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Schloß Segenhaus – Carmen Sylva. 1893-1896

August Bungert! Reiche Erinnerungen knüpfen sich an den bedeutenden Menschen, den glücklichen Tondichter, den treuen Freund, an die heiteren, geistreichen Stunden, in denen er – homerischen Geistes voll – uns in andere Welten versetzte, uns trunken machte mit klassischem Idealismus, phantasievollen, hellenischen Heldensagen, denen er immer neue »unerhörte«, wie er sich ausdrückte, hinzuzufinden wußte. Schon seine Lieder weckten mein lebhaftes Interesse, und Odysseus' Worte am Schluß der Nausikaa:

»Scheidend von hier, erkenn' ich,
Daß des Menschen Wille eins sei
Mit dem Willen der Gottheit! Entsagend
Erfüll' ich des Lebens tiefen Sinn!«

griffen einst, als er sie mir sang, tief an mein Herz. Wer kennt nicht das Wort Entsagung, das auch in mein Leben so unsanft hineinspielte?

Einsam und vereinsamt erinnerte ich mich seiner Lieder. Sollte ich wirklich nie mehr singen dürfen? Der Drang nach innerer Auslösung war wieder stark und siegte über alle ärztlichen Warnungen. Da lernte ich schon wieder, übte erst leise, dann immer lauter, bis ich mir die Gewißheit gewann, daß mein Herz sich solcher Arbeit niemals widersetzen würde, wenn meine Kopfnerven oft auch noch anderer Meinung waren. Ich hatte mir im Herbst schon ein stattliches Programm aus Bungert-Liedern zurecht geschaffen, die ich am 3. Dezember 1892 in Dresden in einem Bungert-Abend singen wollte, als Bungert an meinem Geburtstag zu mir kam, mir eine kleine Marmorplatte von der Königin Elisabeth von Rumänien zu überbringen, die sie persönlich mit für mich gedichteten Versen beschrieben hatte.

Gebt mir ein Lied, ein tönend Lied
Mit leuchtenden Gedanken,
Die vom Olymp kein Trotzen schied,
Die Götterodem tranken.

Gebt mir ein Lied aus tiefem Quell,
Jungfräulich rein, kristallen,
Das soll mit lauterm Flutgewell
Das Waldtalland durchhallen.

Gebt mir ein Lied aus tiefem Leid,
Das soll so selig klingen
Von allem Erdenleid befreit,
Daß mir's die Engel singen.

Den 24. Nov. 1892.
Carmen Sylva.

Ohne daß ich es ahnte, hatte Bungert die Königin davon unterrichtet, daß ich seine Lieder in die Welt zu tragen vorhatte. Die Lieder einer Königin! Unter welch unvergleichlichen Umständen sie entstanden, hatte er uns oft erzählt. Als Freund der Fürstin-Mutter Marie zu Wied, ihrer Kinder – des Fürsten Wilhelm Adolph und seiner Gattin, Prinzessin Marie der Niederlande, Königliche Hoheit, sowie deren Kinder –, lebte Bungert wochen-, ja monatelang auf Schloß Segenhaus und Monrepos, wo oft auch Königin Elisabeth als Gast ihrer Mutter weilte. Dort lebte und webte alles in Kunst und Wissenschaft und lachte in echt rheinischem Frohsinn, wie man ihn eben nur im Rheinlande kennt. Auf Spaziergängen oder -fahrten, im Familienkreise, überall, wo man ging und stand, entsprangen dem gottbegnadeten Herzen der königlichen Dichterin Poesien und Lieder, die, kaum niedergeschrieben, in Bungert – wenn er der Königin über die Schulter sah – schon musikalische Gestalt annahmen, und die, von ihm kaum niedergeschrieben, von den lieben jungen Kindern auch schon gesungen wurden. So reichten sich Talent, Gefühl und glückliches Ineinanderfinden die Hände zu selten treuer Freundschaft, die allen Beteiligten, in Freud und Schmerz, gleichzeitig zustatten kam. Und Schmerz und Leid sollten auch hier nicht ausbleiben.

Für Mitte Januar 1893 erging an mich die Einladung der Fürstin-Mutter, einige Tage auf Schloß Segenhaus ihr Gast sein zu wollen; und diesen Umstand nahm Bungert wahr, mich für ein Konzert in Neuwied zu begeistern, wo ihm außer der fürstlichen Familie noch viele andere Freunde lebten.

In furchtbarer Kälte kam ich am 19. früh dort an und erfuhr hier, daß König Karol wenige Minuten vor mir mit zwei Ministern zum Besuch bei der Fürstin eingetroffen war. Das Unvorhergesehene traf sich herrlich für mich. Ich nahm für wenige Stunden Wohnung bei der liebwerten Familie Winz, die mich auch für den Tag des Konzerts gastfrei beherbergte, da ich weder vor noch nach demselben den weiten Weg vom Schloß herunter und hinauf hätte zurücklegen können.

Schloß Segenhaus, der Fürstin-Mutter Witwensitz, liegt hoch über dem Städtchen Neuwied in den Bergen, wohl eine gute Stunde zu Wagen. Ein von Reben, Rosen und Schlingpflanzen umflochtenes älteres Haus. Von Schloß und Garten sieht man weit hinein ins Tal, das der Rhein als »Silberband« durchschlängelt. Eine Viertelstunde auf abfallendem Wege ein großer Platz, von herrlichen uralten Bäumen umstanden, der Lieblingsplatz der Königin Elisabeth: »die Gräber«, wie sie ihn nannte, wo ihr Vater, den sie so überaus geliebt hat, ruht, und jüngere Geschwister neben ihm. – 15 Minuten über Segenhaus, Schloß Monrepos, einst ihren Eltern gehörig, jetzt von ihrem Bruder, dem regierenden Fürsten Wilhelm Adolph, bewohnt. Dort verlebte Elisabeth ihre Kindheit, dort barg jedes Plätzchen Jugenderinnerungen intimsten Kinderglücks.

»Ob in kleinen Stübchens Laubgewind
Alle die Gedanken wohl noch sind?«

frägt Elisabeth in ihrem Rheinlied »Monrepos«. Sicher! Sie hätte sie als Carmen Sylva sonst nicht wiederzufinden vermocht.

Am frühesten Nachmittag wurde ich vierspännig hinaufgefahren durch die herrliche Winterlandschaft zu ihr, zu ihr! Daß ich mich nach der Dichterin sehnte, deren Stimmungen und Gefühle mir hier erst so recht aufgingen, wen könnte es wundern? Bungert war mir oben entgegengekommen und führte mich durch eine runde Musikhalle ins Haus, wo ich ablegte. Hier empfing mich der einst berühmte, sehr feine und kluge badische Finanzminister, Baron von Roggenbach, der intime Freund des Hauses, und gleich darauf trat die Fürstin mir selber im Salon entgegen, indem sie mich zärtlich in die Arme schloß und herzlich küßte. Die Fürstin, eine Siebzigerin mit schneeweißem Haar, groß und schlank, der Teint Milch und Blut, war schwarz gekleidet; Kopf und Gesicht umrahmte turbanartig leichtes weißes Gewebe, das ihr ein phantastisches Aussehen gab. In der Fürstin fand ich sofort eine mütterliche Freundin, die sie mir bis zu ihrem Tode noch in ihren wundervollen Briefen blieb. Sie stellte mich dem König vor, den ich allein mit ihr im Salon fand, und der mir mit seinem ernsten, äußerst klugen, schönen Gesicht und seinen Adleraugen, denen nichts zu entgehen schien, einen sehr tiefen Eindruck machte. Dieser Mann wußte, was er wollte; er war sich klar über seine Pflichten als Mensch und König, der ganze Mann der personifizierte Ernst. Er war nur für vier Tage heraufgekommen, war sehr lieb gegen mich, wie mir denn hier oben alles voll familiärer Güte entgegenkam. Wir waren eben in interessanten Gesprächen vertieft, als die Türen aufgingen und die Königin, von Komtesse S. gemeldet, im Rollstuhl hereingefahren wurde. Mir schlug das Herz bei dem aufregenden Moment einer ersten Begegnung mit dieser seltenen Frau. Aber da sprach sie mich schon an; ich beugte mich zu ihrem Sitz und küßte ihre lieben Hände. Wir blieben beide eine ganze Weile stumm. Dann sprach sie liebe Worte zu mir, und ein Strahl ging von ihren Augen, ihrem schönen Lächeln aus, das alles um sie herum erhellte. Es ist auch etwas Schwebendes in ihrem Gange, wie ich später sah, etwas »Durchsichtiges« im Wesen dieser Königin, die sich vor aller Welt so wenig zu verstellen gelernt hat und sich am liebsten gab, wie sie ist. Sämtliche Rheinlieder tanzten vor meinen Augen. »Hurra, der Rhein!« Jedes Wort darin, jedes Bild, wie es ihre Augen gesehen hatten – wie ich es jetzt sah an diesem Ort, in dieser Umgebung verstehen lernte – war sie selbst, wie es aus ihrem Herzen quoll: sie und der Rhein!

Waren auch die Zeiten nicht mehr ganz so heiter wie einst, wo Übermut und Frohsinn die Zügel führten, der herrlichsten Anregungen gab es bei diesen bedeutenden Menschen fast zu viele. Die Königin war leidend, bedurfte der Ruhe und Zerstreuung im wohltuenden Sinne, und alles drehte sich in diesem Hauswesen um die Gesundheit und das Wohlbefinden der allen so teuren Frau. Sie hatte viel Enttäuschungen ertragen, denen ihr edles Vertrauen, das sie allen Menschen, die ihr gefielen, entgegenbrachte, nicht entgehen konnte, unter denen gerade sie so viel tiefer leiden mußte als jeder andere. Oft war sie so verstimmt, daß sie nicht einmal mehr den Willen zum Leben hatte. Dann überließ sie sich vollständig der Apathie ihres Zustandes, und man hatte Mühe, sie aufzuheitern. Wenn das aber gelang, konnte sie recht gut gehen, heiter und sonnig sein und alles um sich herum beglücken, wie das so ihre Art war. Was hatte diese Frau schon alles geschaffen! Das Dichten war ihr zu eigen wie dem Vogel der Flug. Eben hatte sie herrliche Kunstblätter in byzantinischen Mustern und Farben für Kirchenbücher gemalt und ihre entzückenden Jugendgedichte auf feinste Elfenbeinblättchen geschrieben. Aphorismen flossen ihr aus der Feder wie mir die Töne aus der Kehle. Prachtvolle Handarbeiten machte sie; ruhelos waren Kopf und Hände, wie eben ein Talent das andere bei ihr förmlich überwucherte. Mußte da nicht auch einmal eine Reaktion eintreten? Alles, was Liebe aufbieten konnte, sie wieder gesund und glücklich zu machen, geschah von der Fürstin-Mutter, vom König, der sie liebte, der hierher geeilt war, sie zu sehen. Und sicher war sie schon auf dem Wege der Besserung. Fing sie doch schon wieder an, sich für ihre Toilette zu interessieren, und hatte sich extra zum Konzert ein Kleid bestellt, das gar nicht schön und prächtig genug dafür ausfallen konnte.

Nachdem mich die Fürstin in meinen beiden gemütlichen Zimmerchen installiert und ich ein wenig geruht, versammelte sich die Familie gegen Abend in der runden Musikhalle, wo ich, von Bungert begleitet, einige unserer Lieder vorsingen wollte. König Karol, der kein Musikkenner im eigentlichen Sinne, auch nie eine Poesie der Königin, geschweige denn ein Lied gehört hatte, war mit einer Einladung zur kleinen Soiree gar nicht belästigt worden. Um so mehr erstaunten wir, als er bitten ließ, einen Augenblick zu warten und mit dem Konzert nicht anzufangen, bis er da sei. Und nun er erschienen, begannen wir: »Hurra!« (auf der Mainzer Brücke). Die Königin lachte und weinte und schluchzte dann, an mich gelehnt, als ich geendet hatte und in tiefer Rührung neben ihr kniete. Sie flüsterte mir leise zu: »Mir ist's, als wäre ich tot gewesen und stünde wieder auf!« Nun, etwas Besseres wollten wir gar nicht. Nachdem ich acht Lieder gesungen, die der König alle mitangehört, war er begeistert und lud mich und Bungert wiederholt ein, nach Bukarest zu kommen und im Palais zu musizieren. Um 7 Uhr vereinigte uns das sehr gemütliche Diner, wobei selbst der sonst so ernste König heiter war und sich über vieles, was ich aus Amerika erzählte, amüsierte. Die beiden Minister, die das Diner noch mitmachten, reisten am Abend ab, und auch die Königin zog sich noch vor Schluß des Diners zurück, da sie tatsächlich sehr angegriffen war. Und ich war's auch, trotz der übermütigen Laune, die ich damals noch so selten zu finden wußte. Ich verstehe gar nicht, daß ich diese Nacht – von der lieben Fürstin auf mein Zimmer geleitet – wirklich schlafen konnte.

Der Fürstin Tag begann früher als der unsere. Schon um 6 Uhr hielt sie mit der bei ihr versammelten Dienerschaft eine kurze Andacht und gab ihre Befehle für den Tag. Um 8 Uhr war gemeinschaftliches Frühstück, woran aber die Majestäten nicht teilnahmen, da die Königin bis um 11 Uhr zu Bett bleiben sollte, wobei ich ihr eine volle Stunde Gesellschaft leisten durfte. Über Nacht war drei Fuß hoher Schnee gefallen; trotzdem wollte die Königin mit uns zu den Gräbern. Sie wurde auf einen Schlitten gesetzt, Bungert ging neben ihr, König Karol und ich wateten durch tiefen Schnee hinterher. Immer mehr bewunderte ich die ruhige Autorität des Mannes. Er hatte schwere Arbeit vorgefunden beim Antritt seiner Regierung und war nicht müßig gewesen. In drei grausamen Kriegen hatte er genug Menschenunwürdiges kennen gelernt und meinte: » Man solle alle Könige wie gemeine Soldaten Kriege mitmachen lassen, dann würden keine mehr geführt werden

Als er um Elisabeth freite, hatte er sie gefragt, »ob sie mit ihm arbeiten wolle?« worauf sie glückselig einschlug. Wie arm sie ihre Regentschaft anfingen, das heißt in welch kleinlichen Verhältnissen, hat mir die Königin oft erzählt. Was lag daran? Arbeit, Menschen bilden, Künste pflegen, sich aufopfernd ihren Pflichten leben, war beider Ziel und Wille. Was je die Königin in ihrem idealen Streben begann, z. B. die Blindenstadt, die Seidenraupenzucht und anderes, nahm nach kurzen Anfangsstadien der König liebevoll in seine Obhut, indem er sämtliche von ihr ins Leben gerufene Institutionen verstaatlichte und beide sich auf diese Weise unvergängliche Monumente im Herzen des Volkes setzten.

Der König kennt übrigens ganz Berlin und kannte Vater Kalisch sehr gut. Wie schade, daß Paul Kalisch der auch an ihn ergangenen Einladung nicht hatte Folge leisten können.

Am Ökonomiegebäude standen Rehe an den Stalltüren und bettelten um Futter. Ach wie gerne wäre ich hingerannt, ihnen ein Bündel Heu hinauszuwerfen. Den Augenblick benutzte ich aber, König Karol recht herzlich zu bitten, sich auch in Rumänien der armen Tiere anzunehmen und gelegentlich einmal mit unserem Kaiser davon und dafür zu sprechen. König Karol versprach es mir; ich denke, er hat Wort gehalten.

Das Konzert fand in der Wagenremise des Fürsten statt. Fünfzig Equipagen waren entfernt, fünf große Gasöfen gesetzt, alles mit dicken Teppichen belegt und so ein der königlichen Besucher und unserer Künstlerschaft würdiger Konzertraum geschaffen. Nur der Schöpfer dieses üppigen Arrangements, Fürst Wilhelm, der, jüngst schwer erkrankt, jetzt Heilung in Italien suchte, mußte dem Feste fernbleiben. Dafür war seine Gemahlin schon zu unserer Probe gekommen und drückte mir mit einem einzigen Worte aus, was sie empfand: »Monumental!« Gern hätte ich ihr das Wort zurückgegeben, dieser großen, schlanken Frau, die wenig sprach, deren Gesicht nichts von Schönheit anhaftete, aber unendliche Güte ausdrückte; »Königliche Hoheit« in ihrem Innern und Äußern. Wie glücklich empfanden wir ein Zusammentreffen in Paris um 1900 beim deutschen Botschafter, Fürst Münster, der mich hier unaufgefordert aufsuchte und uns einander zum Diner »aufbaute«, wie er sich ausdrückte, die fürstliche Familie mir und mich ihr. Und dann fiel so schnell so tiefer Gram auf sie herab; und dennoch lächelte sie verklärt ihre Umgebung, ihre lieben Kinder an, als wir in Wiesbaden uns wiederfanden und wie die Kinder bei ihr tollten. Und dann war sie so bleich, ihr Haar so weiß geworden, als ich ihr zum letztenmal begegnete, wo mich ihr feines Wesen und Gefühl an meine Mutter erinnerte. Ich denke, sie wußte, wie ich sie verehrte, und daß ich sie nie vergessen würde.

Strahlende Gesichter, glückliche Herzen schuf der Abend, und immer neue Lorbeeren hatte Königin Elisabeth für mich übrig, die ihr und Bungert aber gleichmäßig zukamen, wie der Enthusiasmus des Publikums. Der König, der seinen Arm über Elisabeths Stuhllehne gelegt, hörte andächtig zu; an zwei der schwersten Lieder fand er den größten Gefallen.

Der nächste Morgen vereinigte uns schon wieder. Nach dem Frühstück wurde für die hungernden Vögelchen Brot geschnitten, denen man große Näpfe voll vors Fenster setzte. Um 5 Uhr verabschiedete sich König Karol von der Königin und bat sie dringend, bald zu kommen. Für mich und Bungert erneute Einladung, und fort eilte er, von der Fürstin-Mutter zur Bahn geleitet, nach Bukarest. – Diese Nacht schlief ich gar nicht; es war zuviel für mich, und gänzlich unfähig, aufzustehen, traf mich der Morgen. Da ich dem Frühstückzeichen nicht Folge leistete, schickte man Komtesse S., mich zu holen; ich mußte sie bitten, mich zu entschuldigen. Fünf Minuten später kniete die Fürstin-Mutter vor meinem Bett, hielt meine Hände wohl zwanzig Minuten fest in den ihren und versuchte durch »Sympathie« mich meinem elenden Zustande zu entreißen. Es gelang ihr schlecht, da ich kein Medium, mich aber endlich zum Aufstehen zwang, weil ich nachmittags nach Cöln mußte, wo für den nächsten Tag unser Konzert angesetzt war. Bis zur Abreise wurde ich gepflegt und verhätschelt wie ein krankes Kind und schied mit Eindrücken beladen, wie sie nur selten in solcher Fülle jemand geboten werden.

Schon der Oktobermond führte Bungert und mich zu einem zweiten Konzert nach Neuwied als Gäste auf Schloß Segenhaus. Da sah es doch schon anders aus. Die Königin war bereits eine ganz andere geworden, der wieder Lebenslust aus den Augen sprühte, und die uns in Gemeinschaft der teueren Fürstin-Mutter herrliche Tage bereitete. Da sich meine Ankunft um eine Stunde verspätete, versäumte ich, dem jungvermählten rumänischen Thronfolgerpaar hier zu begegnen, das der Königin soeben einen Besuch abgestattet. Die schöne, sechzehnjährige Thronfolgerin war schon überzeugt, »daß man die Männer, um sie vor Torheiten zu bewahren, beschäftigen müsse«.

Januar 1896 konnte endlich auch Paul Kalisch der so oft wiederholten Einladung nach Schloß Segenhaus Folge leisten, wo wir zwei berauschend schöne Tage verlebten. Die Königin, nun vollständig genesen, las uns wundervolle französische Novellen und heitere deutsche Sachen vor; mir schrieb sie eigenhändig aus ihren Essays »Künstlers Beruf« ab, den sie mit Carmen Sylva Zum Erinnern an die dreifache Hexendarstellung! unterschrieb. Damit war ihr Lied »Die Loreley« gemeint, das sie gedichtet, Bungert vertont und ich gesungen hatte.

Sie wurde nicht müde, uns singen zu hören. Nur daß wir den Tristan nicht mitgebracht, ihn also nicht singen konnten, machte sie unlustig. »O ich weiß,« sagte sie gereizt, »ich soll auch gar nichts mehr genießen, alles wird mir vorenthalten!« Die Ursache dieses Ausbruchs galt der Fürsorge der Fürstin-Mutter, die sich noch immer ängstigte, die Königin könne sich zu sehr erregen. Mein Mann sang also Cornelius und Jensen, während ich einige Mozart-Arien vornahm, die nun wieder die arme Fürstin-Mutter so angriffen, daß sie laut weinte. Wie gern hätten wir dem Wunsche der Königin entsprochen, die Tristan und Isolde genossen hätte wie keine andere.

 

Lebenslust und Schaffensfreude waren mir nun wieder zurückgekehrt; und kaum hatte ich in Deutschland dem lebendigen Liederkomponisten August Bungert die Wege geebnet, als ich eine zweite wichtige Aufgabe ins Auge faßte: dem toten Meister Robert Franz denselben Dienst zu leisten. Einst hatten ihn begeisterte Anhänger, wie Senfft von Pilsach und andre, vortreffliche Sänger, gesungen und verbreitet; jetzt war er so gut wie vergessen; nur die gangbarsten Gesänge noch hörte man hie und da erklingen. Indem ich Bekanntes und Unbekanntes, Niegesungenes von ihm bot, erinnerte ich Deutschland an ihn, eroberte ihm Österreich, Amerika und endlich auch Paris, wo man nicht selten einzelne Liederperlen mich dreimal zu wiederholen bat. Sein Sohn, Dr. Richard Franz, schrieb mir nach den ersten Anfängen dieses Triumphzuges, mit welchen Intrigen sein Vater früher zu kämpfen gehabt, und wie er besonders unter Carl Reineckes Feindschaft gelitten hatte. Durch mich erst sei der Bann gebrochen, seinem Vater der Sieg zuteil geworden. Offen gestanden glaubte ich die Ursache dieses Vergessens mehr darin zu erkennen, daß die meisten Sänger Franz-Lieder für undankbar hielten. Sie bedürfen allerdings eines ganzen Menschen Seele und eines ganzen Künstlers Technik, um ihnen in ihrer Anspruchslosigkeit und Einfachheit Geltung zu schaffen. Das war aber von jeher mein Stolz, gerade für das, was anderen undankbar erschien, mein Selbst einzusetzen, um es zur gewünschten Wirkung zu bringen. – Musikverleger Hermann Erler sandte mir nach dem zweiten Robert-Franz-Abend das Manuskript von »Dies und Das«, (» This and that«) von Robert Burns, das ich gewöhnlich englisch singe, und das im Originaltext zur Franzschen Musik gar entzückend paßt.

So sind bis heute über zwanzig Jahre dahingegangen, in denen ich, ununterbrochen mich weiter bildend, meine Kunst in den Dienst manch eines halbvergessenen oder noch unbekannten Komponisten stellte, mein Bestes dafür tat, soweit ein unvollkommener Mensch Bestes zu geben vermag.

Dann sang ich 1895 in Wien alle meine großen Rollen – in Wien, wo man mich stets mit offenen Armen empfing; und endlich öffnete sich mir auch die Pforte des Berliner Opernhauses wieder, wenn auch vorläufig nur bei einer Wohlfahrtsmatinee. Dafür sang ich 1896 in den Wiesbadener Maifestspielen die Ortrud zum erstenmal und die Walküre. – Mit der Ortrud, auf die ich schon lange spitzte, hatte ich mich monatelang befaßt und war ganz hineingewachsen in die Prachtrolle, bei der ich besonders die heidnische Fanatikerin herauszukehren gedachte; nicht das böse Weib, für das sie gemeinhin genommen wird, und sie dadurch so unsympathisch erscheinen läßt. Mit einem der ausgezeichnetsten Künstler, mit Julius Müller-Telramund, den mein Mann und ich als Mensch und Künstler gleich hoch verehrten, war ein herrliches Einverständnis leicht zu erzielen und damit auch die künstlerische Freude am Werk gesichert. – Die Walküre hätte schlimm endigen können. Müller-Wotan, der wieder ausgezeichnet gewesen, hatte mich bereits im Schlaf geküßt und rief eben nach Loge, der ihm den Berg umglühen sollte, als mich Schreckensrufe meine Augen aufzuschlagen zwangen und ich jemand mit brennendem Kopfe über die Bühne stürzen, gleichzeitig aber auch schon einen Feuerwehrmann anstürmen, dem brennenden Wotan, dem ein Funken in das Haar geflogen – die Perücke abreißen sah. »Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreitet das Feuer nie!« sang Wotan – ohne Perücke – weiter, vom Publikum bejubelt und beglückwünscht. –

Wer sie einmal mitgemacht, diese Wiesbadener Maifestspiele, dem dürften sie nicht leicht aus dem Gedächtnis schwinden. Die festlich geschmückte Stadt in üppigster Frühlingsblütenpracht; viele auserlesene Künstler unter dem liebenswürdigsten Zepter Georg von Hülsens vereinigt, Hans Richter und Ernst von Schuch als Dirigenten; Herolde, die mit Fanfaren den Kaiser im Theater ankündigten; der Kaiser selbst in heiterster Stimmung, alles um sich her beglückend und bezaubernd, gab zusammen ein Bild wohltuendster Freude. Wer nun noch die jungen Buchenwälder stundenweit durchwallte, gleich mir, der kam zu einem Hochgenuß, den man dankbaren Herzens verzeichnet im Buche seines Lebens.

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siehe Bildunterschrift

Lilli Lehmann als Ortrud in Lohengrin.


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