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Kurz nach Beginn meines ersten Engagements brach der Krieg mit Preußen aus, und größere Interessen verschlangen die kleinen. Er brachte in Prag mächtige Umwälzungen hervor. Die Böhmen hatten erst das große Maul und wollten die Preußen »mit nassen Fetzen« aus dem Lande jagen; als aber die Unwahrheiten der österreichischen Siegesmeldungen ans Licht kamen, die Preußen immer weiter vordrangen, da wurden die Böhmen ganz klein, und feige suchten die jungen, starken Männer sich Verstecke, um dem Schanzengraben im feindlichen Dienste zu entrinnen. Selbst bei uns erkundigten sie sich nach Verstecken, frugen, ob die Preußen Menschen wären, die sie nicht töten würden, wohin sie ihre Kostbarkeiten vergraben sollten und was des Blödsinns mehr war. Welche Schande! Eines Tages sahen wir große Leiterwagen mit Möbeln und Gepäck beladen, auf denen junge Männer saßen, die über die Kleinseite hin entflohen, und Tags darauf war Prag völlig ausgestorben. Nun mußten die Preußen ja bald kommen. Nach einem Morgenspaziergang, den ich mit Frau Römer im Kanalschen Garten unternahm, sahen wir bei unserer Rückkehr durch die Felder Tausende von preußischen Soldaten vor dem Roßtore lagern, während vorher noch nichts zu sehen gewesen. Wie aus der Erde waren sie gestampft. Um vier Uhr nachmittag zogen sie über den Graben ein – die Garde du Corps an der Spitze – wo wir natürlich auch standen und mit weißen Tüchern wehten. Es sah großartig aus! Keine Stunde war nach dem Einzuge vergangen, so guckte aus jedem Fenster der Stadt mindestens ein preußischer Soldatenkopf heraus. Ohne auch nur mit einem Worte danach zu fragen, war jeder in sein Quartier gegangen. Nach und nach kamen auch die »tapferen« jungen Böhmen wieder zum Vorschein, und da sie von den Preußen weder »gefressen«, noch zum »Schanzengraben« verwendet wurden, meinten sie kleinlaut: »Wenn uns die Preußen nur nehmen möchten, uns wärs ganz recht!« Uns wärs auch recht gewesen, dann hätten vielleicht die ewigen Reibereien zwischen Deutschen und Böhmen ein Ende gehabt, die jedem feinfühlenden Menschen den Aufenthalt in Prag verleiden.
Ich lasse hier wieder zwei Briefe meiner Mutter folgen, die den damaligen Gefühlen besser Ausdruck leihen, als ich es vermöchte.
Aus dem Kriege 1866.
Prag, 8. Juli 1866.
»… Unmöglich kann ich denken, daß Du meinen letzten Brief erhalten hast, sonst könntest Du uns doch nicht so lange ohne Nachricht lassen. In dieser entsetzlichen, bedrängten Zeit, wo wir die Folgen des nächsten Tages nicht berechnen können. – Die Preußen sind seit mehreren Tagen in unserer Stadt eingezogen und benehmen sich gut, ruhig und gemessen, hauptsächlich Landwehr, meist ältere, verheiratete Männer, die es auch schmerzlich empfinden, von ihren Familien getrennt zu sein. Die Hälfte der Einwohnerschaft Prags ist geflüchtet, wer nur etwas zuzusetzen hatte, ist weg, ganze Häuser stehen verlassen, nur die Einquartierung ist darinnen. Aller Adel ist fort, alles österreichische Militär, sowie die Polizei, die zum Militär gehörig ist. Die Preußen haben alle Wachen bezogen, geben alle Verordnungen, denen sich die Bewohner Prags fügen müssen. Täglich sind eine Menge Zettel angeschlagen, was sie alles verlangen und wie man sich zu benehmen hat. Die ganze Sache ist schrecklich beängstigend, Du hast keinen Begriff, wie man unter diesen Zuständen leidet. Alle Schulen sind zu Kasernen umgewandelt, sowie das Konservatorium, die Universitätsgebäude, alles ist aus seiner gewohnten Ordnung und hauptsächlich aus seinem Verdienst gerissen. Unser Theater wäre längst geschlossen, wenn nicht der Intendant es noch hielte; aber das wird vielleicht nicht mehr lange dauern; was wird dann aus uns allen? Nicht eine einzige Stunde! Es ist für uns Musiker besonders schlimm, alles ist aufgelöst …
Es wimmelt hier von Preußen, und wie ich höre, werden noch immer mehr hereingezogen. Die Einquartierung ist furchtbar, die Hausherrn übel daran, aber vielen wird es gegönnt, die andern nichts gönnten. Wenn man nur ein glückliches Ende sähe, jeder der Monarchen zufriedengestellt wäre. Die armen Menschen, die ihre Kinder, Eltern und Geschwister verloren haben, müssen sich trösten, wenn ihnen auch das Herz darüber bricht …
Wir kommen uns verlassen und allein vor. Die schrecklichen Verhältnisse haben mich in einen sonderbaren Zustand gebracht; mein Kopf ist zuzeiten so eingenommen, daß ich den ganzen Tag schlafen könnte, meine Augen fürchterlich angegriffen. Am stärksten hält sich noch Riezl; Lilli hat öfters Anfälle von Ohnmachten, zum Beispiel neulich, als wir Verwundete fahren sahen, mit blutigen Verbänden, sie ist an solche Aufregungen natürlich auch nicht gewöhnt … Die Menschen liegen den ganzen Tag auf den Straßen, es ist gar kein Verkehr in nichts, alle Fabriken sind geschlossen, die Not der niederen Klassen ist fürchterlich, und von diesen werden Aufstände befürchtet. Überall sind preußische Kanonen aufgepflanzt, es darf sich keiner rühren. Wie lange wird dieser Zustand noch dauern? …«
Krieg, einige Wochen später.
… »So viele Briefe habe ich schon an Euch geschickt, die aber gewiß nicht in Eure Hände gekommen, denn die Posten gehen gar nicht, und jede Verbindung ist gestört. Was wir während der letzten traurigen Zeit gelitten, kann ich Euch nicht beschreiben und kann mich auch in diesem Briefe, der durch die Feldpost besorgt wird, nicht genau aussprechen. Wir alle sind krank und elend. Lilli gleicht mehr einem Schatten, sie hat kein Lot Fleisch mehr auf sich, und Riezl ist seit vier Wochen nicht mehr zu kennen; die Jammerszenen, die wir erlebt, und das eigene Leiden, was wir erduldet, haben uns sehr heruntergebracht. Gott gebe, daß es bald anders wird, sonst erliegen wir. Auf unsere kleinen Verhältnisse wirkt der Kriegszustand sehr grausam, die wir doch gar nichts verschuldet haben … Sobald die Posten gehen, werden wir ausführlich schreiben … Heute wird der König von Preußen erwartet, er wird in der Burg wohnen …
Ihr könnt leicht denken, in welchem Zustand unser Theater und alles andere ist. Der Direktor muß täglich einige hundert Freikarten an das Militär geben, aber er hat keine Einnahme dabei. Die Logen der Aristokratie dienen den jungen Offizieren und müssen gratis abgegeben werden. Im übrigen benehmen sich die Preußen sehr anständig, und die Böhmen kommen zur Einsicht, daß sie viel gebildetere Menschen sind als sie selbst. Auch wir haben im Hause sechs Mann Landwehr. Selbst einzelnstehende Frauen haben Einquartierung, die sie verköstigen müssen; wo es herkommt, wird nicht gefragt. Über vieles später, wenn ich ruhiger geworden bin. Lebt wohl, meine Lieben.
Marie.«
Unter den in unserem Hause einquartierten sechs Landwehrmännern war auch ein Tischlermeister Lehmann, der uns erzählte, wie er ohnmächtig auf einen Wagen mit vielen Toten zusammengeworfen worden war, und nur dem Umstand sein Leben verdankte, daß er, vom Wagen fallend, einen Schmerzenslaut ausstieß. Ohne diesen glücklichen Fall würde er mit den Toten in die Grube gekommen sein. Alle erzählten von ihren furchtbaren Leiden und wie sie eher auswandern, als je wieder einen Krieg mitmachen wollten.
Noch ehe die Preußen Prag belagerten, war die Cholera ausgebrochen, von der viele unserer Bekannten betroffen wurden. Unter dem furchtbar heißen, trockenen Sommer hatte also nicht nur das kriegführende Militär allein zu leiden. Eines der ersten Opfer war mein einst liebeskranker Verehrer, Carl B., der früh im Kaffeehause, nach österreichischer Gewohnheit, zuerst ein Glas Wasser heruntertrank und fünf Minuten später, von Krämpfen befallen, nach Hause transportiert werden mußte. Dem Arzt gelang es nicht, den, vom Fieberfrost bereits Erstarrten, zu erwärmen. Schließlich blieb ihm kein anderes Mittel übrig, als den Befehl zu geben, es müsse sich jemand von der Familie zu ihm legen und ihn zu erwärmen trachten, sonst wäre er verloren. Dazu entschloß sich seine älteste Schwester Emilie, die so lange bei ihm blieb, bis er wieder Lebenszeichen von sich gab. Er wurde dann später fortwährend in eisgekühlte Leintücher gewickelt und erhielt teelöffelweise eiskaltes Pilsner Bier eingeflößt. Keines der vielen Geschwister bekam auch nur das Geringste, und nur der Vater hatte einen leichten Anfall, dessen Ursache wohl auch im Kaffeehaus zu suchen war. Wir besuchten sie täglich und fürchteten uns keinen Augenblick. Beide Herren genasen vollständig.
Alle diese Schrecknisse, die zuerst in beängstigter Phantasie bestanden, dann aber freilich die alltäglichen Verhältnisse aller derer schwer betrafen, die von täglichen oder monatlichen Einnahmen leben mußten – also auch uns schweren Schaden zufügten –, gingen vorüber. Der Krieg war beendet, bald brauste das alltägliche Leben wieder um uns, und wir selber gingen den alten, gewohnten Gang.
Aber nicht nur kleine Leute waren von dem Kriege betroffen worden, auch große! Der Kurfürst von Hessen-Kassel war entthront, seines Landes verlustig gegangen, weil er sich den Preußen nicht anschließen wollte. Nun war er mit seiner ganzen Familie nach Prag gezogen, wohnte bald hier, bald auf seinem in Böhmen gelegenen Gute Hoøowitz und frug jeden Morgen beim Erwachen: »Bin ich noch nicht zu Hause?« – Er sollte auch nicht mehr nach Hause kommen, denn man gab ihm sein Land nicht wieder. Seine Gattin, die zur Fürstin von Hanau erhobene, einstige Frau Lehmann – nicht mit uns verwandt –, war eine bildschöne und liebenswürdige Frau, die des Kurfürsten Launen – und er hatte deren genug – mit vielem Humor zu begegnen wußte. Zum Beispiel, wenn er ihr die schönsten Roben, die sie anhatte, vor Wut mit der Schere von oben bis unten aufschnitt, lachte sie aus vollem Herzen über den mißlaunigen Scherz.
Als die Fürstin von meiner Mutter Aufenthalt in Prag erfuhr, ließ sie diese durch ihre erste Kammerfrau, das feine, liebe Fräulein Spindler, welche fortwährend die Vermittlerin zwischen Eltern und Kindern spielen mußte, und die selbst dem Kurfürsten imponierte, bitten, zu ihr zu kommen. Mama mußte ihr nun erzählen, was sie seit ihrem Abgang von Kassel alles erlebt hatte. Meiner erinnerte sie sich von Kassel aus, wo ich gelegentlich eines Besuches bei Onkel Pauli ein Jahr vorher mit Berta Römer war, die dort gastierte und engagiert wurde. Kurfürstens, die vom Fenster ihres Palais alles beobachteten, ließen uns damals durch den Intendanten sagen, wie sehr sie sich über unser gesittetes Benehmen gefreut hätten! Damals stolzierten wir in Krinolinen mit karrierten Beduinen in Kassel herum. – Die Fürstin erbat sich noch oft meiner Mutter Besuch, und auch ich mußte mitkommen. Sie nahm ein so großes Interesse an uns, daß sie später sogar meine, durchaus nicht für fürstliche Häupter bestimmten Briefe las. Jede Woche sandte sie uns einen großen Buckelkorb voll kostbarer Eßwaren, und selbst in Hoøowitz vergaß sie es nicht. Es war sehr lieb gemeint, aber all die herrlichen Leckerbissen konnten Mamas einfaches, aber ausgezeichnetes Essen nicht verdrängen. Sie kamen meist unseren vielen Abnehmern zugute, denn Mama aß sehr wenig und freute sich, anderen etwas Gutes zu tun. Sie war so mäßig, so bescheiden in allen ihren Ansprüchen, daß wir sie oft fragten, wie sie mit dem wenigen Essen, das sie zu sich nahm, bestehen könne? Sie sagte aber immer: »Wenn es mir am besten schmeckt, höre ich auf!« Wie weise! Auch wir, ihre Kinder, haben übrigens ihre einfache Lebensweise beibehalten und uns immer am wohlsten dabei befunden.