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Berlin. 1884-1885

Im tiefsten Schmerze wallfahrtete ich täglich zu meiner Mutter Grab; dabei vollzog sich, was ich nie mehr für möglich gehalten. Unmerklich kehrte Leben in mich zurück, indem ich mein Innerstes nach meiner Mutter Wünschen und Vorbild gestaltete. Ihrem Andenken lebte ich, ihr zu Liebe und Ehren sang und arbeitete ich, in ihrem Geiste versuchte ich milder zu werden gegen andere, tat und dachte, was ich glaubte, das sie in diesem oder jenem Falle getan, gedacht haben würde, und gewann ein neues Lebensziel, für das ich mir nun nicht mehr genugtun konnte. Das mußte meine Mutter freuen, mußte sie gutheißen, segnen. So erfuhr ich auch an dem Andenken meiner Mutter, was es heißt: unsterblich sein. Durch alles, was sie je für uns getan, gewünscht, gelitten, hatte sie sich Unsterblichkeit errungen bei ihren Kindern. Ihre Liebe und Treue schwebten über uns, verließen uns nicht; sie werden uns auch den Tod einst leicht machen, weil wir ihrer noch dabei gedenken dürfen.

Meine Krankheit hatte mich nicht verhindert, fleißig zu sein. Durfte ich als Rekonvaleszentin auch wochenlang nicht ausgehen, vom Üben hielt mich niemand zurück; und hier war's, wo ich anfing, mich ernstlich fürs dramatische Fach vorzubereiten. Mit der Fidelio- und Donna Anna-Arie hatte ich mich in Konzerten längst eingesungen. Eben hatte ich unter meiner Mutter Meisterschaft die Norma-Arie gelernt, wie sie sie selbst gesungen und von den Größten ihrer Zeit gehört, und gestand ihr schließlich, wie sich alles in mir nach diesen großen Rollen dränge. »Kind,« warnte sie, »singe die Norma nicht, sie ist eine der anstrengendsten Partien, zu der du, wie ich fürchte, nicht die Kraft besitzest.« Die will ich mir schon aneignen, dachte ich, und mußte, hoffend, die Zeit an mich herankommen lassen. Durch Frl. Grossis Abgang war die Konstanze in der Entführung endlich auf mich übergegangen, und ich bestand darauf, die große C-Dur-Arie ungestrichen zu singen, die niemals vorher strichlos in Berlin gemacht worden war. Auch sie ist sehr anstrengend, aber ich war es Mozart schuldig, die Aufgabe zu lösen, wagte und gewann. Am 17. Januar sang ich die Rolle zum erstenmal. Kollege Fricke-Osmin sandte mir am andern Morgen einen herrlichen Kranz »für die Mutter«; ein Anerkennungszeichen, das mich wie kein anderes erfreute, das ich mit unsagbarem Dank und Stolz der Teueren zu Füßen legte.

Noch nicht im mindesten beruhigt über den furchtbaren Verlust sollte ich durch einen langen, lieben Brief von Fritz Brandt an einen alten tiefen Schmerz gemahnt, von ihm beunruhigt werden. Er war in Indien gewesen, hatte prachtvolle Reisen gemacht, mit der Unzufriedenheit im Herzen und dem sehnlichsten Wunsche, ich möge ihm wieder werden, was ich ihm gewesen. Mein Gefühl für ihn war noch lange nicht erstorben. Was ich aber so sehnlichst gewünscht, als meine Mutter lebte, war, wie ich mir nach langen Kämpfen eingestehen mußte, durch die liebe Tote, die mächtiger zwischen uns stand als die Lebendige, zur Unmöglichkeit geworden.

Hülsen feierte im Jahre 1881 sein 30jähriges Jubiläum als Intendant der königl. Schauspiele, zu dem wir Damen ihm einen großen Teppich stickten. Morgens wurde Hülsen im Saale des königl. Schauspielhauses mit unendlichen Ansprachen gefeiert, vom Kaiser zur Exzellenz gemacht, und am Nachmittag vereinte uns im Kaiserhof ein Monstre-Diner. Hülsen und ich, die eben wieder einmal auf quarante-sept standen, nahmen die gute Gelegenheit wahr, uns zu versöhnen, und ich, mich mit ihm auszusprechen. Ich unterrichtete ihn von meinen Plänen, bat ihn dringend, falls eine dramatische Partie frei würde, mich nicht zu übergehen, mein künstlerisches Streben zu unterstützen, mein Talent zu fördern, mir die Hand zur Erlangung meines Ziels zu bieten, das ich ja sonst zu erreichen nicht imstande sei. Es lagen doch Beweise genug vor für dieses Talent, da er mich seit Jahren schon an allen ersten Bühnen so anerkannt sah, und keine einzige unserer Berliner Sängerinnen zu einem Gastspiel an die großen Hofbühnen oder London jemals eingeladen worden waren. Hülsen, dem ich zu größerer Bequemlichkeit alle 2-3 Monate mein Repertoire sandte mit den von mir außerhalb gesungenen oder fest studierten Rollen, in denen einzuspringen ich jede Stunde bereit war, versprach nun ernstlich, mich nicht wieder zu vergessen. Doch entgegen allen seinen Versprechungen mußte ich mir jede Rolle wieder erkämpfen und kam und kam nicht vorwärts, nicht ans Ziel, zu dem sich alles drängte und in mir vereinte.

siehe Bildunterschrift

Lilli Lehmann als Fricka in Walküre.

Nun war für April die Walküre vorgesehen, ein Ereignis, das wir alle mit größter Spannung erwarteten, und nach langem Hin- und Herparlamentieren wurde mir endlich, alternierend mit Frau Sachse-Hofmeister, die Sieglinde zugestanden; nur sollte ich in den ersten Vorstellungen die Fricka übernehmen, wozu man mich von ganzem Herzen bereit fand.

Niemann – Siegmund, Fricke – Hunding, Betz – Wotan, Voggenhuber – Brünnhild, Sachse-Hofmeister – Sieglinde, ich – Fricka. Beim Studium hatte ich mit größtem Ernst herausgeholt, was Fricka kennzeichnet; kein bissiges, wohl aber für Ehre und Recht schwer kämpfendes Weib daraus geschaffen und freute mich, der, wenn auch nicht gerade dankbaren, doch künstlerisch schwierigen Aufgabe gerecht zu werden. Kapellmeister K., der lange Jahre Chordirektor, dann als Dirigent kleinerer Opern fungierte, sollte nun plötzlich die Walküre einstudieren und leiten. Obgleich wir die Köpfe über die uns allen ganz unberechtigt scheinende Wahl schüttelten, standen dem Werk doch lauter allererste Künstler, ein glänzendes Orchester und Zeit genug zu Gebot, so daß man hoffen durfte, den unbedeutenden Dirigenten mit durchzuschleppen. – Der Mensch denkt, der Künstler hofft und ein guter Frühschoppen macht Denken und Hoffen zuschanden. K. vergaß am Abend, alle Zeichen zu geben; schon das erste Schwertmotiv kam gar nicht, andere zu früh oder zu spät. Angstvoll entfloh ich der kleinen Bühnenloge, um Weiteres nicht hören zu müssen, und erfuhr nun, daß man K. um 6 Uhr direkt vom Frühschoppen in die Vorstellung geholt habe. Der ganze Hof und all unser Elitepublikum hatte sich eingefunden, dem künstlerischen Ereignisse beizuwohnen, das nun so kläglich an einem Frühschoppen scheiterte. In der so schwierigen Wotan-Frickaszene des zweiten Aktes gings drunter und drüber. Betz und ich hatten Not, unsre musikalischen Kräfte zusammenzuhalten, um oben auf der Bühne dem fürchterlichen Durcheinander im Orchester zu steuern. Daß wir es durchführten, ist mir noch heut ein Rätsel. So etwas hatte ich noch nicht erlebt und nicht für möglich gehalten. Meine Verzweiflung löste sich, hinter den Kulissen angekommen, in Strömen von Tränen, und von Hülsen hörte ich, daß er im Vorzimmer seiner Loge alles vor Zorn kurz und klein geschlagen habe. Und darum hatten wir monatelang Mühe, Fleiß und Streben an das Werk, die Aufführung gewandt, die auf der Generalprobe geradezu glänzend verlaufen, das Beste versprach! Ich weiß nicht ob das Publikum die Wahrheit erfuhr, jedenfalls ließ es die Künstler nicht entgelten, was der Dirigent verbrach, und überbrückte mit tosendem Beifall die Schande des Abends. K. dirigierte weiter in Berlin; ich schämte mich für die Kunst, die mir so unendlich hoch stand, und konnte ihm meine Indignation nicht vorenthalten. Wahrscheinlich war und blieb ich – trotz allem Schimpfen der andern hinter seinem Rücken – die einzige, die sich den so unwürdigen Fall ernstlich zu Herzen nahm. Erst drei Wochen später durfte ich die Sieglinde zum erstenmal singen, was wieder meiner wirklich liebenswürdigen Kollegin, Frau Sachse-Hofmeister, Schmerzen bereitete, weil man sie vom Alternieren mit mir, trotz meiner vorsorgenden Bitte, nicht rechtzeitig unterrichtet hatte.

Der berühmte Tenor Ladislaus Mierzwinsky gastierte im Dezember. Glänzend »gemanaged«, zog er volle Häuser, hatte eine schöne Stimme, sang auch sehr gut, war aber sehr unmusikalisch, so daß das Tellduett mit ihm zu singen, mir als Kunststück angerechnet werden darf. Er gefiel auch nicht sonderlich, wenigstens zeichnete das Publikum gerade an diesen Abenden Betz und mich immer ganz besonders aus. Respekt konnte man ihm aber nicht versagen, denn wie er mir erzählte, hatte er sich mit eisernem Fleiß zu seiner Stellung emporgerungen, sein Lehrer ihm jedwedes Talent und selbst die Stimme abgesprochen. Daraus wäre die Lehre zu ziehen, daß man wahrhaft Fleißigen und Strebsamen, wenn auch weniger Begabten, den Erfolg ebensowenig absprechen, als Begabten, Unstrebsamen ihn vorher garantieren darf. Von seiner Auffassung hatte ich aber schon aus der ersten Probe genug. Arnold, im Tell, tritt mit der Frage: wie er zwischen Vaterlandsliebe, Sohnespflicht und seiner Liebe zu Mathilde entscheiden solle, an diese heran. Ich streckte Arnold mit den entscheidenden Worten Mathildens: »Sei mein« die rechte Hand entgegen, in die Arnold einschlagen, sie mit Inbrunst küssen sollte. Mierzwinsky aber nahm sie nicht, obwohl ich ihn darum bat, und begründete es folgendermaßen: » Ne me donnez pas la main, s'il vous plaît, Mademoiselle Lehmann, vous êtes Princesse, n'est ce pas? Eh bien, je n'ose pas l'accepter.« Und gleich darauf hatte er ein Liebesduett mit mir zu singen, und diesen Mann, der noch dazu wie ein Seiltänzer angezogen war, der meine Hand nicht zu fassen wagte, sollte ich am Schlusse der Oper heiraten!

Die 500. Vorstellung des Freischütz im Berliner Opernhause brachte mit Niemann – Max, Betz – Eremit, Sachse-Hofmeister – Agathe, Lehmann – Ännchen am 18. Dezember eine entzückende Feier, bei der unsere Künstlerherzen laut aufjubelten und tausend alte, liebe Erinnerungen bis zu meinen frühesten Kinderjahren mein Herz freudig durchzogen.

Wie traurig mutete mich dagegen einige Jahre später eine Freischützvorstellung an derselben Stelle an, aus welcher Freud und Lust verbannt schien und nur – wie der echte Berliner oder Paul Lindau sagt – »alttuntenhafte« Stimmung sprach, aus der sich ermessen ließ, wie schlecht es um gesunde Natürlichkeit, Humor und heitere Laune oder individuelle künstlerische Interpretation stand, die mir weder der große Kachelofen im 3. Akt, noch die übernatürliche neue Wolfsschlucht im 2. Akt ersetzen konnten. Wahrhaftig, mir waren die alte Eule, die alte Wildsau und was sonst noch damals darin vorkam, bedeutend sympathischer als all der neue Kram.

Wichtiges hatte sich auch außerhalb Berlin für mich ereignet. Impresario Franke berief mich für Juli nach London, wo er in Covent-Garden unter Schuchs und Hans Richters Leitung sämtliche Wagneropern – außer dem Ring – aufzuführen gedachte. Zur Eva und Elsa kam ich leider zu spät, ich sang nur noch Isolde und Venus. Nur Isolde! Wie leicht schreibe ich heute, was damals das höchste Ziel meiner künstlerischen Wünsche bedeutete. Monatelang hatte ich daran studiert; hatte mir die Kraft dazu eingerichtet und damit angeeignet, indem ich jede Phrase hundertmal, und jeden Akt schließlich 3-4 mal hintereinander mit voller Stimme und Spiel zu singen aushielt. Einige Wochen während des Studiums war ich ganz irre vor lauter Alliterationen und wunderte mich nicht mehr, daß es hieß: Schnorr von Carolsfeld sei am Tristan zugrunde gegangen. Gudehus war Tristan, Scheidemantel, der mir besonders auffiel, Kurwenal; Wiegand als Marke ausgezeichnet, und Frau Luger, unsere prächtige Berliner Altistin, Brangäne, ich – Isolde. Hans Richter, der Tag und Nacht mit dem Orchester arbeitete, war wie immer unermüdlich, wenn es galt, für Wagner eine Lanze zu brechen. Nur im philosophischen Tag- und Nachtgespräch sollte der große Strich gemacht werden, da man dem englischen Publikum damals den gänzlich ungestrichenen Tristan noch nicht zumuten durfte. Auf der ersten Orchesterprobe stellte sich aber heraus, daß auch im 1. Akt Isoldens große Erzählung mehr als zur Hälfte – nach Wiener Stimmen und Einrichtung – und auch andere Stellen noch gestrichen und, wie Richter meinte, gar nicht ausgeschrieben waren. Daraufhin weigerte ich mich, die Rolle überhaupt zu singen; und andern Tags wurden die Noten, die vielleicht doch ausgeschrieben und nur verklebt gewesen, beschafft und der 1. Akt strichlos gemacht. Die vorzügliche Aufführung rechtfertigte den glänzenden Erfolg, um den sich Richter ein großes Verdienst erworben. In acht Tagen wurde der Tristan zweimal gegeben, und dazwischen sang ich noch die Venus im Tannhäuser. Schon vor meiner Ankunft in London hörte ich von unliebsamen pekuniären Differenzen der Künstler mit dem Impresario, der sich bei jeder Gelegenheit hinter einem Garantiefonds verschanzte. Den ersten Kräften war man bisher nichts schuldig geblieben, wohl aber hatten Chor und Orchester schon verschiedentlich sehr ernste Mahnrufe ergehen lassen, streikten auf der ersten Tristanprobe und spielten erst weiter, als man sie bezahlte. Eine fernere schöne Überraschung harrte meiner im Tristan, als mir Gudehus nach dem Liebesduett zuflüsterte, daß er nicht weitersänge, weil er sein Honorar nach dem 1. Akt nicht erhalten. Ich bat ihn dringend, die Vorstellung nicht zu stören, es Wagner und unsre Liebe für das Werk nicht entgelten zu lassen; doch dauerte die Zwischenpause vom 2. auf den 3. Akt unendlich, weil Gudehus wirklich erst nach Erhalt seines Honorars weitersang. Und eigentlich hatte er recht; denn warum sollen die Künstler das Mißlingen schlecht fundierter Unternehmungen mit Verlusten büßen?

siehe Bildunterschrift

Lilli Lehmann als Isolde in Tristan und Isolde.

Noch immer sehe ich den Braunschweiger Baß, Herrn Nöldechen, mit einem dicken Spazierstock einherstolzieren und diesen zärtlich seinen »Garantiefonds« nennen. Unter Leitung dieses sonoren garantiefondssicheren Kollegen forderten Frau Luger und ich energisch unsere Honorare vom Impresario, der zwar eben »einer wichtigen Konferenz beiwohnte«, nach einigem Warten aber uns die Schecks persönlich einhändigte. Geängstigt von Kollegen, daß diese wertlos und gar kein Geld auf der Bank sei, stürmten wir dorthin und erhielten die Summen in schönen Goldstücken ausbezahlt, die mit kleinen Schaufeln auf einer Wage gewogen wurden. Natürlich hofften wir, daheim einige Pfunde mehr zu finden; aber es stimmte; keines mehr, keines weniger.

In London hatten wir viele bekannte Künstler getroffen, ich und meine Nichte, die nun meine stete Begleiterin wurde. Sogar ein reizendes Picknick hatten wir mitgemacht, das Mr. Bambridge, der musikalische Sekretär des sehr musikalischen Herzogs von Edinburgh, arrangierte. In kleinen Booten waren wir die Themse an vielen herrlichen Punkten vorbei hinaufgerudert, hatten gerastet, geluncht und waren in herrlicher Dämmerung wieder die Themse hinabgefahren. London kann wirklich sehr schön sein, wie alles, was man zu genießen versteht. – Was in Covent-Garden nun weiter geschah, entzog sich meiner Kenntnis, da mich mein Wort nach München rief, wohin wir uns über die Schweiz langsam schlängelten, immer mit Amerika rechnend, englische Vokabeln lernend, also stets ruhelos, aber zu Fuße wandernd in göttlichster Natur.

 

General-Intendant von Perfall fand ein bequemes Mittel, den Ring als Festvorstellung anziehungsfähig für München zu gestalten, indem er alle Künstler, die 76 unter Wagner den Ring gesungen, für Billiges mitzuwirken einlud, um die Vorstellungen gleichzeitig zu einer Erinnerungsfeier für Wagner zu stempeln. Da Perfall nicht locker ließ, hatten auch Niemann und wir drei Rheintöchter nach langem Sträuben die Einladung angenommen, ich mir aber für die 1. Walkürenvorstellung die Sieglinde zu singen ausbedungen. Angenehme Erinnerungen knüpfen sich nicht an dieses Gastspiel. Acht Jahre waren seit 76 über uns hinweggegangen; Frau Lammert verheiratet, meine Schwester sehr nervös, und auch mir behagte manches nicht mehr, was ich so gern für Wagner getan. Die Schwimmaschinen, die hier auf ebener Bühne und nicht wie in Bayreuth auf hohem Praktikabel liefen, dafür aber die Rheintöchter auf doppelt so hohen Stangen schweben ließen, waren der erste Stein des Anstoßes, und nicht der letzte. Ich war die einzige, die es wagte, mich darin herumfahren zu lassen und zu singen; meine Schwester brach sofort in einen Weinkrampf aus, und Minna Lammert-Tamm begnügte sich, daran hinaufzusehen und ruhig zu sagen: »Ne, in die Maschine gehe ich nicht, ich habe zwei kleine Kinder und setze mein Leben nicht aufs Spiel.« Nun war guter Rat teuer, und das Beste schien mir, Herrn von Perfall zu bitten, uns unseres gegebenen Wortes zu entbinden. Perfall ging zu Levi, und unfreiwillig hörte ich diesen sagen: »Ich denke, wir haben keine Verbindlichkeiten gegen sie, brauchen keine Rücksicht zu nehmen, da sie das nicht können.« Perfall war indessen anderer Ansicht, meinte, er habe dem Publikum nur den Gesang, nicht auch das Schwimmen versprochen, und bestände darauf, die Originalrheintöchter zu behalten. Es müsse eben möglich gemacht werden, daß wir unten sangen und andere das Schwimmen oben markierten. Es war gewiß sehr liebenswürdig, aber sicher nicht klug, und contre coeur nur ging ich auf diesen Vermittlungsweg ein, war aber geradezu verzweifelt, als ich am Abend zu unserm Gesang die Schwimmerinnen da oben die unpassendsten Bewegungen machen, sie traurige oder gleichgiltige Gesichter schneiden sah zu dem, was uns stürmisch bewegte.

In der Walküre wurden Niemann und ich vom Publikum sehr gefeiert. Viele Maler, wie Lenbach u. a., besprachen unsere Mitwirkung und Niemanns großartige Leistung voll freudigster Anerkennung, und nur die Presse war geteilter Meinung. Sie mochte glauben, ihre einheimischen Kräfte zu schädigen, wenn sie fremde zu sehr lobte, und hatte vielleicht recht damit. Gäste waren in München damals immer zwischen zwei Parteien eingekeilt. Hie Vogl, hie Weckerlin, die sonst Sieglinde sang. Von letzterer Partei wurden wir verrissen, von den andern in den Himmel gehoben. »Das sei endlich das Wälsungenpaar; Leidenschaft, Glut in Spiel und Gesang unvergleichlich gewesen.« Wir hatten gezeigt, was wir konnten! Aber ohne Ärgernis mit der Regie war es auch hier nicht abgegangen. Im ersten Akt brannte nämlich außer dem Herdfeuer – noch ganz unnötig und entgegen Wagners Vorschrift – ein Scheit, das auf einem eisernen Ständer ruhte, und das Sieglinde mitnehmen sollte. Siegmund frägt nach dem Abgang Sieglindens, sobald der Schwertgriff erglüht: »Ist es der Blick der blühenden Frau, den sie haftend dort hinter sich ließ?« Anstatt, daß nun Sieglinde mit dem Nachttrunk in der linken Hand, einzig im Dämmerschein des verlöschenden Herdfeuers, mit einer bedeutungsvollen Kopfwendung gegen den Baum, das Auge plötzlich auf den Schwertgriff haftet, dann auf Hundings Drängen hinter dem Türvorhang, den sie sich selbst öffnen muß, verschwindet, sollte sie, der dortigen Regie gemäß, mit dem Nachttrunk in der einen, dem brennenden Scheit in der andern Hand, abgehen. Welch ein entzückendes Bild! Heiliger Wagner! Da ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, blieb es endlich fort. – (Im 2. Zyklus sang ein anderes Wälsungenpaar, bei dem ich lebhaft an die Philemon und Bauzisszene im Faust erinnert wurde.) Am Morgen nach der Walküre brachten wir Niemann, der am Starnberger See wohnte, zum Bahnhof. Mit der Reisetasche in der Hand hätte er leise an König Menelaus mahnen können, wäre er nicht Faust gewesen. Mit dem tragikomischen Ausruf: »Na, Kinder, nun wäre das glorreiche Gastspiel auch vorüber«, dampfte er, von Lachsalven begleitet, seiner kleinen und doch so großen Hedwig-Helena zu. Ich wußte, daß er nur Wagner und mir zuliebe den Siegmund gesungen, sich darum seiner wohlverdienten Ruhe mehrere Tage entzogen, daß er sogar den Florestan abgesagt hatte, um den es Perfall so sehr zu tun gewesen. – Uns Rheintöchtern stand noch ein großer Schreck bevor, als wir in der Götterdämmerung, auf niedrigen Maschinen festgeschnallt, den Anfang des dritten Aktes erwartend, von einem furchtbaren Schrei im Publikum in Angst und Sorge gestürzt wurden. Jeder glaubte an Feuer, und wir, die wir uns nicht rühren konnten, sahen uns schon rettungslos verloren. Zum Glück handelte es sich nur um einen Taschendieb, der auf der Galerie ertappt und verhaftet worden war; den Schreck aber hatten wir weg. – Dann zogen auch wir heim vom glorreichen Gastspiel, zu dem viele der Bayreuther Künstler nicht gekommen waren.

Noch zu Lebzeiten meiner Mutter hatte mir Dr. Leop. Damrosch einen Antrag auf zwei Monate für große Wagnerkonzerte und Opern in Amerika gemacht, die dann Materna und Winkelmann sangen, weil Hülsen mir einen so langen Winterurlaub 84-85 nicht gab. Dafür war er gewillt, mir einen kürzeren für Wien und im Winter 85-86 einen viermonatlichen für Amerika zu erteilen, für den er sich dann einzurichten versprach, und der mir für meine Vorbereitungsarbeit viel wichtiger schien.

Mein Plan war fertig. Es paßte mir ausgezeichnet, den Winter über tüchtig vorzustudieren, um vorerst in Wien und Dresden, wohin mich wieder lange Gastspiele riefen, auszuprobieren, ob ich wirklich kräftig genug wäre, mir eine dramatische Karriere zuzumuten. Mit tollem Mut stürzte ich mich nun aufs Studium von Fidelio, Donna Anna und Norma, die mir bald gesanglich und schauspielerisch vollständig zu Gebote standen; und ein merkwürdiger Zufall sollte mich die Probe davon schon in Berlin ablegen lassen. Um meiner geistigen Anstrengung ein Paroli zu bieten, malte ich autodidaktisch Blumenstücke, an denen ich herumpusselte und dadurch an anderes zu denken gezwungen wurde. Eines Morgens sitze ich an der Staffelei, als unser guter alter Theaterdiener Carus hereintrat. Ich glaubte schon, er wolle mir wieder einmal den »Troubandour«, wie er die Oper konsequent nannte, ansagen; aber diesmal sollte es ganz anders kommen. Er frug mich, ob ich abends den Fidelio singen könne. Frau von Voggenhuber sei erkrankt, Frau Sachse wolle nicht einspringen; wenn ja, so würde Herr Kapellmeister Radecke in einer Stunde bei mir sein, um die Oper durchzugehen. Carus verschwand mit meinem Jawort, während ich, meiner Sinne nicht mehr mächtig, zitternd, an dem Platze, wo ich gerade stand, laut aufschluchzend in die Knie sank und heiße Freudentränen in meine gefalteten Hände weinte, ihr dankend, der ich so viel zu danken hatte! Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich erholen und fragen konnte, ob es denn wirklich wahr sei. Ich Fidelio in Berlin?! Großer Gott, ich Fidelio! Gleichviel, daß ich ihn zehn Tage später in Wien singen sollte. Wien war nicht Berlin! In Wien war ich viel mehr anerkannt als in Berlin, wo ich doch viel mehr hätte anerkannt sein sollen! Der liebe Ehrgeiz, der mich aufgestachelt, fühlte sich befriedigt. Als Radecke eine Stunde später kam, fand er mich als Herrin der Situation. Am Abend ging's – wenn auch nicht so kräftig, wie ich gewünscht – ganz ausgezeichnet; Betz und Niemann drückten mir stumm die Hand, und ich wußte, was das zu bedeuten hatte. Ich dankte Gott für das Gelingen, und – Ironie des Schicksals! – wem hatte ich's zu danken? Unserem Theaterschneider! Jawohl, dem kgl. preuß. Herrenschneider Schröder. Er hatte mir für Wien ein Fideliokostüm angefertigt; er hörte zufällig von der Absage der beiden Dramatischen; er sagte: »Hören Sie, die Lehmann singt den Fidelio auch, ich habe ihr neulich Hosen dazu gemacht«; kurz, er rettete die Vorstellung. Er verhalf mir zu meinem Siege, um den ich so lange gebettelt und von Hülsen immer mit den Worten: »Das können Sie nicht« abgewiesen worden war. Und nun sagt ein Schneider, daß ich's kann, und ich kann es wirklich. Gelobt sei dieser Schneider, dessen ich bedurfte, um in Berlin zum Fidelio zu gelangen! Und dennoch hatte ich kurz vorher Hülsen mein Repertoire, worauf die Rolle verzeichnet war, persönlich überreicht. Hülsen gestand, daß er mir das nie zugetraut hätte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich doch auch die Norma sänge. »Ja, die Norma; der Fidelio ist aber doch noch ganz etwas anderes«, worauf ich ihn wieder belehren mußte, daß die Norma zehnmal so anstrengend sei als der Fidelio.

Zehn Tage später sang ich in Wien schon Isolde, Fidelio, Donna Anna, denen Konstanze und Norma folgten. Donna Anna sang ich zum erstenmal; H. Richter dirigierte den Don Juan, wobei ich stark auf eine gute Bühnenprobe hoffte, von der aber nichts verlautete. Man erzählte mir auf meine Erkundigung, Hans Richter habe keine Probe angesetzt mit der Begründung: »I bitt Sie, lächerlich, i wer nit wissen wie die Fräul'n Lehmann die Donna Anna singt!« Das war gewiß sehr schmeichelhaft für mich, daß er mir die Rolle ohne jedwede Probe so auf den Kopf zutraute, aber ich mußte doch wenigstens die Szenarien kennen, mußte wissen, wo ich selbst und meine Partner auftraten oder abgingen, und bestellte mir Tags vorher den Inspizienten auf die Bühne, der mich darüber unterrichten sollte. Als ich nach dem Abgang Don Juans vor der Rachearie frug, was mir am wichtigsten schien, erteilte er mir folgende Auskunft: »Wenn der Herr von Reichmann singt, so geht er rechts ab, singt aber der Herr von Beck, so geht er links ab, weil er dort viel näher zu seiner Garderobe hat.« – »Und wer singt morgen den Don Juan?« – »Das wissen wir noch nicht.« Ich studierte also für beide Seiten, und das Schicksal entschied für Herrn von Reichmann, was ich aber erst am Abend der Vorstellung erfuhr.

Mit künstlerisch feinstem Verständnis nahm sich Direktor Jahn der Norma an. Ihm war große italienische Tradition nicht fremd, er wußte, wie die Oper in Italien aufgeführt, wie von den großen Italienern und Deutschen gesungen worden war, und widmete sich mit Lust und Liebe dem Werk, dem auch Richard Wagner stets wärmstes Interesse entgegengebracht hatte. Wenn ich an jene schöne Zeit zurückdenke und mir dann vergegenwärtige, mit welcher Unkenntnis und Lieblosigkeit man später dieser herrlichen Oper begegnete, muß ich die Künstler, die sich so große, dankbare Aufgaben entgehen lassen, ebensosehr bedauern wie das Publikum, das dadurch um den hohen Genuß eines so melodienreichen Werkes gebracht wird, dessen leidenschaftliche Handlung, menschlicher Größe weniger entbehrt als manches moderne Machwerk, dem zugejubelt wird. Die Oper aber, die so viel Liebe in sich trägt, darf nicht lieblos oder als abgetan behandelt werden. Sie muß mit fanatisch-gläubiger Weihe gesungen, dargestellt, von Chor und Orchester besonders mit künstlerischer Hochachtung behandelt, vom Dirigenten mit Autorität geleitet und jeder einzelnen Achtelnote der künstlerische Tribut gezollt werden, der ihr gebührt.

Scaria – Orovist, Wilt oder ich Norma, Winkelmann – Sever, dazu das Wiener Orchester, von Jahn, später von Hans Richter geleitet! Jahn sagte uns Schwestern gar oft: »Wenn Ihr beiden auf die Norma reisen wolltet, könntet Ihr Euch eine Million verdienen.« Dazu war meine Schwester, die immer nur das Nächste, niemals die Ferne in Erwägung zog, leider nicht geschaffen. Endlich war aber wenigstens ein Zusammenwirken durch meine Wiener Gastspiele erreicht, das uns in Norma, Don Juan, Entführung innige Freude bereitete. Wie sehr verstanden wir uns musikalisch! Dicht vor Ausführung der größten Kadenzen, in denen meine Schwester nicht immer gleichmäßig gern die zweite Stimme sang, wechselten wir noch die Stimmen, indem ich ihr schnell zuflüsterte: »Sing Du die erste«; denn mir war es ganz gleich. Noch sehe ich Scaria – Orovist in der letzten Szene, als ich um der Kinder Leben ihn, den Vater, anflehte, Tränen vergießen. Er wollte nicht glauben, daß ich die Rolle zum erstenmal sang. Wie rührend liebe- und würdevoll spielte er die letzte Szene, wie herrlich sang er die ganze Rolle. Das blieb in meinem Gefühl haften, das allein schon macht ihn mir unvergessen. – Von ganzem Herzen wünschte ich, es erständen dem prachtvollen Werke wieder Gesangskünstler und Darsteller, die es mit all der Herzlichkeit und all dem Können innerlich ausstatteten, wie wir es einst getan haben. Das Publikum dafür wird stets vorhanden sein.

siehe Bildunterschrift

Lilli Lehmann als Norma.

Dieselbe Liebe für Norma fand ich in Dresden vor, wo Schuch sie meisterte und ich sie – immer zwischen der preußischen und sächsischen Hauptstadt hin- und herpendelnd – noch oft sang. Endlich entschloß man sich auch in Berlin dazu, aber nicht mit halb so viel Sorgfalt und Liebe, und einer elenden Adalgisa, die mir die ganze Freude am Werke verbitterte. Das Andenken an Desirée Artôt verdarb mir den Geschmack an andern Adalgisen, und selten nur konnte eine davor bestehen. Von dem verführerischen Römer, Sever, der mit den einschmeichelndsten Melodien Frauen gefangen nimmt, hat ja gesanglich sowohl als darstellerisch keiner der heutigen Sänger mehr eine Ahnung, und darum wird die Rolle als schlecht befunden, die doch sonst nur vom ersten Heldentenor gesungen wurde. Wenn es den Zeitgenossen gelänge, die Koloraturen gut zu machen, die herrlichen Melodien schön italienisch zu phrasieren, diese Kunst mit der des Schauspielers richtig zu verbinden, dann würde die Rolle noch heute nicht weniger wirken als damals. Aber –: die Rolle steht ihnen nicht dafür. So verpatzte einst ein Wiener Sever, weil er zu spät auftrat, seinen sehr wichtigen Einsatz im ersten Finale, wofür ihm Hans Richter wütend zurief: »Ja, Schmarrn, Sie haben nicht einmal die Achtung vor der Kunst, vor Ihrer Pflicht, die Rolle zu können und auf dem Platze zu sein.«

An Emil Götze vorbeizugehen, ohne in herzlichster Erinnerung seiner Sangesfreudigkeit zu gedenken, seiner herrlichen Stimme, die einem frischsprudelnden Quell glich, scheint mir unmöglich. Noch heute klingt mir sein Walter Stolzing wie Jubelruf im Ohr, genau wie damals, als ich ihn zum erstenmal das Finale in den Meistersingern schmettern hörte, als sei's ihm wirklich »im Wald dort auf der Vogelweid« von einem Höheren eingegeben. Sein natürlicher Sangesjubel machte unsere Sängerherzen aufjauchzen und lachen. Glücklicher Mensch, glücklicher Sänger, dem es gegeben war, andere so reich zu beglücken!

Sein Gastspiel brachte mir eine neue Rolle: die Lucia, die ich nie zuvor gesungen. Nach allem, was ich in diesem Jahr geleistet, war es fast zu viel. An dem furchtbaren Herzklopfen spürte ich's besonders am ersten Abend, das mich beängstigend fast des Atems beraubte und das ich damals für hochgradige Aufregung hielt. Die eigentliche Ursache dieses höchst unangenehmen Zustandes erfuhr ich erst durch Professor Schweninger, und ausführlicher noch durch Dr. Wernecke, meinen nunmehrigen Arzt. Viel zu spät zu meinem größten Bedauern, da ich bei sofortiger Erkenntnis Maßnahmen treffen und mich vorzeitig vor vielen Anfällen bewahren, mir manch unangenehme Zeiten hätte sparen können.

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