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Nach Wilhelm Jahn kam Richard Genée ans Dirigentenpult; unter seiner Leitung begann ich meine Karriere. Genée war ein feingebildeter Mann, eine durchaus noble Natur, ein ausgezeichneter Musiker und ein vorzüglicher Operndirigent. Er hatte aber weder Jahns Jugendkraft noch Energie; war von zarter Statur, sprach näselnd, als litte er unter asthmatischen Einflüssen. Als ich ihm einst in Berlin begegnete, glaubte er mir etwas abbitten zu müssen, das ihn schon lange bedrückte. Er hatte Direktor Emil Fischer aus Danzig, als dieser sich bei ihm nach mir erkundigte, folgende Auskunft erteilt: »Die Lehmann ist sehr musikalisch und fleißig; hat aber eine so schwache Stimme, daß Sie sie für große Rollen nicht gebrauchen können.« –
»Nehmen Sie sich's nicht zu Herzen, lieber Genée,« sagte ich ihm, »Sie hatten ganz recht; ich war sehr schwach und wunderte mich selbst, daß es mir in Danzig gelang, alle die großen Rollen durchzuführen.«
Nach meinem zweiten Debüt, das so merkwürdig günstig verlief, hatte die Direktion große Dinge mit mir vor: man wollte mich fürs jugendliche Fach engagieren. Dazu wählte man die »Perdita« in der gleichnamigen, nach Shakesspeares Wintermärchen, von Barbieri komponierten Oper, die ich als Antrittsrolle studieren und im Frühling singen sollte.
Die Rolle war reizend, gesanglich wie schauspielerisch gleich dankbar und ich lernte schon jetzt sehr fleißig daran, obwohl unser arbeitsreiches Leben seinen gewohnten Gang weiter ging. Damit schloß das Jahr 1865 und das ereignisreiche 1866 begann, das uns allen viel Leid und manche Enttäuschung bringen sollte.
Ende Februar wurde mir plötzlich von einem Tag zum anderen, die Arrangierprobe von »Perdita« angesagt. Für den Vorabend hatte ich eine Einladung angenommen, worauf ich mich sehr freute und was selten vorkam. Da ich mit Frau Binder die Rolle schauspielerisch sehr hübsch ausgearbeitet hatte, meiner Sache ganz sicher war und Arrangierproben nicht mit Orchester und nicht mit voller Stimme gesungen werden, ließ ich mich von meinem Wunsche verleiten, hinzugehen. Ich kam später, als ich gewöhnt war, zu Bett, – etwas, das ich auch heute noch nicht vertrage, – und war andern Tages wirklich müde. Der erste Akt ging sehr gut, ich gab mir alle Mühe; im zweiten sang ich eine Stelle zu hoch, und aus war's mit der »Jugendlichen«, zumindest für die nächsten zweieinviertel Jahre. Sicher zu meinem Besten. Ich hätte weit eher das Koloraturfach als das der »Jugendlichen« bewältigen können. Hochaufgeschossen, schwach und mager, wie ich war, warf mich jedes böse Wort, jeder Windstoß um. Wenn ich abends auf meinem Bette sitzend, mir stundenlang die Augen aus dem Kopf weinte, ohne anderen Grund als den der furchtbaren Müdigkeit, mag es meine liebe Mutter wohl mit Angst erfüllt haben. Sie tat mehr, als in ihren Kräften stand, mich zu stärken, und Professor Maschka, der von seiner eigenen Tochter solche Zustände kannte, wachte wie ein Vater über mir. Nur sehr langsam konnte ich meiner Schwäche Herr werden, die große Müdigkeit bin ich in meinem ganzen Leben nicht losgeworden. Wie sehr ich noch Kind war, beweist, daß ich als Sechzehnjährige mir kleine Puppen selber machte und meine freie Zeit damit zubrachte, allein mit ihnen zu spielen. Geduldspiele, die heutigen »Puzzles«, konnten mich stundenlang fesseln, und selbst verwirrtes Garn zu ordnen reizte mich zu Geduldsproben.
Direktor Wirsing engagierte mich aber doch vom 1. April 1866 ab, für kleine Rollen, mit monatlich vierzig Gulden. Dafür mußte ich mir außer Männerkleidern alle Kostüme selber stellen. So wenig es war, war's doch ein langersehnter Anfang; und wenn ich allein auch nicht hätte damit auskommen können, mit Mamachen zusammen ging es doch. Ich konnte nun für mein Zimmer und Essen zwanzig Gulden an sie abgeben und behielt noch zwanzig Gulden übrig, mir Kostüme zu schaffen und einen Notgroschen zu sparen, denn ich hatte so gut wie gar nichts.
Nun sang ich sämtliche Begleiterinnen, Ehren- und Hofdamen, den ersten Knaben in der Zauberflöte und gleich darauf die erste Dame, die mir verblieb; den Hirten im Tannhäuser, die Brautjungfer im Freischütz; sang in allen Operetten und spielte in sehr vielen Schauspielen, zum Beispiel den Fischerknaben im Tell, einen Sohn des Kollatin, eine Pensionärin im Aschenbrödel, womit ich besonders Furore machte, weil meine hochgeschossene Magerkeit und Müdigkeit – hier nur geheuchelt – so gut dazu paßte, mußte aber auch für die entzückende Seitler (Aschenbrödl) das Lied darin singen, da sie's nicht selber konnte. Kurz, ich stand fast allabendlich auf der Bühne und konnte mich trotz aller Müh und allem Fleiß nicht höher schwingen. Direktor Wirsing war natürlich froh, für so billiges Geld eine so musikalisch sichere Sängerin, gerade für diese Rollen, in mir zu besitzen, und hütete sich, mich zu verlieren.