz, und ohne mich gäb's keine Prozession.«
Er erkannte Landejan, den Sattler, der mit einer Faust auf seine Handfläche paukend, jedes Wort mit einem Schlage begleitete. Aber der Schneider mit dem schönen Barte protestierte:
»Ich allein bin der wahre Christus, denn ich bin es, der zum Himmel aufsteigt. Alles übrige zählt nicht.«
Der dicke Sattler, der eigentlich im Grunde gutmütig wie ein Ochse war, dem er auch in seiner Erscheinung glich, hätte nur seine Faust auf den Schneider herabsausen zu lassen gebraucht, und Maene Daele wäre genötigt gewesen, zuzugeben, daß er der einzige, wirklich unentbehrliche Christus sei. Landejan aber, als wohlbestallter Geschäftsmann mit guter Kundschaft, der mit einem Schöffen verschwägert war, blies von sich vor lauter Selbstbewußtsein und dünkelhaftem Stolz.
»Nun, sagt also, Maene Daele, bin ich's, oder bin ich es nicht? Ich muß es unbedingt wissen, ehe ich meine Jungen zu Euch führe, damit Ihr ihnen neue Kleider anmeßt.«
Da sahen sie plötzlich Christus neben sich stehen, der sie verächtlich beobachtete.
»He,« rief Landejan mit einem derben Fluch, »der da soll zwischen uns entscheiden! Laßt hören, Ivo Mabbe, wer von uns beiden ist der richtige Christus, er oder ich?«
In dem Palmsonntagschristus brauste der Zorn auf. Verächtlich sprach er:
»Seid Ihr nicht Simon von Kyrene, Ihr, der Ihr so laut schreit?«
»Gestern war ich noch Simon, und heute bin ich der Heiland. Es werden nicht viele dasselbe von sich sagen können, gelt?«
Ivo antwortete nicht gleich, dann aber schlug er sich sagen können, he?«
»Und ich?«
Der Sattler, von Natur kein großes Geisteskind, war ganz verblüfft.
»Richtig, der Seilhändler ist ja auch noch da!«
»Der Armeleutechristus«, spöttelte der Schneider verächtlich. Er sah dabei aus, wie wenn er einen Kirschkern ausspuckte.
Der Sattler hingegen bekundete eine gütige Regung:
»Einer mehr, einer weniger, schließlich was liegt daran? Die Hauptsache ist, daß der liebe Gott dabei auf seine Rechnung kommt. He, ihr Christusse, kommt mit, ich zahl' euch ein Glas bei den ›Drei Königen‹. Morgen können wir wieder Buße tun!«
Er sprach ganz unbefangen, als wäre er sich der Heiligkeit der Dinge durchaus nicht bewußt.
»Einen Schoppen Wein, das läßt sich hören«, erwiderte der Schneider, dem es vor allem daran gelegen war, die Arbeit für Landejans Knaben zu bekommen.
»Herr,« betete Ivo im Stillen, »vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun …«
An der Art, wie er die Augen zum Himmel aufschlug, war unschwer zu erkennen, daß er der einzig wahre Christus sei. Mit vorwurfsvollem Tone bemerkte er dann:
»Der Papierhändler hätte das nicht getan!«
Schon wollten sie ihm erwidern, als sie des Vikars Ribosia ansichtig wurden, der längs des Platzes herankam.
»Warten wir ein bißchen,« sagte der Schneider. »Der Vikar braucht uns hier nicht beisammen zu finden.«
Beide entfernten sich ein wenig von Christus, damit man nicht merkte, daß sie eben noch mit diesem falschen Messias, der ein schlechtes Evangelium predigte, im Gespräche gewesen waren.
Ivo ging in die Kirche. Auf den Fliesen kniend, wollte er sich ganz seiner demütigen Inbrunst hingeben. Aber das Menschliche in ihm behielt die Oberhand: er vermochte nicht, die Beleidigung des Schneiders zu vergessen.
»Mein Vater war bereits ein wohlhabender Mann,« dachte er. »Nebst dem Laden hat er uns noch sechs Häuser in der Stadt und ein paar Joch Ackerlandes hinterlassen. Aber er, der Mann mit dem schönen Barte, von dem weiß man ganz gut, daß er bis jetzt noch nicht einmal sein Haus an der Hauptstraße hat vollständig abzahlen können.«
Eine Lampe erlosch nach der anderen; er verließ mit Joseph, dem Schreiner, das Gotteshaus.
Draußen auf dem Platze standen eine Menge Leute herum und sahen beim Aufrichten der Buden für den Jahrmarkt zu, der seit undenklichen Zeiten mit der heiligen Prozession zusammenfiel. Ununterbrochen trafen schon seit drei Tagen lange, schmale Karren ein, von dürren Gäulen gezogen, und hinter ihren kleinen, Schiffsluken ähnelnden Fenstern konnte man dicke, schmutzige Weiber ihre plärrende Brut von Ungeziefer befreien sehen. Taschenspieler und Gaukler, Waffelbäcker und Wunderdoktoren, Wahrsagerinnen und Zähnereißer – dieser ganze Strom kleiner, zweifelhafter, von der Masse lebender Existenzen wälzte sich in trüben, langsamen Wellen hierher, wie er schon zu Jesu Zeiten an die Mauern des alten Tempels gebrandet, um den herum sie ihre Bretterbuden und Schaugerüste errichtet hatten, aus denen ihre feilen Gesichter hervorgrinsten.
Ivo sah von weitem zu, wie sich die kleinen Fensterchen in den Wagen der herumziehenden Wandertruppen erhellten. An den Fassaden, im Purpurscheine der Fackeln glitten allerlei Schatten vorbei. In der Menagerie vor dem Gasthause zur »Edelrose« brüllte ein Löwe. Ein Mann mit einem Affengesicht kletterte auf einer Leiter herum. Über den Wagen kräuselten sich fadendünne Rauchspiralen.
Und eben dieses Völkchen von Marktschreiern, herumziehenden Gauklern und Seiltänzern war es, vor dem er auf seinem Eselchen seinen Einzug halten sollte, die Hand zum Segen erhoben.
Einer der Possenreißer begann zu lachen, als er Ivo mit seinen langen Haaren erblickte, und sprach zu einem anderen Manne, der eben mit ein paar Nägeln zwischen den Lippen die Bretterbude für eine Fischbraterei zimmerte:
»Der ist wohl auch so ein ›Künstler‹ wie wir? … Mit seinem Heiligenschädel gäb' er einen prächtigen Ausrufer ab!«
Nicht weit von dort standen der Sattler und der Schneider, mitten am Platze, bei dem Inhaber eines Karussells. Denen wäre es nicht in den Sinn gekommen, daß solch eine Promenade zwischen Jahrmarktsbuden sich für einen Christus nicht schicke.