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I.

Da seht Euch das einmal an, Cordula«, sagte er bei seinem Eintritt in ihre Stube, nachdem er sich die Füße sorglich auf der Strohmatte gereinigt hatte.

Er legte seinen Hut auf den Tisch und begann ein Paket aufzuknüpfen, das eine grobe Sackleinwand umhüllte. Cordula Ryckboer gewahrte einen sauber zusammengefalteten violetten Talar, den sie aber nicht alsogleich auseinandernahm. Ihre Hände strichen vielmehr bebend und zart darüber hin, wie über einen geweihten, heiligen Gegenstand.

»Ach,« sagte sie, »man würde fast meinen, das sei das Gewand unseres Heilands.«

Ivo Mabbe blickte sie nur lächelnd an und nickte mit seinem langhaarigen Kopfe, mit einem merkwürdigen Ausdruck von ernster, salbungsvoller Andacht. Seine Augen unter den hohen, bogenförmigen Augenbrauen waren von Demut, Träumerei und Selbstgefälligkeit erfüllt.

»Ja, freilich ist es das Gewand unseres Herrn,« bestätigte er. »Bei der letzten Prozession war noch nicht der geringste Schaden daran, und jetzt, seht nur selbst, da ist ein Loch, daß man den Finger durchstecken könnte.«

Nun neigte sie sich vornüber, denn sie war größer als er, nahm den Stoff in die Hand, faltete ihn auseinander und hielt zwischen ihren Fingern ein Gewand, das für einen Mann von Ivos Größe eigens geschaffen schien.

Er zeigte ihr mit dem Finger den Riß im Rückenteile gerade unterhalb des Gürtels. Sie trat an eines der beiden Fenster der Stube. Eben begann es draußen zu dämmern; seit gestern fiel ein feiner Herbstregen, ein echter Armeleuteregen, wie er den heftigen, stürmischen Güssen im November voranzugehen pflegt. Ein trübes graues Licht drang durch die überlaufenen Scheiben. Er war ihr gefolgt und hielt mit der rechten Hand den Rand des Gewandes in die Höhe.

»Das ist gewiß durch einen Nagel geschehen«, sagte sie.

Es war ganz still, niemand ging draußen vorüber: in dieser Gasse klapperten die Türen nur zur Zeit der Messe.

Ivo dachte vielleicht an die Nägel am Kreuze, denn er erwiderte, der Heiland habe sie gründlich am eigenen Leibe kennen lernen müssen. Seine ungemein sanften Augen sahen in die Ferne, als ob er selbst diese Leiden fühlte. Sie sah in seinen feuchten Pupillen das vorspringende, niedrige Fenster des gegenüberliegenden Ladens spiegeln, in dem sich schon seit fünfzehn Jahren derselbe Berg von Holzschuhen türmte.

Cordula seufzte; es schien, als müsse auch sie ein Teil der Traurigkeit dieser Minute tragen. Auf dem Kamine schwamm ein Boot mit geblähten Segeln wie es die Fischer an der Küste benützen zwischen zwei weißbraunen Muscheln, die man in Flandern » Kinkoornen« nennt. Eine Katze und ein Hund aus Porzellan standen auf den beiden Ecken des Kamines. Und mit einem Male schien ein hustenähnliches Geräusch das Gehäuse der Uhr in der Ecke zu erschüttern, deren Zifferblatt aus Messing und Zinn einem Monde in einem rüschengezierten Häubchen glich.

Immer weiter kroch die Dämmerung in die Stube herein; bloß das violette Gewand des Heilandes ließ sich noch deutlich erkennen, als wäre es etwas Überirdisches gewesen.

»Das kam nämlich so, Cordula,« brach Ivo endlich das Schweigen. »Der Obervikar sah mich an der Sakristei vorübergehen und rief mich hinein. Der große Schrank stand offen. Er war mit Hanse, der Scheuerfrau, dabei, den Schrank mit Kampferkügelchen anzufüllen. Das Gewand hing über einem Stuhl. Der Obervikar sagte sofort: ›Ivo Mabbe, ein kleiner Unfall hat das Kleid unseres Herrn betroffen.‹ Dabei steckte er seinen Daumen durch das Loch. Ich glaube fast, Cordula, er sah mich dabei so an, als ob ich schuld daran wäre. Nach einer Pause erwiderte ich, daß ich jemanden kenne, der gewiss den Schaden sehr schön ausbessern könnte. ›Nun schön,‹ entgegnete er, ›das wäre immerhin eine Ersparnis.‹ Er sah mich nochmals an und sagte dann, die betreffende Person wäre wahrscheinlich meine Schwester Barbara. Ich aber antwortete nichts.

Ivo lächelte mit seinen gelblichen Zähnen in den feingekräuselten Bart. Einen Augenblick wartete er und fuhr dann fort: »Ich dachte, Maria Magdalena könnte das wohl für Christus tun.«

Über Cordulas hübschen Mund, dessen Lippen wie das Herz einer schwellenden Rose prangten, huschte nun ebenfalls ein Lächeln. Hingebungsvoll sah sie ihn mit ihren naiven, warmen, braunen Augen in ihrem fleischigen Blondinengesicht an und sagte so herzlich, wie eine wahrhaft Liebende:

»Warum sollte ich nicht auch dieses wie alles andere für Euch tun?«

Ivo hob seine glatte Stirn empor. Er war stolz, daß dieses reiche Mädchen, das eine Menge Schmuck besaß und von den Männern umworben wurde, ihn liebte. Er lächelte nicht mehr; in nachdenklichem, ernstem Sinnen sah er in die Ferne, in den Regen der Straße hinaus. Und abermals schlug die Uhr eine halbe Stunde.

»Ja, Cordula,« sagte er, den Kopf schüttelnd, »ich bin doch nur Ivo, der Seilhändler mit dem kleinen Laden, ich besitze nichts weiter als mein Häuschen und das bißchen Land draußen an der Küste.«

Schließlich wäre gar mancher auf die Freundschaft eines so schönen Mädchens wie Cordula stolz gewesen, der leiblichen Tochter des Großbauern Ryckboers, der eines Tages die Dünen verlassen hatte, um in die Stadt zu ziehen.

»Ivo Mabbe,« sprach sie treuherzig, »Ihr wißt, daß es nur von Euch abhängt, – ich bin immer bereit.«

Und es war wirklich so, wie sie sagte: sie war bereit, ihn zu heiraten, es hing nur von Ivo ab; aber der schien keine Eile zu haben. Die Erde drehte sich: jetzt ist es Sommer, dann kommt der Winter, und dann kommt wieder der Lenz. Was kommen muß, das kommt, das weiß man ohnehin. Und mit dieser Sache, an die jetzt alle beide dachten, ging es eben wie mit allen anderen Dingen in flandrischen Landen.

»Es blühen nicht alle Gärten an demselben Tage«, sagte er, die Hand erhebend.

Er liebte es, in Gleichnissen zu sprechen wie der wirkliche Christus in den heiligen Evangelien. So, wie er in der kühlen Dämmerung der Stube vor Cordula dastand, mit seiner wie Elfenbein schimmernden Stirn und den in der Mitte gescheitelten, pomadisierten Haaren, erschien er ihr mit einem Male größer als er tatsächlich war. Mit tausend Freuden hätte sie ihm ihre Felder, ihre Häuser, alles, alles was sie besaß, auf der Stelle hingegeben. Heftig wogte ihr üppiger Busen unter dem Kleide. Und stumm bewunderte sie ihn, wie ein schönes Gemälde. In dem bleichen Schimmer des verglimmenden Tages schien das Gewand des Heilands von einem eigenen Hauche von Heiligkeit beseelt, wie die Figuren eines Kirchenfensters, wie der große Amethyst am Finger eines Kirchenfürsten. Schon dachte er nicht mehr an das, was sie gesagt, er war wiederum Christus geworden.

»Noch etwas,« fügte er hinzu, »es wäre nicht schlecht, wenn man den unteren Rand des Gewandes abbiegen würde; denn es ist ein wenig zu lang für mich. Als der Heiland auf dem Esel einzog, sah man seine nackten Füße.«

Er sagte das so, als wüßte er es von jemandem, der Christus persönlich gekannt hatte.

Es war schon das dritte Jahr, daß er dieses Gewand trug: der frühere Christus hatte es sechs Jahre getragen, ohne daß der geringste Fleck oder Riß hineingekommen wäre. Tatsächlich bedrückte Ivo dieser kleine Schaden wie ein Makel an seiner eigenen Würde.

»Übrigens wird's am besten sein, wenn Ihr es selbst ansehet, Cordula«, sagte er.

Die Nacht war mittlerweile wie mit zahllosen kleinen, schwarzen Federchen herabgerieselt. Er ergriff das Gewand, entfaltete es und hielt es unter sein Kinn, den Kopf leicht vorneigend. Die ganze Stube schien andächtig lauschend zuzusehen. Die gute Cordula holte nun ihren Nähkorb, ließ sich auf die Knie nieder und bog in der Nähe der Knöchel einen Saum ab, den sie mit drei Stecknadeln bezeichnete. Wer hätte gedacht, daß der frühere Küster, der vor ihm den Christus dargestellt hatte, ihn mindestens um einen halben Kopf überragte? Auch jener war übrigens ein frommer Mann, trotzdem er, mit einer zänkischen Frau verheiratet, die ihn mit reichem Kindersegen überhäufte, des öfteren in Gefahr geriet, seinen vom Charakter eines Heilands unzertrennlichen schönen Gleichmut zu verlieren.

Ein paar Augenblicke verharrte Ivo in dieser Stellung, mit dem Kinn das violette Gewand festhaltend, so daß es in geraden Falten bis zu seinen Füßen herabfiel. Christus hätte es seinerzeit auch nicht anders gemacht, wenn er beim Schneider ein neues Gewand anprobierte. Nun preßte Cordula ihre Hände auf die Knie, und mit einem Ruck stand sie wieder aufrecht vor ihm. Dann nahm sie das Gewand aus Ivos Händen und faltete es wieder sorgfältig zusammen. Plötzlich wurde in dem vorspringenden Fenster des gegenüberliegenden Ladens die Lampe angezündet, die mit ihrem matten Strahlenkranz im Abendnebel den Eindruck eines rötlichen, von Nadeln durchbohrten Herzens machte. Die Uhr schlug sechs Mal.

Ivo zählte die Schläge innerlich mit und griff nach seinem Hute: »Sechs Uhr! Meine Schwester Barbara wartet mit dem Abendessen auf mich.«

Er sagte nicht, daß er die Vorwürfe der alten Jungfer fürchtete, falls er zu spät käme. Aber das wußte Cordula ebensogut wie er. Er seufzte. Maria Magdalenas weiches Herz pochte heftiger, voll innigen Mitleids mit dem täglichen Martyrium Christi. Aber fast allsogleich begann sie wieder herzhaft zu lachen; und die düsteren Schatten rings um sie her begannen ebenfalls zu lachen.

»Jesus Maria!« rief sie aus, »Barbara würde mir gehörig zürnen, wenn sie erführe, daß Ihr gerade mir das Gewand zum Ausbessern brachtet.«

Er schüttelte nur traurig das Haupt. Er hätte wahrscheinlich sagen wollen, daß zwischen jenem Weibe und ihm nichts Gemeinsames sei. Aber da er erst seit drei Jahren den Nazarener spielte, war er noch nicht genügend bewandert im Gebrauche der göttlichen Sprache. Und so schwieg er, langsam nach der Türe zurückweichend. Sie vermochte ihn in der zunehmenden Finsternis des Vorplatzes nicht mehr zu sehen; aber sie hörte seinen regelmäßigen Atem dicht vor sich. In dem Mysterium des schweigenden Abends öffnete sich sachte die Türe. Ihre gedämpften Stimmen wechselten einen letzten Gruß:

»Gute Nacht, gesegnete Nacht, Cordula!«

»Gute Nacht, Ivo!«

Draußen rieselte noch immer ein dünner, salziger Regen hernieder, fein wie der Sand des Meeres. Es war zu Furnes, nahe dem Meere.


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