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Meine Eltern. Marie Loew, Carl August Lehmann. 1848-1853.

Meine Mutter.

Wenn das Jahr 1848 nur mich zur Welt gebracht hätte, könnte ich mir zur Auszeichnung dieses Ereignisses, gleich Tante Amanda, eine neue Feder schneiden. Mit Menschenblut war indessen die Jahreszahl ins Buch der Geschichte bereits eingeschrieben, meine Wenigkeit kam also gar nicht in Betracht. Der 24. November 1848, an dem ich geboren wurde, lag indessen schon wieder weit entfernt von den schrecklichen Ereignissen. Das Revolutionäre, das ich in mir trug, machte sich noch nicht geltend. Es war in Würzburg in der Sandgasse, wo ich das Licht der Welt »als Affe« erblickte, wie meine Mutter erzählte, denn ich war am ganzen Körper mit schwarzen Haaren bedeckt. Zum Glück waren die Eltern nur auf der Durchreise, es kannte uns keiner. Aber noch ein ganzes Jahr später »schlief« das Kind immer, wenn es jemand zu sehen begehrte, und erst im zweiten Jahre fing ich an, mich menschlich umzugestalten. Zu Würzburg verweilten wir nur sechs Wochen; dann ging's, glaube ich, nach Rotterdam. Von dort blieb mir aus den Erzählungen meiner Mutter eine komische Szene in Erinnerung. Die Häuser waren damals so dünn und schlecht gebaut wie jetzt, man konnte jedes Wort verstehen, das im Nebenhause gesprochen wurde. Meine Eltern saßen am Vorabend der Oper »Prophet« beim Nachtessen, als durch die Wand des Nachbarhauses sich Stimmen vernehmen ließen. Es waren die drei Wiedertäufer, die ein Komplott schmiedeten, am andern Morgen dem Direktor durchzugehen verabredeten. Mein Vater – Prophet – sah sich nicht verpflichtet, die Wiedertäufer zu verraten, obwohl es nur billig gewesen wäre, ihren schnöden Verrat an ihm, dem Propheten, zu rächen. Ob die Oper ohne Wiedertäufer anderen Abends war, ist mir entfallen. – In Braunschweig, von wo die Oper nach dem kleinen Badeort – Helmstedt (doch hörte ich es meine Mutter nur Amalienbad nennen.) – zu einzelnen Vorstellungen hinüberfuhr, begegneten meine Eltern zuerst Albert Niemann, der, als Zwanzigjähriger ebenfalls dort engagiert, mich, als zweijähriges Kind, auf den Armen herumtrug. Von dort ging's wohl nach Hamburg, wo meine Schwester Marie am 15. Mai 1851, große Drehbahn Nr. 8 geboren wurde. (22 Jahre später wohnte sie zufällig in derselben Wohnung.) Ich glaube, daß wir dann nach Mainz kamen, wo ich mir beim Heruntersteigen der Treppe ein Loch in die Stirne schlug. Die Wunde mußte genäht werden und brauchte mehr als 20 Jahre, um ganz zu vernarben. – Von da nach Lemberg. Dort wohnten wir im Theatergebäude, wie das so Sitte war. Von hier an erinnere ich mich schon selbständig an so manches. An unsere große schöne Wohnung, an das Eßzimmer und an eine furchtbare Tracht Prügel, die mir mein Vater eines Ungehorsams wegen erteilte; ein zerbrochener Teller war die Ursache. Ich schrie, Mama weinte, meine kleine Schwester heulte laut, da sie niemand schlagen sehen konnte, unser Familiendiner war gestört! – Dann erinnere ich mich, meinen Vater als Fra Diavolo in der letzten Szene den Felsen herunterfallen gesehen zu haben, was mir, gleich der obigen Begebenheit, einen höchst bedeutenden Eindruck hinterließ. – Dann verwischen sich meine Erinnerungen, und erst aus der Reise von Lemberg nach Prag, und in Prag am Eiermarkt beleben sie sich wieder.

siehe Bildunterschrift

Carl August Lehmann.

Noch ehe wir diese Reise unternehmen und uns für sechzehn Jahre in Prag einrichten, muß ich meinen Vater vorstellen, wie er mir im Gedächtnis lebt.

Carl August Lehmann war ein großer, starker, schöner, sehr gutmütiger, oft aber sehr jähzorniger Mann, dessen Züge ich nicht alleine, sondern dessen Heftigkeit ich leider auch von ihm geerbt habe, während meine Schwester unserer sanften Mutter glich, dafür aber seine Unstetigkeit mitbrachte und Ernst und Fleiß der Mutter wieder auf mich gefallen waren.

Als Sohn eines Stadtmusikus in Jüterbog geboren, wurde er für Musik erzogen und begann, gleich Albert Niemann, Pauline Lucca, Amalie Joachim und anderen mehr, seine Theaterlaufbahn im Chor, wie das damals meist der Fall gewesen, da man, um Künstler zu werden, von unten auf dienen mußte. Von meinem Großvater Lehmann kenne ich nur einen Brief, worin er dem Sohn seine Freude über dessen Wohlergehen ausspricht, ihn aber bittet, nicht zu oft zu schreiben, weil das Porto zu teuer käme. – Mein Vater hatte eine herrliche Heldentenorstimme, nahm ausgezeichnete Stellungen ein, gewann Ehren und Geld genug, um einer gesicherten Zukunft gewiß zu sein. Es wurden ihm in damaligen Kritiken nebst seiner schönen Stimme gutes Spiel, Wärme und effektvoller Ausdruck nachgerühmt. Lange noch wäre ihm ein glänzendes Leben beschieden gewesen ohne seine Streitsucht. Aber nicht diese allein, auch schlimmere Leidenschaften nagten an dem so kurzen Familienglück. Trunksucht und Spiel begannen – wenn auch eben nur in den Anfängen – ihr Zerstörungswerk. Unbesorgt um seine und seiner Familie Zukunft hielt er nirgends aus. Und doch hatte meine Mutter alles für ihn aufgegeben im Vertrauen auf ein glückliches Zusammenleben der Familie, das ihr so sehr am Herzen lag und jeder echten Frau im Busen wohnt. Ungleich war der Bund und darum unglücklich. Was sollte bei dem ewigen Herumziehen aus der Zukunft, was aus der Erziehung der Kinder werden? Hoffnungslos sah meine Mutter beiden entgegen. Die sanfte schweigsame Frau entschloß sich tapfer zu einer Trennung, der Kinder wegen, die meinem Vater auch einleuchtete und wozu er schweren Herzens seine Einwilligung gab. Leider hatte meine Mutter nicht den Mut, in ihre alte Stellung als dramatische Sängerin zurückzukehren, sie war ja nun fast 45 Jahre alt. Vielleicht auch nahm sie einen Zufall gar zu schnell wahr, indem sie zu einer Stellung als Professorin der Harfe am Prager Landestheaterorchester griff, welche ihr durch Freunde angeboren wurde. Wie dem auch sei, sie gab ihrem Schicksal dadurch eine entscheidende Wendung. Wenn sie damit auch übermenschliche Arbeitslasten und Sorgen auf sich nahm, es war dennoch zu unserem Glück. Alles, was ich zu ihrem Ruhme sagen könnte, wäre zu wenig, und so lasse ich am besten die Verhältnisse und Ereignisse für sie sprechen.

In Lemberg hatten meine Eltern die Schauspielerfamilie Römer kennen gelernt. Als meine Mutter mit dem jungen Ehepaar eines Abends in der Loge saß, um Rossinis »Othello« mit Papa zu hören, sagte Herr Römer im letzten Akt: »Die Desdemona habe ich denn doch anders gehört und gesehen; und die Dame hat sich sogar ihr Weidenlied selbst auf der Harfe begleitet«. Auf die Frage meiner Mutter, wo das gewesen sei, antwortete Herr Römer: »In Kassel«. – Als sich nun Mama als eben diese Desdemona zu erkennen gab, gab's Staunen, Jubel und eine Lebensfreundschaft. Als Römers nach Prag übersiedelten, hatten sie dort von der freien Stelle gehört, machten Direktor Stoeger auf meine Mutter aufmerksam, und damit fielen die Würfel für unser ferneres Schicksal.

Anfang des Jahres 1853 saß Mama also mit uns Kinderchen, ich etwas über vier, meine Schwester eindreiviertel Jahr alt, in dem »Postkutschkasten« und fuhr mit uns gen Prag. Wie lange wir unterwegs waren, weiß ich nicht; die Reise muß aber schrecklich gewesen sein für meine Mutter; allein, mit zwei so wilden Kindern, wie wir es waren. Alles, was mir davon in Erinnerung geblieben, ist, daß mir Mama einmal zurief: »Lilli, ein Reh!« War der Eindruck wirklich ein so starker, oder ist es Einbildung, das Reh meine ich heute noch an der Waldecke äsen zu sehen.

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