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In der niedrigen Stube saßen Ivo und Cordula hinter geschlossenen Läden, dicht neben dem eisernen Ofen mit dem langen, flachen Rohre. Der Ofen glühte. Cordula hatte schon zweimal Kohlen eingeschoben. Bei jeder neuen Schippe begann der Wasserkessel zu singen wie das Seelchen des Hauses. Dann glaubte der Kanarienvogel in seinem Käfig beim Fenster, daß es bereits Tag sei und begann ebenfalls zu singen.
Wie gut das war, dieses Dahindämmern zwischen Traum und Wirklichkeit! Der Ofen schnaubte, die Kohlen knisterten. Draußen, auf der Straße tobte der Sturm wie das ganze wilde Meer. Seit zwei Tagen ächzten und bogen sich die Häuschen in der Stadt wie Boote am Ankertau. Bisweilen war es, als trommelte ein Betrunkener mit Händen und Füßen gegen die Läden. In den Pausen zwischen den Windstößen hörte man ein Mäuschen an der Diele knabbern.
Cordula und Ivo hatten einen Korb mit Nüssen zwischen sich auf einem Stuhle stehen. Ivo knackte sie mit den Fingern, Cordula unter den Absätzen auf. Ivo wählte sie sorgsam aus und reichte Cordula die schönsten. Während sie die Häutchen abschälten, wurde kein einziges Wort gesprochen. Es war schier nicht zu glauben, welch wichtige Rolle dieser einfache Gegenstand in ihrem Leben spielte.
Beide gaben sich mit dem gleichen Behagen der Süße des Augenblickes hin. Sie fühlten sich so geborgen wie im Paradiese, indes der Wind draußen sein Klagelied sang. In einer Glasvase auf dem Schrank stand das Kirschzweiglein, das, zu Maria Geburt gebrochen, bis Weihnachten blühen muß. Ab und zu schweiften Cordulas Blicke zu dem niedlichen Schiffchen auf dem Simse hinüber, das zwischen der Katze und dem Hahn aus Fayence seinen Bug nach dem zinnernen Monde der großen Standuhr wandte. Dieses hier war niemals hinausgezogen in die stürmische See; im ruhigen Schimmer des Lampenlichtes schwamm es da oben, wie auf den goldenen Wogen eines Meeres, das keinen Schiffbruch kannte. Längs des Rumpfes zog sich ein flandrischer Spruch in weißen, glänzenden Buchstaben hin:
»Oost, West, t'huis best!«
Cordula seufzte häufig auf.
Ein noch heftigerer Windstoß machte das Haus erbeben. Durch eine Ritze im Fachwerk blies der Wind auf die Lampe. Im zuckenden Lichte der Flamme, das alle Gegenstände ringsum mit einem Hauch von Leben erfüllte, kam es nun Cordula plötzlich vor, als bewegte sich die Barke. Dadurch wurden ihre Gedanken auf Kotje Smets große Barke hinüber geleitet, die vielleicht zu dieser Stunde draußen im Sturme tanzte. Seit diese den Namen Cordula trug, war sie wie ein Stückchen ihrer selbst geworden, wie ein Teil ihres eigenen Lebens, das sich losgelöst hatte und nun dem Tode entgegenschwamm.
Ihre Seufzer verdoppelten sich.
»Lieber Christus,« begann sie, »erinnert Ihr Euch noch? Heute sind's gerade drei Wochen, daß der Herr Vikar Kotje Smets Barke einweihte. Ihr wäret mit den anderen dabei. Er sprach ein Gebet, erhob die Hände und machte das Zeichen des Kreuzes. Alle hatten das Haupt entblößt; in den Dünen vernahm man das grollende Meer. Und zum Schlusse sprach der Geistliche: ›Lieber Gott! Nimm das Schifflein, das den Namen Cordula trägt, unter deinen Schutz!‹ Ich werde diesen Moment nie vergessen, ich hatte das Gesicht ganz naß von Tränen.«
Er schälte seine zwanzigste Nuß: er schien wie aus einem Traume zu erwachen.
»Ich,« erwiderte er sanft, »ich war in Gedanken bei meinem Eselein in den Dünen.«
Sie streifte ihn mit einem lieblichen Lächeln. Selbst wenn sie vom Elend der Welt sprach, vermochte sie nicht umhin, zu lächeln, denn sie selbst war eitel Freude und Leben.
»Oh! sein schönes, graues Fell ruht jetzt behaglich zwischen der goldigen Streu; es ist ein richtiges Eselchen unseres lieben Heilands. Aber ist das eigentlich gerecht, daß ein Tier glücklicher als die Menschen sein soll, wenn draußen auf dem Meere ein solches Unwetter tobt?«
Ivos Hand entsank die Nuß: es war, als hätte der wahre Heiland ihm plötzlich ein Zeichen gegeben. Er stützte seine Ellbogen aufs Knie und starrte ins Weite.
»In der Tat, Cordula, Ihr sagtet da etwas sehr Trauriges und Wahres. Während wir daheim gemütlich vor dem Feuer plaudern, gibt es so und so viele Menschen, Geschöpfe Gottes, draußen auf dem Meere in Gefahr, Schiffbruch zu erleiden!«
Er wiegte sein Haupt auf seinen Schultern und begann nun auch seinerseits zu seufzen. Eine bedrückende Stille verbreitete sich um die beiden. Sie hörten das Mäuschen an der Diele scharren. In der Vase, darin das Kirschzweiglein reifte, stieg eine Luftblase auf und zerplatzte an der Oberfläche.
»Es war ein prächtiges, klares Allerheiligenwetter an jenem Tage,« fuhr Cordula, ihren früheren Gedanken verfolgend, fort. »Die Pferde hatten die Barke bis zu der Küste gezogen; eine recht mühsame Arbeit in dem Sande. Und dann ließ Kotje mich einsteigen und Euch ebenfalls. Kotje und seine Jungen hatten damals wohl ein Schlückchen zu viel getrunken.«
Abermals stöhnte das Haus und knirschte und krachte wie von Sturmwellen gepeitscht, ein winzig Ding in dem ungeheueren Orkane.
»Ach, ach,« seufzte sie, die Hände ringend, »wenn Ihr wirklich Christus wäret, würdet Ihr Euch dann nicht in einer Barke zu ihnen begeben und den grimmigen Wogen Einhalt gebieten? Bedenkt doch, in diesem Augenblicke beten eine Gattin und ein paar unschuldige Kinder mit aufgehobenen Händen für die da draußen!«
Ivo erbebte: er sah auf dem Plafond den hellen Lichtkreis des Lampenzylinders tanzen, wie das lebendige Licht des Heiligen Geistes. Seine geweiteten Augen glänzten. Er hob die Hand. Der Schatten auf der Wand zeichnete eine schöne Geste, wie eine Abbildung des Heilands, da er redete. Und er sprach die seltsamen Worte:
»Jawohl, Cordula, also sollte es sein. Vielleicht kommt der Tag, da ich die Barke besteigen werde. Die Hauptsache ist nur ein starker Glaube.« Er befand sich in dem erregten Zustande eines Menschen, der die Stunde großer Ereignisse nahen fühlt. Ein seltsamer Schmerz schnürte ihm das Herz ab. Sein sanftes, biblisches Gesicht verkrampfte sich in bleicher Angst. Er schlang seine Arme um seine Brust, als hielte er bereits einen seiner sterbenden Brüder in Christo in leidenschaftlicher Umarmung an sich gepreßt. Und wie ein inbrünstiger Aufschrei seines ganzen Seins entrang sich ihm der Ruf:
»Herrgott! Verlasse sie nicht!«
Hierauf rieselten ihm die Zähren in dicken, schweren Tropfen über die Wangen.
Cordula erhob sich von ihrem Sitze, trat auf ihn zu und wischte jede einzelne seiner Tränen, mit den Fingerspitzen auffangend, an ihrer Taille ab. Ihre Lider zuckten nun ebenfalls: auch sie war dem Weinen nahe. Aber die feuchten, fleischigen Lippen in dem fetten, wie ein Butterbrot glänzenden Gesicht bewahrten immerzu ihre lächelnde Form. Just ebenso mußte die blonde Tochter der Liebe dereinst dem wirklichen Heiland sich genähert haben: sich sanft über ihn neigend und ihn mit der Liebkosung ihrer Nähe berührend.
»Lieber, kleiner Nazarener … Sind wir nicht alle …« Sie wußte nicht mehr ganz genau, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Ihr Gedächtnis ließ sie jeden Augenblick im Stich; aber manche Stimmen bedürfen nicht erst der Worte, um sich verständlich zu machen: die ihre zitterte voll Innigkeit. Dank der Wärme ihrer liebreichen Hände begann Christus wieder Leben und Zuversicht zurückkehren zu fühlen.
»Ach Cordula! Ihr wolltet wohl sagen, daß nicht nur die draußen auf dem Meere, sondern wir alle stets in Gefahr des Unterganges schweben? Damit habt Ihr ganz recht.«
Er starrte vor sich hin:
»Jawohl, Cordula, eben deshalb müssen wir mit unserem Nächsten Erbarmen fühlen, was immer er auch sei. Eine Seele ist und bleibt eine Seele – selbst wenn es die einer – – – –«
Nichts in der Welt zwang ihn, plötzlich an jenes Mädchen, das immer nach Fischen roch, zu denken. Erst neulich, als sie wieder ihr unaufhörliches Geschrei: »Kleine Fischchen« vor seiner Ladentür erschallen ließ und unverwandt durch die Scheiben starrte, war er nahe daran gewesen, den Stadtpolizisten zu rufen, der draußen müßig auf und ab ging, die Pflastersteine der Straße zählend. Sie war eines jener Geschöpfe, die man instinktmäßig haßt, ähnlich wie man einen Fremden mit einem Buckel oder mit einer schiefen Nase nicht leiden mag.
»– – – – einer Ilje wäre«, vollendete er.
»Oho,« rief Cordula ein wenig verletzt auffahrend, »ist das nicht die schmutzige kleine Dirne, die immer in den Straßen herumläuft?«
Er hob abermals die Hand und sprach voll milder Güte:
»O Weib, gerade mit diesen sollen wir mehr Erbarmen haben, denn mit allen anderen. Wenn man einen verwundeten Storch auffindet, so streut man auch nicht Pfeffer in seine Wunden, sondern salbt sie mit Butter. Übrigens, wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«
Er redete wie Christus.
»Wie könnte man einen Mann wie Euch nicht lieben?« rief sie lächelnd in die Hände klatschend.
Er liebte sich nun selbst um seiner großen Liebe willen, die er für die ganze Menschheit empfand. Sein Gram war geschwunden; und er war frei von aller Hoffart. Nun mochte der Sturm die Dachrinnen zerreißen und die Türen aus ihren Angeln heben: sie saßen hier eng beisammen, warm bis ans Herz hinan, den schwindenden Stunden lauschend, die in ihrem tiefen Seelenfrieden wie Öltröpfchen verrieselten. Und sie aßen eine Nuß nach der anderen. Das Mäuschen scharrte noch immerzu. Und der Kirschenzweig entfaltete sich Blatt um Blatt, gleich einem verheißenden Symbole.