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IX.

Eines Abends, als Christus an der Tür des Hospizes des heil. Johannes vorüberging, sah er ein nacktes schwarzes Holzkreuz aus dem Schnee aufragen. Daran erkannte er, daß einer der alten Männer des Asyles verschieden war. Wenn eine Frau starb, wurde an das Kreuz ein kleines Blumensträußchen geheftet.

Es war der Tag der Woche, an welchem er seine ständige Partie mit Pilatus, dem Schlosser hatte. Er bog um eine Straßenecke, überschritt einen menschenleeren Platz mit einer Menge Fußstapfen im Schnee und zog eine Klingel. Der Schlosser öffnete ihm eigenhändig.

»Guten Abend, Pilatus!«

»Guten Abend, Christus!«

Sie begrüßten sich als zwei alte Freunde, die einander längst vergeben halten, trotz allem, was die Heilige Schrift darüber berichten mag.

Zu dieser Stunde des Tages feierten die kreischenden Feilen und Zangen in der Werkstätte. Pilatus löffelte gerade seine Suppe aus: er litt schon seit mehreren Jahren an einem Magenübel, das ihn zum Hypochonder gemacht und seinen Teint aschfahl verfärbt hatte. Da er nicht mehr ins Wirtshaus gehen konnte, kam Christus aus Mitleid zu ihm, um mit ihm Karten zu spielen.

Pilatus mit seiner Hakennase in dem eingefallenen Gesichte und Eisenfeilspänen in dem dichten, buschigen Barte, warf mit seinen schwärzlichen, wie von Graphitstaub durchsetzten Händen die Karten auf den Tisch, und das Spiel begann. Ebenso grämlich und verdrossen, wie er da unter dem Lichte der Lampe saß, ein paar bittere Furchen längs der Wangen, konnte man ihn unter Tags beim Blechschneiden oder Feilen von Eisenwerkzeugen sehen. Das mußte man schon sagen, für einen Mann, der seine Hände in des Heilands Blute gebadet hatte, war dies gerade der richtige Beruf. Wenn seine abscheuliche Feile krächzte, kreischte und knirschte, so überlief's einen mit einer Gänsehaut, als hörte man eine böse Seele im Fegefeuer ächzen. Übrigens – sei's mit Recht oder Unrecht – galt Meister Schlimm in der Stadt für einen wenig vertrauenswürdigen Geschäftsmann. Wenn sich jemand ein wenig verdächtig machte, fehlte es nie an bösen Menschen, die dann sagten: »Der kann mit Pilatus zusammengehen«. Der gute Nazarener tat, als merkte er nicht, daß ihn der Biedermann beim Spiele ständig betrog. Mitten in der Partie sagte er plötzlich mit einem merkwürdigen, hämischen Lächeln:

»Schon wieder ist einer abgefahren!«

Es war klar, trotz seines Magenleidens war er nicht gerade böse, jemanden anderen einzusargen. Ivo erinnerte sich an das Holzkreuz vor der Türe des Asyles.

»Einer von da drüben, nicht?« bemerkte er, mit dem Kopfe in die Richtung des Hospizes deutend.

»Ja, der alte Narr, der Pipa.«

Niemand kannte ihn unter einem anderen Namen. Er hatte für ein wenig einfältigen Geistes gegolten, und war ein dürres, hageres Männlein mit einem kahlen, kleinen Köpfchen auf einem langen, wackeligen Hals gewesen. Seit zehn Jahren ging er bei der großen Prozession, zwischen Krieg und Hunger, als eine der Geißeln mit, in der bleichen Maske der Pest, als die dritte Verkörperung des ewigen Todes. Pipa hatte seine Rolle sehr ernst genommen: jedes Jahr ersann er etwas Neues, um seinem Antlitz ein noch grauenvolleres Aussehen zu geben; das letzte Mal hatte er in seinem geschwärzten Gesicht den blutigen Spalt der Lippen wie eine große klaffende Wunde, die ihm bis an die Knochen reichte, verbreitert.

Gleich dem Kriege und dem Hungertode trug er ein Sterbehemd, das mit Emblemen des Todes übersäet war. Der Archivarius in der Stadt, der sich darauf verstand, behauptete, daß der Tod mit allen seinen schmerzvollen Leiden im Mittelalter genau so dargestellt worden sei. Der Arzt hingegen war entgegengesetzter Meinung.

Pipa war nachmittags am Tage der Wanderermesse fortgegangen. Er hatte sich mit großen Schritten, wie dies so seine Gewohnheit war, in die Felder begeben; an der weißen, schneebedeckten Böschung des Kanales konnte man ihn wie einen Storch dahinstelzen sehen. Pipa liebte es, solcherart stundenlang zu wandern. Hartnäckig, starr, unaustilgbar beherrschte eine einzige fixe Idee seinen umwölkten Geist: wenn er immerzu so geradeaus weiterginge, würde er eines Tages zu der Stelle gelangen, von wo aus er genau sehen könne, was auf der anderen Seite der Welt vorgehe. Zwar zog der Weg sich in die Länge: der Horizont wich ins Unendliche zurück, doch er, er verzagte nicht. Wurde er bei seiner Heimkehr befragt, so antwortete er geheimnisvoll, er komme von »dort drüben«. – Vielleicht begann »dort drüben« erst das wahre Leben für sein armes, einfältiges Gemüt.

Nun, und diesmal war Pipa wirklich nach jenen fernen, unbekannten Regionen gewandert, die er immer zu erreichen gehofft. Endlich lernte er die andere Seite der Welt kennen, die ihn stets so geheimnisvoll angezogen hatte. Abends hatte man ihn nicht mehr zurückkehren gesehen: die Leute dachten, daß er sich in den winterlichen Geländen verirrt habe. Aber ein Schiffer, der mit seinem Kahne längs der schneebedeckten Ufer stromabwärts gefahren war, halte auf der Straße einen starren Körper mit weitgeöffneten Augen erblickt, die weit jenseits des Lebens, nach »dort drüben« zu starren schienen. Dann kamen noch andere Leute hinzu, die Pipa erkannten.

»Der Herr sei seiner Seele gnädig«, sprach Ivo salbungsvoll.

»Der Herrgott oder der Teufel«, bemerkte Pilatus.

Und rieb sich abermals die Hände über den Tod jenes armen wegmüden Pilgers, der am Tage der Wanderermesse hinübergegangen war.

Sie spielten vier Partien. Bei der vierten nickte Ivo ein wenig ein. Dieser Augenblick wurde von Schlimm dazu benützt, um ein wenig zu schwindeln und das letzte Spiel zu gewinnen. Eine boshafte Befriedigung blitzte aus seinen schmutzumränderten Äuglein. Mit seinen trüben Blicken, wie sie Magenleidenden eigen, sah er tatsächlich wie das leibhaftige böse Gewissen des Menschengeschlechtes aus. Ab und zu guckte sein Weib in die Stube herein, um sich zu erkundigen, wer gewinne.

Er gab Ivo mit der Lampe in der Hand das Geleite bis zur Straßentüre.

»Gute Nacht, Christus!«

»Gute Nacht, Pilatus!«

Das Städtchen begann bereits unter seinem weißen Pelz einzunicken. Die meisten der Geschäfte waren geschlossen. Zwischen den geschlossenen Läden der Kneipen stahl sich ein schmaler Lichtstreif hervor. Aus einer Stube drang gellendes Kindergeschrei. Im Schnee, zu Füßen der Laternenpfähle zitterten rötliche Pfützen. Einzelne Gestalten verschwanden hinter den Haustüren wie geisterhafte Schatten.

Ivo kam wieder an dem schwarzen Kreuze vorbei. Groß und dräuend erhob es sich inmitten der schweigenden Nacht, wie ein Gespenst mit weit ausgebreiteten Armen. Auf diese Art versinnbildlichte es den Tod des Mannes, der bei der heiligen Prozession so lange schon die abscheuliche Fratze der Pest gemimt hatte. Und wie ein Pestkranker gegangen war, allein zu sterben, allein im jungfräulichen Schnee, fern von den Menschen, allein mit seinem Jenseits-Traume, der nun zur Wirklichkeit geworden war. »Von Pipa« dachte Ivo, sich bekreuzigend, »wird nicht viel mehr in unserer Erinnerung zurückbleiben als von einem kleinen Häuflein Schnee, das beim ersten Sonnenstrahle zerrinnt. Es wird auch nicht schwer halten, ihn zu ersetzen.« Mit der Prozession ging's eben nicht anders als mit allen anderen Dingen in der Welt: die kleinen Leute nach unten für die niedrigen Ämter, und für oben die Großen. Er prustete in seine Backen vor Frost und Geringschätzung.

Er ging über den menschenleeren Platz, der in dem eisigen Winde wie erstarrt dalag. Sankt Nikolaus verankerte hier den Riesenschatten seines Schiffes mit seinem Turme als Mast. Dicht daran schmiegte sich eine Kneipe mit ein paar Häuschen.

Die Wirtshaustüre öffnete sich: und in dem Goldlichte der Gasflammen sah er König Herodes‹ massige Gestalt auftauchen, begleitet von den zwei Magiern, Badilon und Kas Onkelaer.

Mit erhobener Stimme sprach Herodes:

»Morgen nachmittag schlage ich ihn nieder.«

Er redete ganz wie der wirkliche König. Alsogleich auch erwiderte eine andere Stimme von jemandem, den man nicht sehen konnte:

»Ich werde ihn an den Beinen und Ohren festhalten.«

Als in diesem Augenblicke Ivo an ihnen vorüberging, begrüßten ihn die drei mit dem Namen Christus. Er schlüpfte in ein finsteres Gäßchen, das sich längs des ehemaligen Hauptportales der Kirche hinzog; und bog von da in die Hauptstraße ab. Da der Schnee alle Geräusche dämpfte, konnte er das Geklapper der Holzschuhe nicht hören, die plötzlich hinter ihm innehielten, indes eine geheimnisvolle Hand ihn beim Mantel zupfte. Als er sich umwandte, sah er irgend etwas mit wilden Sprüngen wie eine Wildkatze davonhüpfen.

»Schon wieder diese Ilje«, dachte er.

Er rief halblaut ihren Namen, doch sie kam nicht. Plötzlich empfand er einen lebhaften Wunsch, ihre braune Haut, die immer nach dem Meere roch, mit der Hand zu berühren.

»He, Ilje, Ilje!«

Doch er wußte nicht, wohin sie verschwunden war.


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