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Ivo Mabbe liebte es, ein Stündchen bei Kas Onkelaer zu verbringen, einem der drei heiligen Könige, der den Melchior darstellte. Die meisten der besseren Einwohner der Stadt bekleideten bei der Prozession eine Rolle. Kas war ein alter Mann mit ein wenig krummem Rücken, den er aber am entscheidenden Tag unter seinem mit Kaninchenfell verbrämten Mantel noch recht stolz aufzurichten verstand. Er erzählte mit Vorliebe von der Revolution: ein Bruder seines Vaters hatte in Paris das Haupt des Königs fallen gesehen. Er hatte eine eigene, kunstvolle Art, mit den Lippen das Geräusch des Fallbeiles nachzumachen, wobei er die Augen ganz fürchterlich rollen ließ. Kas Onkelaer war ehemals Gendarm gewesen.
Er bewohnte zwei Stuben und einen Speicher unter einem alten, moosbewachsenen, orangeroten Ziegeldache inmitten eines kleinen Gärtchens. Es war unglaublich, was der heilige König aus dem Morgenlande in seinem zwanzig Quadratfuß großen Gärtchen alles untergebracht hatte. Da gab es einen Buchsbaum in Kegelform, einen zur Pyramide verschnittenen Birnbaum, einen Weinstock im Spalier, da blühten Phlox, Astern, Monatrosen und Sonnenblumen zwischen Einfassungen von Vergißmeinnicht und Nelken. Von der Straße führte ein schmaler, mit Muschelkies bestreuter Pfad zum Hause, der wie ein Regenbogen glänzte und unter den Füßen knirschte. Dreimal im Jahre ging Kas Onkelaer zur Küste, um seinen Vorrat an Muschelkies zu erneuern. Entlang der Mauer lief ein schmaler Rasenstreif, der sich in einer auf einem Dreifuß stehenden Glaskugel widerspiegelte. Zwei rosenrote Hängekörbe auf Eisendraht ließen üppige Efeuranken gleich einer reichen Lockenmähne zur Erde herabwallen. Du lieber Gott! So ein alter Kauz wie dieser Onkelaer, der immer nur von der Revolution erzählte und weder Weib noch Kind besaß, konnte wohl unbesorgt sein Stündchen erwarten, während er im Sommer seine Rosen und im Herbste seine Sonnenblumen betrachtete. Und wenn eines Tages der Tod den kleinen Muschelkiesweg heraufgeschritten käme, würde er ihn bestimmt auf dem kleinen, grünen Bänkchen sitzend finden, mit den Händen auf den Knien, wie irgend ein Heiliger in einem Eckchen des Paradieses.
Eines schönen Nachmittags, als endlich wieder die Sonne nach den vielen Regentagen der vorhergegangenen Woche schien, sah Ivo Kas Onkelaer auf seinem Bänkchen sitzen; und so öffnete er denn das kleine Zauntürchen. Seine derben Sohlen zertraten den Himmel auf dem zart schillernden Perlmutterkies. Da er von Geburt aus eine etwas schiefe Schulter besaß, schien auch sein Arm auf dieser Seite einen längeren Schatten zu werfen.
»Der Herr sei mit Euch, Onkel!« sprach er, seinen Namen scherzhaft abkürzend, wie die anderen Leute es taten.
Und alsogleich wieder nahm sein gotisches, durch den Bart noch verlängertes Gesicht das bleiche Lächeln eines Christusbildes an.
»Wir kennen uns schon so lange, wackerer Onkelaer! Wart Ihr nicht bereits in der Heiligen Nacht der Geburt zusammen mit Kaspar und Balthasar da? Das Kindlein schlief im Stroh. Bei jedem Kusse, den Ihr auf seine Händchen drücktet, schmolz sein zartes Fleisch ein wenig wie Zucker. Und die Erde war mit Weihrauch besprengt, und in den Töpfen standen Myrrhen.«
Man hätte wirklich nicht zu sagen vermocht, ob er von sich selbst sprach oder von dem, der dereinst der Erlöser gewesen.
Der gute Magier hatte ein Körbchen mit frischen Nüssen vor sich stehen. Er wählte eine große aus, knackte sie zwischen seinen Daumen auf und antwortete dann, bedächtig mit dem Kopfe wackelnd und Ivo schalkhaft von der Seite anschauend:
»Wem erzählt Ihr das? Wenn man ein Schafs- oder Wolfsfell zu lange trägt, so wird man schließlich selbst ein Schaf oder ein Wolf.«
Darauf antwortete Ivo voll schlichter Demut:
»Ich bin nur ein armer, einfältiger Seil- und Samenhändler, Onkel, ich bin nur einer der geringsten Menschen.«
Daraufhin verstummte er wieder und blieb längere Zeit schweigend, die Blicke zu Boden gesenkt. Der honigsüße Duft der letzten Sonnenblumen umflutete ihn in der bleichen Sonnenwärme. Große, dicke Fliegen mit goldigen Flügeln, verspätete Nachzügler des Sommers, hingen wie trunken an den Herzen der Astern. Und es herrschte eine solch tiefe Stille, daß man seine eigenen Gedanken hören konnte.
Abermals zerknackten die Daumen des Magiers eine Nuß, und damit wandte man sich wieder den Dingen der Wirklichkeit zu. Diese Nüsse entstammten einer kleinen Lese, die ihm alljährlich ein Vetter von den Dünen sandte: sobald er sie aufknackte, hatte er das Empfinden, ebenso für sein Wohl zu sorgen, wie die anderen, die sich auf den Straßen oder auf hoher See um ihr täglich Brot plackten. Hinter seinem mächtigen, grauen Haupte, das eine umfangreiche Mütze bedeckte, leuchteten die Rebenblätter des Spaliers hervor, die das Haus umkränzten, als wäre es mit Burgunder getüncht. Manches Mal fiel ihm eines davon in den Nacken. Die Vergißmeinnicht sahen ihn unverwandt mit ihren himmelfarbenen Augen an.
»Ja, ja, das ist ein großer Jammer, Kas Onkelaer,« bemerkte endlich Ivo, »wie sehr wir uns auch bemühen mögen, Christi, gegenüber bleiben wir doch immer nur das, was die kleine Nuß, die Ihr da eben schält, dem Weltall gegenüber ist.«
Der Seilhändler war ein nachdenklicher Geist; die Ideen sproßten eine um die andere in ihm auf wie die Samenkörner im Frühjahre, mit denen er Handel trieb; und man verstand ihn nicht immer ganz genau.
»Es ist besser, gar nicht darüber nachzudenken«, bemerkte der ehemalige Gendarm philosophisch und erteilte seiner Mütze einen leichten Stoß. Der da hatte die Menschen so genau kennen gelernt, daß er sich über ihre Bemühungen, auf dem Pfade der Vollkommenheit vorwärts zu gelangen, keinen leeren Täuschungen mehr hingab.
Unterdessen hatte er seine Nuß fertig geschält und machte, Ivo den Korb zuschiebend, auf seiner grünen Bank ein wenig Platz.
»Hm,« räusperte sich Ivo, »ich sage nicht nein.«
Das Wasser lief ihm in den Mundwinkeln zusammen; und er vergrub seine Hand in dem Haufen. Die Nüsse waren köstlich frisch und blond. Abermals war es im Garten stille geworden, während die Schalen unter ihren Daumen knackten.
Plötzlich fing der alte König Melchior zu lachen an:
»Neulich, als ich im Obstgarten bei meinem Vetter war, und der Junge die Nüsse von den Bäumen herunterschüttelte, war das ganz so wie zu der Zeit, als die Jakobiner die Herren waren. Da flogen auch die Köpfe so wie die Nüsse nach allen Richtungen hin.«
Ivo erwiderte nichts: vielleicht dachte er an andere Dinge, vielleicht auch fand er den Vergleich ein wenig lächerlich. Den Körper vornübergeneigt saß er da und führte mit seinen Fingern bedächtig die schwierige Arbeit aus, einer Nuß nach der andern das feine gelbe Häutchen abzuziehen. Mit einer frommen Verrichtung hätte er sich nicht« andächtiger beschäftigen können; Häutchen um Häutchen fiel auf seine Knie. Hierauf biß er tüchtig zu, und seine kräftigen Zähne zermalmten die Nuß in kleine Stückchen. Es war ganz seltsam, den Nazarener bei dieser Tätigkeit zu sehen, als ob er ein Gleichnis der Bibel in die Wirklichkeit übertrüge. Nichts anderes regte sich an ihm als die Finger seiner beiden Hände; wenn er mit hocherhobener Hand auf seinem Eselchen seinen Einzug in die Straßen Jerusalems hielt, war er auch nicht viel unbeweglicher. Insgeheim dachte er aber, daß Kas Onkelaer ihm wohl ein Salzfäßchen hätte vorsetzen können. Das Salz ließ ihn an Pfeffer denken, vom Pfeffer kam er auf Senf, und plötzlich kamen ihm die Worte des Herrn in den Sinn: »Denn ich sage euch, wahrlich, wenn euer Glauben nur so groß ist wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu diesem Berge sagen: ›Hebe dich hinweg von hier und stelle dich dorthin‹ – und er würde sich erheben und nichts würde euch unmöglich sein.«
Er erhob sich, schüttelte die Nußhäutchen von seinen Knien ab und stellte sich in seiner ganzen Größe mit hocherhobener Hand vor den Magier hin. Und an dem Stückchen Nuß, das er zwischen den Zähnen hielt, noch weiterkauend, sprach er also:
»Fürwahr, alter Mann, man soll nie aufhören zu hoffen, und hoffen heißt glauben an alles, was man sehen und nicht sehen kann wie die Gegenwart Gottes; denn Gott ist in allen Dingen gegenwärtig. Und wenn man sich in Gedanken Gott zu nähern sucht, muß man zunächst an sich selbst glauben, denn an sich selbst glauben heißt an Gott glauben, ohne den es nichts Gutes auf Erden gibt. Denn wisset, Christus sagt: …«
Und er wiederholte laut die Worte der Heiligen Schrift, wobei er jedes einzelne mit großem Nachdruck betonte. Der Klang seiner Stimme schwoll, als er zum Berge sprach. Und dabei schaute er Kas Onkelaer an, als wäre dieser der biblische Berg.
Der ehemalige Gendarm schüttelte seinen großen Kopf unter der plumpen Mütze und erwiderte, ohne mit dem Knacken der Nüsse innezuhalten:
»Ich glaube an Christus, an die heilige Jungfrau, an die Heiligen, ich glaube alles; aber das, nein, das glaube ich nicht. Noch nie hat man einen Berg gesehen, der von hier anderswohin gegangen wäre.«
Dabei lachte er mit seinen glattrasierten Backen ebenso herzlich wie seinerzeit über die derben Witze und Geschichten, die man sich im Mannschaftszimmer zuzuraunen pflegte.
Doch Ivo zuckte nur die Achseln und murmelte langgedehnt:
»Oh, du Kleingläubiger!«
Mit gesenktem Haupte schritt er den Muschelweg auf und ab und überlegte, wie er wohl am besten Onkelaer das Gleichnis darlegen könne. Ein Umstand versetzte auch ihn in Verlegenheit, nämlich das ungeheuerliche Mißverhältnis zwischen dem Berge und dem Menschen. Es wäre ihm viel angenehmer gewesen, wenn es sich um einen Kieselstein oder einen anderen unbedeutenden Gegenstand gehandelt hätte.
»Oh Herr!« seufzte er, »ich, der glaubt, beginne ich nun nicht selbst zu grübeln?«
Eine Mücke, die ihn durchaus in sein Ohr stechen wollte, lenkte ihn von seinen Gedanken ab; dreimal verjagte er sie, aber erst beim vierten Male verließ sie ihn endgültig und schlüpfte unter die Mütze des Magiers.
»Teufel«, schrie der Alte, die Mütze vom Kopfe reißend und wie wütend um sich schlagend.
Es war so traulich und still in diesem lauschigen Winkel des Gartens unter dem Rebenspalier, wie auf einem alten Gemälde oder im Märchen. Ein gelber Blumentopf glänzte jenseits der Scheibe, rund und glitzernd wie der Turban eines Mohrenkönigs. Durch die offene Haustür sah man den gefirnißten Eßschrank und darauf eine Delfter Suppenschüssel und einen ausgestopften Papagei unter einer Glasglocke.
Ein kleines Männchen mit dickem Bauche öffnete in diesem Augenblicke die Gittertüre und kam auf seinen kurzen Beinchen herangerollt. Es hatte aufgedunsene Backen wie eine Larve, und ein verwundertes Lachen auf seinen wulstigen Lippen, zwischen denen die Zähne wie weiße Körnchen hervorschimmerten. In der Hand hielt es eine große Pfeife; heiter, glücklich strahlte es förmlich vor Zufriedenheit.
»Der da war damals auch dabei«, bemerkte Onkelaer und zwinkerte Ivo verständnisvoll zu.
Ivo wußte ganz gut, daß jener Bethlehem meinte. Badilon, der pensionierte Zollaufseher mit dem gedunsenen, stumpfnasigen Gesicht, war nämlich niemand anders als der gute Balthasar in Person, der schwarze König aus Arabien. Das war ein Triumph mehr für die Stadt, daß ihn die Natur für seine Rolle eigens so trefflich ausgestattet zu haben schien.
Kaum hatte Badilon die Worte seines Freundes vernommen als er zu lachen begann. Badilon schien nur auf die Welt gekommen zu sein um zu lachen und andere lachen zu machen. Wenn er seine fleischigen, bläulichen Lippen öffnete, lachten die Vögel auf den Bäumen und hielten sie für reife Pflaumen. Badilon also kam jeden Nachmittag, um seinen Freund abzuholen; gemeinsam spazierten sie, ihre Pfeifen rauchend, den Kanal entlang und beobachteten die Leute, die nach Dünkirchen gingen oder von dort herkamen. Beide zusammen mochten wohl gut anderthalb Jahrhunderte zählen; wenn sie von vergangenen Zeiten sprachen, so war es, als hätten sie die Wunder im Morgenlande noch selbst mit angeschaut. Zum hundertsten Male erzählte Onkelaer, daß sein Oheim das Haupt des Königs hatte fallen sehen; es war, als hätte Badilon das noch nie gehört. Dieser einfältige, naive Mann, leichtgläubig wie ein wirklicher Neger, hegte für Onkelaer eine Art ehrfürchtiger Bewunderung. Des Abends suchten sie gemeinsam das Wirtshaus auf und spielten mit Herodes oder dem Propheten Jeremias eine Partie.
Der Nazarener erinnerte sich plötzlich, daß er Maria Magdalena versprochen hatte, bei ihr Kaffee zu trinken, und verabschiedete sich von den beiden mit salbungsvoller Geste.