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8.

Schule und Musikinstitut hatten ihre Domizile gewechselt. Unten zog ein Tanzlehrer, oben eine jüdische Familie, namens Zappert, ein. Sie bestand aus einer alten, großen, siebzigjährigen Frau, einem noch älteren Gatten, einem alten Sohn, der nur zu Besuch kam, aber nicht da wohnte, und einer alten Jungfer-Tochter, die, wie uns schien, nicht ganz normal war. Wir sahen sie nämlich wohl zwanzigmal im Tage ihren kleinen Waschnapf – an den ich im Goethezimmer zu Weimar erinnert wurde – der drei Schneppen hatte, am Ausguß ausgießen und mit jeder Schneppe extra hinausgehen, um sie zu reinigen. Der halbe Tag ging damit hin. Wie man erzählte, waren es sehr reiche, wohltätige Leute, die aber selber keine Bedürfnisse hatten, sondern unendlich einfach lebten. Im Hause wurde jeder Faden Wäsche gehalten, solange es nur ging, und ich erinnere mich, die Tochter einen wollenen Unterrock stopfen gesehen zu haben, der keinen ursprünglichen Webefaden mehr aufzuweisen hatte. Ich hielt mich immer gerne zu alten Leuten; die alte Dame liebte mich und ich sie, – fast allabendlich saß ich zu ihren Füßen.

Sie ließ mich lesen, lehrte mich Kunststopferei, oder überwachte meine Handarbeiten, während sie mit mir französisch sprach. Sie bezeigte mir unendlich viel Liebe, die gleich einem Denkmal in meinem Leben steht.

Mit den Töchtern des Tanzlehrers Feigert hatten wir uns ebenfalls befreundet, bei deren Vater, – einem einst berühmten Balletmeister, – wir alle alten Menuette, Gavotten, Quadrillen: à la Reine, à la cour, usw. lernten und sonstige Tänze, die man kaum dem Namen nach mehr kannte. Er hielt viel auf äußerste Eleganz und distinguiertes Benehmen beim Tanz und brachte uns soviel Grazie bei, soviel Kenntnisse dieser schönen Kunst, daß wir ihm nicht wenig zu verdanken haben. Doch hatte ich schon als sechsjähriges Kind mit meinen kleinen Mitschülerinnen bei Ruèièzka Stunden, wo wir sogar die große Mazurka tanzten, und da wir nur Mädchen waren, mußten die Geschicktesten die Herren markieren, wozu man mich, als lange Stange, immer ganz besonders ausersah.

Mama wünschte uns in allem ausbilden zu lassen, was unserem Körper Grazie verlieh. An Kenntnissen, meinte sie, trage man nicht schwer, und sie seien das einzige, was sie uns hinterlassen könne. Wie gut uns alle errungenen Kenntnisse zu statten kamen, erfuhr ich schon im ersten Engagement, wo man mich bei Gastspielen ausländischer Künstler stets als Dolmetsch gebrauchte, weil außer mir niemand ordentlich französisch sprach. Wie sie bemüht war, uns Sprachkenntnisse erwerben zu lassen, ohne die eine Künstlerin nicht existieren könne, so war sie eifrigst besorgt um unser körperliches Wohl. Schon als ganz kleine Kinder wurden wir allabendlich kalt abgerubbelt und badeten zweimal täglich in der Moldau sobald es nur die Witterung erlaubte und bis in den Herbst hinein, oft noch mit elf Grad Wasserwärme. Wir mußten sehr viel spazieren gehen, hatten sogar auch Exerzierstunden; und um unsere Zähne – für die Mama, wie sie sagte, ihr letztes Hemd gegeben hätte – zu erhalten, wurden wir nur zum allerersten Zahnarzt, Professor Ebermann, geschickt. So sorgte sie für alles und wachte für unsere Zukunft, wenn sie einst nicht mehr wäre!

Als auch der Tanzlehrer der großen Wohnung Valet sagte, bezog sie eine zahlreiche Judenfamilie, Bunzl. Herr Bunzl war Besitzer eines großen Weißwarengeschäftes am Graben, das aber, im Niedergang begriffen, ihm viel Sorge bereitete. Sehr viel später erfuhren wir, daß sich Vater Bunzls Geschäftsreisen meist nur in den Schuldarrest erstreckten. Drei schöne Töchter, – die vierte war Gouvernante außer dem Hause – frisierten ihr köstliches Haar und zogen sich sehr gut an. Daß man aber seinen Körper täglich mindestens einmal waschen mußte, lernten sie erst von uns und gewöhnten sich nur sehr ungern daran. Es erinnert mich an eine mir bekannte Sängerin, die in Österreich auf dem Lande daheim, in den Ferien dorthin reist, und der ihre Schwester, die morgens gerade dazu kommt, wie sie mit Seife und Luffa unterm Arm hantiert, zuruft: »Pfui, du Schwein!«

Mit Vater Bunzl unterhielt ich mich gerne. Die vielen jüdischen Gebräuche, die ich hier kennen lernte, stachelten meine Neugier, und stets beantwortete der ältere Mann voll Ernst und mit erklärenden Gründen, die vielen Fragen des jungen Mädchens. Die Gründe erschienen mir so schön, daß ich mich von nun an für die jüdische Religion aufrichtig interessierte. Herr Bunzl war seinen sechs Kindern ein ausgezeichneter Vater – seine erste Frau war früh gestorben – seiner zweiten Ehehälfte aber ein schlechter Gatte. Man sah sie nie. Sie wohnte in einem schmalen Hinterzimmer, wohin ihr Pauline das Essen brachte; dort saß sie jahraus, jahrein allein und strickte. Wir Lehmannskinder besuchten sie manchmal; mit mir besonders sprach sie gerne. Auf ihrem Tische stand ein Seidel Wasser, das nur erneuert wurde, wenn sie es ausgetrunken hatte – nach zwei bis vier Tagen also. Da sie an einem Freitag abend plötzlich starb, am Sabbath aber keines der Familie einen Dienst tun durfte, bat man Mama herunter, eine Kiste aufzuschließen, in der man nicht nur das Totenhemd, sondern auch noch große Schätze vermutete. In der Kiste fanden sich indessen nur Lumpen, nichts als Lumpen, vor, geschweige denn ein Kreuzer Geld – nicht einmal das Totenhemd. Die alte Frau, die ihr ganzes Vermögen dem Manne zugebracht hatte, um die sich im Leben keine Katze kümmerte, wurde nun mit jüdischen Zeremonien bestattet und betrauert. Da ekelte mich die religiöse Lüge zum ersten Male an.

Am Roßmarkt, der breitesten Straße Prags, die zum Roßtore hinauf und durch das Tor – damals noch in die Felder und den Canalschen Garten führte, stand mitten drin die steinerne Statue des heiligen Wenzel, dessen Namenstag dort alljährlich festlich begangen wurde. Um ihn herum bauten sie eine hölzerne, große Halbkuppel, in deren Inneres alle Mitwirkenden, wie Geistliche und Musiker, durch eine Hintertüre gelangten. Vor ihm war ein Altar errichtet, um ihn herum hingen kleine bunte Öllämpchen. Zu bestimmten Stunden, und besonders abends, fanden dort heilige Handlungen statt, oder es wurden von einem Geistlichen oder katholischen Vorbeter Gebete laut vorgesprochen, welche die fromme Menge, die, auf dem steinernen Pfannkuchenpflaster kniend, Röcke und Hosen kaput rutschte, laut nachsprach. Aus dem hölzernen Hinterstübchen des heiligen Wenzel begleiteten Pauken und Trompeten die frommen Gesänge der Gläubigen, an denen der Heilige stets neue Wunder zu verrichten angestellt war. Die Prager Heiligen hatten viel Arbeit und waren fleißige Leute. Dafür wurden sie – und besonders der heilige Johann von Nepomuk und der heilige Wenzel, – auch wochenlang gefeiert und angesungen, mit Trompetenfanfaren, die gen Himmel schmetterten, und mit Kesselpaukengepolter, gelobet und gebenedeiet. Wir Kinder standen neugierig davor, ergötzten uns an der unsichtbaren Musik, die uns ein Mysterium schien, sowie an den vielen Öllämpchen, die feierlich schon in der Dämmerung – und, irre ich nicht, – auch bei Tage leuchteten; oder wenn es windig war, gen Himmel rauchten und den guten, alten Heiligen da oben anschwärzten. Öllämpchen, die zur damaligen Zeit der Unschlittkerzen, denen noch mit Lichtscheeren die »Nasen« geputzt werden mußten, und die man darum auch »Rotznasen« nannte, uns Kindern ein Wunder dünkten.


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