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Endlich ist es an der Zeit, meine Schwester Marie vorzustellen, die ich zuerst nur »Hitzi« rief, woraus der Name »Riezl« wurde, der ihr in der Familie sowohl als bei Freunden zeitlebens verblieb. In Prag wurde sie zwei Jahre alt und war so dick, daß sie bei jedem Schritt hinfiel. Briefen meiner Mutter entnehme ich, daß Riezl viel kräftiger, sich auch viel schneller entwickelte als ich, die ich 2½ Jahre älter, eigentlich in allem sehr viel später daran war. Mit zwei Jahren sprach ich noch kein Wort, zeigte aber alles, so daß mich meine Eltern für stumm hielten. Daß ich auch später noch den Hang zum Schweigen hatte, sagte ich bereits. Wir waren sehr verschieden geartet. Ich hatte braunes Haar und braune Augen, Riezl war blond und blauäugig. War ich hoch aufgeschossen und schwächlich, so war sie auch sehr groß, aber körperlich für ihr Alter viel weiter vorgeschritten und von furchtbarem Temperament. Wild und unbändig, kam sie nie ohne Verwundung an Arm und Beinen, oder ein Loch im Kopf aus der Schule oder vom Spielen heim. Die Hälfte ihrer Kleider hing gewöhnlich an den Sträuchern. Hüte flogen in Abgründe, von denen man in anständiger Gesellschaft nicht sprechen mag. Wie oft wurden Schulen und Lehrer gewechselt! Nie war Riezl zu finden und hatte man sie endlich erwischt und glücklich ins Zimmer gebracht, war sie auch schon wieder verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschlungen; Mama nannte sie nur: »Die Versenkung«; sie war einfach nicht zu halten. Die Güte und Gefälligkeit selbst, opferte sie sich für jeden, ganz ohne Ursache und Verlangen; Eigenschaften, die sie nie verlor, sie viel Lehrgeld kosteten, aber nicht klüger machten. Ihr Gedächtnis für Musik war geradezu phänomenal; was sie einmal hörte, sang und sprach sie auswendig, als hätte sie es Jahre lang studiert. Und wie ihr Körper, war auch die Stimme stark und volltönend gegen die meine. Wenn sie mit sieben oder acht Jahren sich am Klavier ganze Szenen auswendig begleitete, bis ins viergestrichene c sang und darauf trillerte, lachte und weinte, glaubten wir nicht anders, als daß das Kind verrückt geworden sei. Ihr starkes Talent offenbarte sich allenthalben, was Mama wohl berechtigte, eine große Zukunft für sie zu erhoffen. Mein Talent verbarg sich scheinbar und kam wohl mehr im Ernst des Lernens und Strebens, oder auch in stärkerer Konzentration der geistigen Kräfte zur Geltung. Wenn auch oft recht träge und übellaunisch, setzte ich doch nicht selten meine ganze Kraft ein, um die Erste in der Schule, im Verstehen und Begreifen zu sein; dann lernte ich wie toll und holte nach, was ich hier oder dort versäumt hatte. Mein Ehrgeiz rüttelte mich auf.
Wie furchtbar wild und unartig wir aber als kleine Kinder sein konnten, besonders wenn es darauf ankam, artig zu sein, davon muß ich ein Beispiel erzählen. Mama erwartete wichtigen Besuch und bat uns inständigst, uns am Nachmittag nur eine halbe Stunde recht ruhig zu verhalten. Oh, wir versprachen es auch und wollten ganz brav sein. Unsere Küche, die eigentlich ein zweites Zimmer war, in dem wir Kinder diese halbe Stunde interniert bleiben sollten, war vom Wohnzimmer durch eine große Glasflügeltür getrennt, deren untere Scheiben schon längst durch Holzfüllungen ersetzt waren. Die Dame kam und wir hielten uns fünf Minuten wirklich exemplarisch ruhig. Dann aber wurde es – da wir durch die Holzfüllungen nichts sehen konnten – langweilig; wir ließen uns hören. Ehe wir uns dessen versahen, waren die Holzfüllungen ausgestoßen und wir saßen beide laut jubelnd, rittlings in den Türlöchern.
Als Mama, die ihren hochnasigen Besuch mit Entschuldigungen hinauskomplimentiert hatte, wieder hereinkam, kündigte sie uns an, daß sie uns jetzt nicht strafen würde, weil sie am Abend ihre Hände zum Spielen in der Oper gebrauche und sie darum schonen müsse; nach der Vorstellung aber sollten wir unserer Strafe nicht entgehen. Wir lagen langst im Bette, schlafen konnten wir nicht, aus Angst, was geschehen würde, lebten aber gleichwohl der Hoffnung, daß Mama auch diesmal Gnade für Recht ergehen lassen würde. Wir täuschten uns. Unsere gute, sanfte Mutter, die uns noch nie geschlagen, nur immer gedroht hatte, wenn sie sich gar nicht mehr anders zu helfen gewußt, walkte uns – nach der Oper – nicht nur mit der gefürchteten Rute, sondern mit einem großen Kochlöffel durch und machte – einmal im Leben vielleicht – ihrem gerechten Zorne Luft. Ich, als Älteste, bekam's zuerst, und da ich schrie, schrie Riezl auch schon: »Schlage mich, Mama, ich kann's nicht sehen, wenn du die Lilli schlägst.« »Du bekommst auch dein Teil!« hallte es zurück, und Mama hielt ihr Versprechen.