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19

In der Christnacht setzte plötzlich der Wind um und schob von Süden her eine warme Wolkendecke über das Geriesel der Sterne. In schweren Atemstößen polterte er seines Weges, rappelte an den Fensterläden und wühlte sich laulich und weich in den kalten Flutterschnee hinein, der Dächer und Fenstergesimse bedeckte. Bald darauf tränte und tropfte es aus allen Rinnen und Röhren. Die alten kanadischen Pappeln, die die kleine Stadt wie eine trotzige Landwehr umstanden, brausten und sausten, schüttelten ihre weißen Zöpfe und klatschten flaumige Ballen von den Ästen herunter.

Immer nachhaltiger drängte der Wind nach, immer dichter schleierte sich das Land ein. Zwischen Himmel und Erde war rege Bewegung. Die Kälte ließ nach, löste sich auf und winselte wie ein Hund, dem man die Tür wies. Mehr dem Wasser zu setzten die Stromkundigen ernste Gesichter auf. Der Umschlag war zu unversehens gekommen. Seine unheilvollen Nachwirkungen kannte man aus früheren Jahren. Die Beschauer und Schleusenmeister hatten vollauf zu tun. Für sie gab es kein glückliches Fest; nur Arbeit. Sie drückten sich den Südwester tief in den Nacken, machten die Sturmriemen flott und zogen die Ölmäntel über. Stündlich prüften sie Pegel und Wetterglas und maßen die Stärke des Windes. Bis jetzt stand der Rhein noch, konnte noch tagelang stehen; aber unter dem Packeis war ein verdächtiges Stöhnen und Murren. Der angeschmiedete Strom knackte von Rees bis Emmerich in allen Fugen und Riegeln und mahnte zur Vorsicht. Da wußten die Deichgrafen, was sie zu tun hatten. Sie verständigten die pflichtigen Grundbesitzer, sagten die ›Nothilfe‹ an und ließen die Schleusenwerke und Dämme besetzen.

Die im Binnenlande wohnten, bangten nicht weiter. Warum auch? Sie brauchten bei den tüchtigen Bevollmächtigten nicht um ihre Äcker und Felder zu sorgen, tranken ihre Punschbowlen aus, sahen zu, wie die letzten Kerzen am Weihnachtsbaum die Augen zumachten, wünschten sich eine geruhsame Nacht und gingen dann schlafen. Aber nicht lange, denn keiner von ihnen wollte die Wette versäumen.

Um die dritte Morgenstunde flauten die Böen ab und orgelten nur noch in den engen Gassen und Gäßchen, die die Kirche umschachtelten. Dann kam es von oben, erst in einzelnen Flocken, dann in Geschwadern, dann in wimmelnden Scharen. Aber diese hafteten nicht, mehrten sich nicht in den Straßen; wie sie vom Himmel gekommen, kurzlebig und daunenweich, so vergingen sie wieder und taten sich in kleinen Bächlein zusammen.

Die Antoniusglocke schlug an und läutete den Kirchgang zum erstenmal ein. Gleichzeitig begann es hinter den gotischen Rosettenfenstern von Sankt Nikolai zu dämmern; denn Herr Bollig pendelte mit einem brennenden Wachsstock auf hoher Stange durch die weiten Hallen und trug die Helle von Schrein zu Schrein, von Predella zu Predella, einen feinen Duft nach Myrrhen und Weihrauch hinter sich herziehend. Als alle Kerzen von den Altären gespensterten, gebot er den Pulsanten, den zweiten Anruf zu läuten. Mit seinem Verklingen traten die Menschen aus den Häusern, um das Kindlein in der Krippe zu suchen und anzubeten. Gleich eiligen Schatten trieben sie in die Schneenacht hinaus, mit sanftem Holzschuhgeklapper, vermummt und noch den warmen Hauch nach Spekutius, Punsch und Weihnachtslichtern in den Kleidern.

Als erste schaukelte sich die herzensgute, pummelige Frau Kürliß der weihevollen Handlung entgegen. Sie hatte ein gutes Geschäftsjahr gehabt und aus ihren Pomeranzen-, Wacholder- und Bitterlikören eine Dividende bezogen, die es ihr ermöglichte, eine reichlich aufgetakelte Bänderfladuse um das rosige Gesicht und eine neue Bibergarnitur um Hals und Schultern zu legen.

Am Südportal vernahm sie ein melodisches Klingeln, und als sie genauer zuhörte, da waren es die Ohrgehenke, die Therese auf ihrem Gange begleiteten.

Sie trug ein schönes Goldkreuz auf der Brust, ein Geschenk ihres Herrn.

»Fröhliche Weihnacht!« sagte Frau Kürliß.

»Gibt's nicht für mich,« versetzte Therese.

Ihre Stimme war grandig. Auch das Klingeln nahm einen unwirschen Ton an. Sie sah scharf nach links hin.

»Aber ich bitte Ihnen, wieso nicht?!«

»Madam Kürliß,« meinte Therese, »Sie besehen sich das Leben immer durch 'ne neumodische Brille, die mit Bitterlikör und gebranntem Wasser geputzt ist; für unsereins aber ...«

Sie unterbrach sich und zeigte auf den Kirchenrendanten, der mit seinem Sohn André die Kirche betrat, den Zylinder abnahm und die spitzen Finger in den Weihwasserkessel versenkte.

Auf dem gehäkelten Schal ruhte der Marabukopf wie ein unheimliches Ding, nackt und kahl und unerbittlich wie ein Jakobinergerichtshof.

»Für unsereins aber ...«

Therese sah ihnen mit häßlichen Augen nach.

»Nein, Madam Kürliß, wo die sind, da gibt es für mich und die Douwermanns keine fröhliche Weihnacht.«

»Wieso nicht?«

»Madam Kürliß, wir werden's erleben.«

»Aber Fräulein Therese ...!«

»Ich sage Ihnen, die gehen über Leichen.«

Frau Kürliß wollte etwas entgegnen, fand aber das richtige Wort nicht mehr, denn Arnt Douwermann und Johanna erschienen, traten ein und gingen dem mittleren Chor zu, gefolgt von den beiden.

Der dritte und letzte Anruf verhallte.

Mit andächtigen Stimmen sangen die Gläubigen:

»Ein Kind, geboren zu Bethlehem;
Des freuet sich Jerusalem ...«

Dirk Vogels saß im Orgelstuhl und zog die Register. Hohe Gedanken erwärmten ihn. Er dachte an seine Liebe, an seine glückliche Zukunft, und was ihn bewegte, strömte in vollen Akkorden, in wunderseligen Zungen durch die räumigen Schiffe. Es war wie ein Gesang über den Wassern:

»Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.«

Arnt Douwermann stand dicht neben der Kanzel. Ruhiges Geistes folgte er der heiligen Handlung. Man sieht es ihm an: er ist stolz auf sich, auf seine Tochter, auf die Familie, der er entsprossen. Er hört das Brausen und Sausen der alten Zeit, den ehernen Schritt der Tage und die Hosiannarufe, die den großen Meister umtönten. Säen und Ernten, Auferstehen und Sterben! – alles gleitet an seinen inneren Blicken vorüber. Nichts entgeht ihm; auch die kleinste Spur wird lebendig. Geschlechter kommen und gehen. Seins ist nicht untergegangen – bis jetzt nicht, bis zum heutigen Tag nicht. Ein ragender Baum! Weit schattet seine Krone. Nicht alle Äste sind von gleicher Kraft, von gleicher Bedeutung; aber alle kernig und grün und voller Gesundheit. Nur ein Zweig brach ab, wurde vom Blitz zerschmettert und sank traurig zur Erde ... Plektrudis! Um so selbstherrlicher reckte sich der ihres Vaters. Er lebt noch immer; frischer denn jemals. Mit ihm spielen die Lüfte wie auf einer riesigen Harfe, in ihm singen die Vögel und preisen den Schöpfer, der alles mit seinem Odem erweckte ... und der Tau netzt ihn noch heute wie in den Tagen der Jugend. Die Kunst gab ihm sein freies Gepräge, und er hatte noch die Zähigkeit, einen Sonderzweig in die Höhe zu treiben ... Johanna! – Das ist der Stammbaum der Douwermanns bis zum heutigen Tage.

So hielt der Alte die große Heerschau, während die Staffelgebete und Kollekten gesprochen wurden. Kein Hochmut wandelte ihn dabei an, aber erhobenen Hauptes schritt sein Geist durch die selige Feier der Weihnachtsmette. Und lichte Funken umgaben ihn und spielten mit seinem weißen Scheitel und seinem fließenden Bart, der weich und graulich war wie Asche von einem Holzkohlenfeuer.

Dicht neben ihm kniete Johanna. Ihr Körper war ruhig, rückte und regte sich nicht; mit aller Willenskraft hielt sie ihn nieder, kettete ihn an und versuchte es, ihn von der ringenden Seele zu trennen. Sie war nicht bei den Staffelgebeten, nicht bei dem reinen Klang der hellen Schelle, die zur Wandlung ertönte. Sie mühte sich ab, das ›Vaterunser‹ zu sprechen, ihre Gedanken zu ordnen. Sie vermochte es nicht und wunderte sich nur, daß sie noch lebte. Sie konnte ein unbestimmtes Grauen nicht bannen, einer quälenden Angst nicht entrinnen. Die Glieder schmerzten ihr von dem ewigen Knien. Sie wagte es nicht, ihre Stellung zu ändern, aus Furcht, das Leid könnte noch unbarmherziger werden. Sie stellte sich vor, der ganze Himmel sei mit Krepp und schwarzen Perlenschnüren verhangen; nur im tiefen Osten läge ein olivenfarbiger Gürtel, ein leichenartiger Lichtschein ... und vor ihm stünde der Würger des Lebens ... Wenn er doch riefe! Wenn er doch riefe! Sie horchte und lauschte, aber er rief nicht. Nur die Orgel brauste stärker, um plötzlich abzubrechen und einer lähmenden Stille Platz zu machen, durch die das Glöckchen abermals hindurchgellte.

Die heilige Wandlung vollzog sich und neigte sich dem Ende zu.

Johanna dachte an den Tod und vergegenwärtigte sich, wie schön es sein müsse, in seinen Armen zu liegen ... und doch dürstete sie nach dem Becher der Freude, nach den Schwingungen einer trunkenen Wonnenacht. Vergebens streckte sie die Hand danach aus. Da rang sich ihre Seele vom Körper und flatterte auf wie ein gescheuchter Falke und stieß durch die Kirchenfenster hindurch, zerteilte die stickige Luft und jagte mit reißendem Flug dem olivenfarbigen Gürtel am tiefen Horizont zu, um in dem leichenhaften Schein Erlösung und Rettung zu finden.

Sie hob den Kopf und sah mit wehen Blicken dem rasenden Flieger nach.

Drüben neben seinem Vater stand André – hochaufgerichtet, herausfordernd und siegesgewiß ... ein Herrenmensch, dem es gegeben war, Weiberherzen nach seinem Willen zu formen, sie in wildem Taumel an sich zu ziehen oder kalten Mundes von sich zu stoßen. Sperber und Taube! Was seine Fänge umgriffen, war meistens verloren. Und die Sperberlichter begegneten denen der Taube, als wenn sie sagen wollten: »Sträube dich nicht länger! Du kannst mir doch nicht entgehen.«

Da glaubte sie, ihrem Geschick zu erliegen.

»Was hast du, Johanna?«

Der Alte beugte sich zu ihr und zog sie an seine Brust.

Sie gab keine Antwort, und hätte sie eine solche gegeben, spurlos und ungehört wäre sie von ihren Lippen gekommen; denn jubelnd, erhebend, mit allen Registern und Pfeifen kam es von der Orgeltribüne herunter. Die Gläubigen stimmten in den Choral ein, und feierlich klang es durch die gotischen Hallen, durch Weihrauch und Myrrhen und das Geflirr unzähliger Kerzen: »Gloria in excslsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis!«

Immer stolzer und freier: »Laudamus te!«

Immer allversöhnender: »Benedicimus te!«

Immer allgebietender: »Adoramus te!«

Himmel und Erde vernahmen den Hymnus: »Glorificamus te! Dominus vobiscum, et cum spiritu tuo!«

Die Menge verlor sich.

Noch immer den Arm um seine Tochter geschlungen, trat der Alte aus dem Kirchengestühl.

Sie mußten am Schrein der ›Freuden Mariä‹ vorüber. Er stand in strahlender Helle und ließ die Hand Meister Arnolds deutlich erkennen.

Wie auf ein zwingendes Geheiß blieb Arnt Douwermann stehen und sagte: »Wunderbar sind die Wege und Fügungen des Herrn, und immer hochgemuter hebt sich unser Geschlecht aus dem Nebel der Zeiten. Du vernahmst es selber. Aus fernen Jahrhunderten klingt es herüber. Zwei Namen ringen sich los: Meister Heinrich und Meister Arnold. Jener die Kraft, aus der wir entsprangen, des letzteren Tochter die Stammutter, die uns das Leben gegeben. Durch sie atmen wir, freuen wir uns, hat uns die Vorsehung Gottes geadelt; denn sie ist, neben einem reinen Gewissen, das Lauterste auf Erden. Was ich ersehnte, hat sich erfüllt. Meine Tage neigen sich, aber ich denke in eine strahlende Sonne zu schreiten. Sie liegt auf den Bergen, und ich stehe nicht an, zu behaupten: Diese Sonne hat mir Dirk Vogels verstattet. Ein Angebinde, wie keins mehr zu finden, wenn ich auch suche, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Weihnachten ist das Fest der Geschenke. Das Höchste, was ich zu vergeben habe, bist du, meine Tochter. Bei dir steht es, meinen Wunsch zu erfüllen, heute noch, wenn die letzten Worte der Handschrift wie das Abendrot langsam dahingingen.«

Er umfaßte sie zärtlich und preßte sie an sich.

»So frage ich denn,« fuhr er in tiefer Bewegung fort, »und zwar hier an den Stufen des Schreines, den Meister Arnold gebildet, willst du, daß ich dieses Geschenk darbringe, um dich und ihn und mich glücklich zu machen ... willst du, Johanna?«

Da stieß sie einen verhaltenen Schrei aus, warf ihm die Arme um den Nacken und weinte und schluchzte.

»Mein Gott, mein Gott!«

Ein fiebriges Zittern erschütterte ihren Körper.

»Weißt du,« raunte er ihr zu, »in Dirk Vogels liegt etwas, was aus der Tiefe emporhebt, etwas Straffes und Großes, das Wunder verrichtet. Sein Stern ist im Aufstieg begriffen.«

»Das weiß ich, das weiß ich! Ich tue ja alles. Dein Wille geschehe!«

Ihre Worte erstickten.

»Ich nehme dein Gelöbnis an,« sagte er warm und innig. »Bei seiner Erfüllung wird mir sein, als würde mir die Krone des ewigen Lebens geboten. Komm jetzt!«

Noch einmal küßte er sie, innig und glücklich.

Dann gingen sie.

Ihr Kopf war vornübergeneigt, ihr Gang schleppend.

Mehr getragen als geführt, erreichte sie das Südportal.

Hier trat ihnen jemand entgegen.

»Herr Douwermann ...!«

Er fuhr auf, als hätte ihn eine Peitsche getroffen.

»Sie wünschen ...?« fragte er heftig.

Ihm stieg das Blut in die Schläfen.

»Sie werden mir doch gestatten, Ihnen und Fräulein Johanna ...«

»Nein,« unterbrach ihn der Alte mit erwürgter Stimme, »ich gestatte hier gar nichts. Seit dem zehnten November sind wir geschiedene Leute, Herr Doktor.«

»Auch jetzt noch, wo die Versöhnung durch die Welt geht und Eintracht gebietet? Die Nutzanwendung hieraus überlasse ich Ihrem Ermessen. Es steht Ihnen nicht an, nach vagen Impulsen zu handeln. Was an jenem fraglichen Abend passiert ist ... ich für meine Person habe mir keinen Vorwurf zu machen.«

»Schweigen Sie, bitte! Kleben Sie nicht eine zweite Schuld auf die erste. Erinnern Sie mich nicht mehr an Dinge, die ich abgetan wähnte und die ich wie einen ekelhaften Kadaver verscharrte.«

André stand unerschütterlich.

»Herr Douwermann,« sagte er gelassen, »wie kommen Sie dazu, mir in dieser unverantwortlichen Weise entgegen zu treten?«

»Weil es meine verteufelte Pflicht ist. Reine Bahn will ich haben. Sie selber provozierten diese häßliche Stunde, sonst wären Sie meiner Tochter und mir aus dem Wege gegangen. Ich meinerseits gedachte zu schweigen, nicht länger in diesem Spülicht zu wühlen ... da wir uns aber nicht mehr ausweichen können, so sollen Sie ausgelohnt werden und meine Ansicht in blanker und gangbarer Münze erhalten.«

Er war wie kaltes Eisen geworden.

»Vater, ich bitte dich, Vater ...!«

»Schweige, Johanna! Bei einem solchen Zahlgeschäft darf man nicht stören. Es handelt sich hier um Heller und Pfennig.«

André lachte kurz auf.

»Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Douwermann, daß hierzu zwei gehören, einer, der spendet, und einer, der gesonnen ist, das Darlehn in die Tasche zu stecken.«

»Kein Zweifel, Herr Doktor. Zwei gehören dazu, und im vorliegenden Fall betrachte ich Sie als den Empfänger und mich als den Geber, und seien Sie überzeugt, wir beide kommen nicht zu kurz bei der Rechnung.«

»Wo nehmen Sie diesen Ton her, und was berechtigt Sie, ihn gegen mich zu verwenden?«

»Der Ton ist Ihrem Besitzstand entnommen, die Berechtigung aber meiner eigenen Truhe ... und ich frage Sie nunmehr: Waren Sie nicht redlich bemüht, Unkraut auf meinen frischbestellten Weizenacker zu streuen? Sie taten's. Schon war es im Aufgehn und hoch an der Zeit, die Egge anzusetzen und den bösen Feind von den Schollen zu treiben. Mein engumschriebenes Reich ist mein Alles und meine Tochter das Juwel meines irdischen Lebens.«

Fester zog er sie an sich.

»Wer sie antastet, tastet mein Heiligstes an, mein Glück, meine Ehre. Das tat ich nicht, werden Sie sagen. Gut, daß es noch nicht dazu kam; denn wär' es geschehen, hier diese zwei Fäuste hätten Ihnen die Arbeit gesegnet. Aber Sie waren eifrigst dabei, die verderblichsten Konflikte in ihre Seele zu tragen, sie mit Gott und den Menschen zerfallen zu lassen, ihre Kunst zu entweihen und sie allmählich auf die schiefe Ebene zu drängen, an deren Endziel die Gefallenen sitzen und sich das Antlitz verhüllen.«

»Herr Douwermann ...!«

»So ist es, Herr Doktor, und das mußten Sie hören; denn Sie selber waren es, der ein Versanden der Dinge, wie ich es angestrebt hatte, zur Unmöglichkeit machte. Diese Aussprache, ich hätte sie gerne vermieden, schon aus dem Grunde, um Hochwürden einen Gefallen zu tun und allen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen. Sie haben es verhindert und den Sand wieder von der infamen Sache geschaufelt. Ich kann es nicht ändern. Aber wir wollen einen Kompromiß machen, Herr Doktor. Denken Sie daran: ich will in den Himmel hinein. Auch meine Tochter Johanna. Heute, am ersten Weihnachtstag, sollen die goldenen Tore sich öffnen. Stören Sie uns nicht in unserm Vorhaben, schlagen Sie die goldenen Tore nicht zu ... und dazu ist nötig, daß wir uns wechselseitig verständigen. Also merken Sie auf. Sie sollen tot für uns sein, und wir sind gestorben für Sie ... und was sich begeben hat, damals, im Haus Ihres Vaters, was Sie an meiner Tochter sündigten – sei in das Nichts verbannt. Auf diese Weise haben wir Ruhe, bestehen wir als Wesenlose nebeneinander. Keiner hemmt den andern, niemand hindert den andern. So – und nun gehen Sie. Dort führt Ihr Weg hin.«

Er streckte den Arm aus.

»Hier trennen wir uns. Wir haben uns kein Wort mehr zu sagen – ich nicht und meine Tochter erst recht nicht.«

André fuhr auf.

»Johanna, auch du ...?!«

Zum erstenmal hatte er warme Herzenstöne gefunden.

»Geh doch, geh doch ... du siehst ja ...«

Sie wandte sich ab.

»Johanna ...!«

Er wollte ihre Hände ergreifen.

»Rühren Sie meine Tochter nicht an!« knirschte der Alte. »Denken Sie an den vorgeschlagenen Kompromiß. Ich für meine Person bin gesonnen, ihn ehrlich zu halten, und will nicht zum Lumpenkerl werden. Es bleibt dabei: ich bin gestorben für Sie. Wecken Sie mich nicht auf, lassen Sie mir meinen Totenfrieden, sonst: es könnte immer passieren, daß ich aus dem Gleichgewicht käme und etwas geschähe, das mich zeitlebens reuen würde. Für gewöhnlich meide ich tolle Hunde und Menschen, die mir Übles wollen. Aber kommt es dazu – Ihnen gehe ich nicht aus dem Wege. Darauf können Sie heilig gefaßt sein. Geben Sie Raum. Von nun an sind wir nur noch Schatten, Herr Doktor!«

Vor der Hoheit des erregten Mannes strich André die Segel, trat zurück und folgte den beiden, die die Dämmerhelle des Portals verließen und allgemach im Dunkel der Nacht und im Gewirr der noch immer auf und nieder treibenden Flocken zergingen.

Fern über Nikolai schoben sich die Wolken dichter zusammen.

»Ich nehme noch eine Handvoll Schlaf in die Augen,« sagte Arnt Douwermann, als er über die Schwelle seines Hauses trat und seine Tochter bis an ihre Kammer geleitete. »Gehe auch du schlafen, Johanna! Seit dieser Aussprache ist mir wohler geworden. Ein Wetter reinigt die Luft. Es ist besser, ein Unheil zu würgen, als sich von ihm würgen zu lassen. Angenehme Ruhe, mein Kind!«

Aber Johanna, obgleich sie sich dem Umsinken nahe fühlte, fand keine Ruhe. Wachen Auges und angekleidet warf sie sich auf die gespreiteten Decken. Sie hörte auf das Rauschen ihres Blutes und das Klopfen ihres gemarterten Herzens. In sinnloser Angst vor dem Unbegreiflichen wollte sie die Arme strecken. Matt fielen sie wieder an ihrem Leib herunter. Sie wollte schreien, aber der Schrei erstarrte im Munde. Verworrene Bilder bedrängten sie und schleppten sich müde durch ihr wehes Gesichtsfeld.

Nichts regte sich im Hause. Nur die große Standuhr im Zimmer des Alten tat ihren ebenmäßigen Gang und machte die tiefe Stille noch greifbarer und tiefer.

So vergingen die Stunden.

Ums Morgengrauen, als der erste Feiertag zu zwinkern begann, saß sie, die Füße am Boden, aufrecht im Bett. Ein duldsamer Schmerz furchte ihr Antlitz. Sie fröstelte, obgleich dem kleinen Ofen noch immer eine angenehme Wärme entstrahlte.

Eine merkwürdige Ergebung war über die Ärmste gekommen. Ihr verwunderter Blick lief durch das engmaschige Schummern des kleinen Gemaches und von hier aus in den umdüsterten Garten, hinter dessen kahlen Bäumen die ersten Anzeichen des werdenden Tages auftauchen wollten. Aber nichts war zu sehen. Nur die Schattenrisse der hohen Pappeln, die die kleine Umwelt abgrenzten, nickten wie graue Lemuren ins Zimmer.

Bald darauf hörte sie, wie Therese ihre Kammer verließ, über den Flur ging und sich in die Küche begab.

»Jetzt macht sie Feuer. Jetzt richtet sie den Kessel mit Wasser. Jetzt beginnt das Heimchen zu zirpen ...« so dachte Johanna.

Während der ganzen Nacht hatte der kleine Hausgeist geschwiegen. In diesem Augenblick geigte er wieder.

Nichts entging ihr.

Auch die geringfügigsten Dinge interessierten sie plötzlich. Sie nahm regen Anteil daran, und doch fühlte sie deutlich: langsam trieb sie in die Notwendigkeit des Geschehens hinein, ohne irgendeinen Halt zu gewinnen. Eine müde Ergebung in den Willen des Unabänderlichen hatte sich ihrer bemächtigt. Niemand entrinnt seinem Schicksal. Dem einen kommt es früher, dem andern später gegangen. Sie hatte nur die Hände in den Schoß zu legen und den Nacken zu beugen. Mochte kommen, was wollte.

»Herr, dein Wille geschehe!«

Sie erhob sich und zündete Licht an. Hoch aufatmend streifte sie ihre weiche Bluse herunter und trat vor den Spiegel. Hals, Schultern und Nacken waren entblößt. Unter dem weißen Linnen zeichneten sich ihre Formen ab, wie aus Marmor gehauen. Ihre Hände begannen zu nesteln. Sie gedachte ihre Haare zu ordnen. Da hörte sie deutlich ...

Leise, kaum hörbar klopfte es gegen die Scheiben; einmal, zweimal, dann wieder; aber stärker und nachhaltiger.

Sie trat ans Fenster und riß den Flügel auf.

Niemand war draußen. Nur ein mit einem Steinchen beschwerter Brief irrte ins Zimmer.

»André – du ...?!«

Keine Antwort erfolgte; aber es schien ihr, als hätte sich eine rasche Gestalt im nahen Buschwerk verloren.

Da schlug sie das Fenster zu und ließ die Gardine herunter. Sie griff nach dem Schreiben, öffnete es und begab sich in den Lichtschein der Lampe.

Das Papier knisterte und knitterte in ihren eisigen Fingern.

Kein Datum, keine Unterschrift. Aber zum Eingang, gleichsam als verzweifelter Aufschrei: »Johanna!«

Dann las sie:

»Nimm alles so auf, wie es gemeint ist. Nach dem, was soeben geschah, weiß ich keinen andern Ausweg. Dein Vater und ich ... Wäre es nicht Dein Vater gewesen, einer von uns beiden wäre gezwungen, sich dem Richter zu stellen. Daß es nicht dazu kam, haben wir Dir zu verdanken, aber auch meiner Liebe zu Dir, die wie eine Flamme ihren Weg geht und mir Blut in die Adern quälte, wie die Fische es haben. Was Dein Vater begehrte ... gut! ich bin einverstanden damit: er und ich, wir mögen uns als Menschen betrachten, die keine Gemeinschaft mehr haben; aber Du und ich – wir sind Bein und Fleisch und Freude und Auferstehung. Die Spuren, die hinter uns liegen, wischen wir aus. Neue beginnen. Ich sehe sie vor mir. Sie gehen nicht durch Flugsand und über steiniges Erdreich. Sie führen durch satte Gründe und über fruchtbare Felder. Jetzt, in dieser Stunde, wo ich dies schreibe, seh' ich sie vor mir. Ich täusche mich nicht. Sie sind sonnenüberglänzt, umspielt von trunkenen Garben. Schilt mich einen Toren, einen Narren. Halte mich für einen, der Bestehendes niederreißt, um dafür goldene Schlösser zu bauen. Ich weiß, was ich tue. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß ich einen Kampf kämpfe, wie selten einer ausgekämpft wurde. Bildlich gesprochen: ich stehe bis zum Gürtel in Blut. Nur, ich habe die Kraft nicht, ihn allein bis zu einem siegreichen Ende zu führen. Du mußt mir schon helfen. Ich will ein Opfer von Dir, ein Opfer, wie Du es niemals gebracht hast. Ohne dieses sind wir beide verloren. Desungeachtet: ich verlange nichts Unmögliches von Dir, keine utopischen Dinge. Sie lassen sich verwirklichen, wenn Du den Mut hast, Dich fest und unerschrocken auf meine Seite zu stellen. Ich will nur, was Recht und Gesetz ist, und die Liebe ist im vorliegenden Fall Recht und Gesetz. Es ist etwas Rätselhaftes um das wechselseitige Verstehen zwischen Mann und Weib, um Geben und Nehmen. Wo es nicht stimmt, zerspringen die Saiten und geben einen wimmernden Mißton. Bei uns aber ... unsere Saiten klingen schon harmonisch zusammen. Das weißt Du. Gestern wurden Dir alle Zweifel genommen. Ich hungere nach Dir, ich dürste nach Dir. Ich vergesse die Stunde nicht, wo ich dies sagte. Auch das ist gestern gewesen. Aber die Neidischen, die Selbstsüchtigen, die Verblendeten, die begreifen dies nicht; sie wollen eine Wand zwischen uns legen, Berge und Ströme. Sie wollen nicht, daß ich singen mag:

Isault la blonde, Isault m'amie,
En vus ma mort, en vus ma vie!

Aber wenn es zum Äußersten käme ... Du, gib mir die Seligkeit Deines Leibes und Deiner Seele zu kosten – dann werden sie müssen ...«

Sie zerknüllte das Schriftstück, wollte es in hundert Fetzen zerreißen ...

»Unerhört!«

Allein das Papier brannte ihr zwischen den Fingern, wurde lebendig, befahl ihr: »Lies weiter!« und sie verschlang wieder die Zeilen. Stammelnden Mundes setzte sie die Worte nebeneinander: »Dann werden sie müssen ... Um Deinet- und meinetwillen und Deiner Kunst willen – Du mußt aus der Enge heraus, aus dem dumpfen Kreis dieser Zeloten. Sonst erwürgen sie Dich. Erschrick nicht, Johanna! Du und ich – wir müssen fort, und das heute noch, sonst schlägt das Verhängnis über unsern Köpfen zusammen. Kein langes Besinnen mehr. Vom nächsten Morgen ist nichts mehr zu hoffen. Ich erwarte Dich heute abend am Hanselaerer Tor bei der Unteren Schleuse. Punkt acht bin ich da. Von hier aus ... Nun, Du wirst alles erfahren. Der Rhein ist nicht weit. Er liegt gefesselt zwischen den Ufern. Jenseits von ihm sind wir leidlich geborgen und haben Gelegenheit, den Nachtzug Empel–Berlin zu benutzen. Ein paar Stunden der Aufregung, dann ist das Schlimmste vorüber. An meiner Brust fährst Du einer glücklichen Zukunft, dem Licht und der Auferstehung entgegen. Was Dich noch bedrängt, streife es von Dir. Etwaige Verpflichtungen einem Dritten gegenüber sind nicht hoch zu bewerten. Also sperre Dich nicht ... Ich erwarte Dich pünktlich. Du hast es mit einem zu tun, der ohne Dich nicht mehr zu leben vermag, der alles und jedes auf ein und dieselbe Karte setzt, um sich mit Dir zu vereinen. Willst du ein größeres Unglück verhüten, dann komme! Ich schreibe dieses mit einer Ruhe, die in Eiswasser steht. Erst kommst Du, dann ich. Ich denke für Dich und handle für Dich. Hier ist unseres Bleibens nicht länger, und selbst, wenn Du sagen würdest: Hier wollen wir wurzeln, hier will ich in Deine Arme hinein und Dir alles geben, was ein Weib nur zu geben vermag ... es wäre unmöglich. Wir können gegen die Vorurteile nicht an und würden verbluten. Im Angesicht des Todes sieht man mit doppelter Schärfe. Jede Überraschung weise ich von mir. Ich bin wie einer, der seinen letzten Willen aufsetzte, die äußerste Folgerung zog und vor nichts mehr zurückschreckt. Noch einmal schreie ich Dir zu: Ich liebe Dich bis zum Wahnsinn, Johanna! Mit Dir zu den Sternen, ohne Dich dorthin, wo die Schatten wohnen. Das laß dir genug sein. Wäge kalt und besonnen, und Du wirst das Richtige finden. Es gibt Dinge, die nur zwei Möglichkeiten haben und keine dritte Lösung gestatten. Ein solcher Fall liegt hier vor. Entweder Du kommst, oder aber ... dann jedoch öffne Dein Fenster, schärfe das Ohr und horche in den Abend hinaus. Ich für meine Person bleibe meinem Vorsatz getreu, um letzten Endes Sieger zu weiden. Aber merke genau auf. Kurz nach acht wirst du einen Schuß fallen hören. Invicti pax!«

Kein Laut, keine Bewegung; dann faltete sie das Schreiben zusammen und steckte es zu sich.

Mit einem verstörten Lächeln drehte sie mechanisch das Licht ab, trat ans Fenster und scheitelte die Gardine still auseinander.

Ihr Blick ging ins Freie, lief über den fröstelnden Garten und verlor sich bei den einsamen Pappeln, die jetzt regungslos standen und keinen Hermelinschmuck mehr trugen.

Der kalte, nüchterne Hauch des Morgens wehte sie an. Tief am Horizont, durch das Maschenwerk der Bäume hindurch, zog sich ein fahles Glänzen und Leuchten.

Das sah sie alles, ohne zu sehen.

Jeder Begriff von Zeit und Raum schien ihr abhanden gekommen. Dabei war es ihr, als schritte sie durch eine endlose Allee, durch mahlenden Sand, der ihr einen unbegreiflichen Widerstand entgegensetzte. Und die Sandwelle wuchs und wuchs, steilte sich hoch, hüllte sie ein und begrub sie allmählich. Kein Entrinnen war möglich. Nur noch eine matte Helle war über ihr. Die umgriff sie mit hilflosen Augen. Da sah sie: ein großer, dunkler Vogel zog ruhigen Fluges vorüber, um immer kleiner zu werden und dann zu verschwinden.


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