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5

In die Holzschuhmacherstube zu Niedermörmter griff das nackte Elend hinein und zertöpperte das armselige Anwesen mit hämischem Grinsen. Die kleine Familienkolonie war auseinandergesprengt oder wollte in die Kirchhofserde hinein, und was noch übrig geblieben war, hatte das Lachen verloren. Auch über den begüterten Gutshof senkte sich ein häßliches Bahrtuch. Tagelang hindurch lärmten die Krähenvögel in den alten Eichenkronen, die mißmutig und dunstig das Herrenhaus und das stille Wasser umstanden, das sich dicht an den linken Flügel des großen Besitzes heranschob – jetzt starr und eingefroren und nur dort mit einer dünnen Eisschicht verkrustet, wo der Meisterknecht die Schollen für die Kühlräume hatte aussägen lassen.

Hier wurde Lene Vogels unter einer magern Schicht frischen Eises nach vierundzwanzig Stunden gefunden, halb entkleidet, lächelnd und gütig wie immer, und die Lichtjungfer, die sie zu ihrem letzten Gange herausputzte, machte blanke und verzückte Augen und erzählte in der ganzen Bekanntschaft: »Weiß Gott! schön ist die Lene ja immer gewesen, aber so schön wie im Totenhemd hat sie noch keiner gesehen. Die amüsiert sich direkt in den Himmel hinein, und daher ist meine unmaßgebliche Meinung: der Herr hat ihr vergeben im Leben und Sterben und sie würdig befunden, das ewige Gloria zu singen.«

Dabei besprengte sie die Leiche mit Weihwasser und bat sich eine Tasse Kaffee aus mit Kandiszucker und Rodongkuchen, um sich herzhaft zu stärken und der Erzählung im Hinblick auf die unglückselige Frau einen gediegenen und würdigen Abschluß zu geben.

Mit der Beisetzung des so jäh aus dem Leben geschiedenen Gutsherrn verstummte auch das Lärmen der Krähenvögel. Nur unter dem Eise des verschwiegenen Wassers ließen sich noch lange Tage und Nächte hindurch eigentümliche Stimmen vernehmen. Sie unterliefen die starre Fläche von einem Ende zum andern und erinnerten an das unheimliche Gequietsche von Ratten und dann wieder an das tiefe Murksen von Meerschweinchen, die an den gekalkten Wänden von Armeleutsstuben entlang fegen.

Requiescant in pace! Die beiden hatten das Leben von sich geworfen. Aber Gott ist barmherzig, und sie werden die Ruhe finden nach irriger Pilgerfahrt, und sein Licht wird ihnen leuchten für jetzt und immerdar.

Stäwe saß im Gefängnis zu Kleve. Häufiger sprach der Geistliche der Anstalt bei ihm vor und redete von Mord und Totschlag, von Hölle und Fegefeuer, von Reue und Einkehr und von den Dingen, die sich auf ein gottwohlgefälliges Sterben bezogen.

»Sterben?« fragte Stäwe mit schiefen Mundecken, als läge ihm dieses so fern wie einem Himmelsboten die Sünde. »Nein, Herr Pastor, da sind Sie auf den Holzweg gekommen und haben neben den Fettnapf gegriffen. Was versteht so'n Schwarzkittel von honorigen Menschen, von Meerschaumköpfen und so was! Nichts, reineweg gar nichts! Ich bitte mir aus, mich estimieren zu wollen. Gottverdammich noch mal! ich bin gezeichnet vom Herrn, und so gezeichnete Menschen können nicht sterben,« und dann zog er den Holzschuh, mit dem er seine gemordete Ehre wieder hergestellt hatte, von der Lammfellsocke herunter und küßte ihn lange. Etliche Wochen später wurde er vor die Assisen gestellt, und als er den Gerichtssaal betrat, tat er es mit offner Stirne und gestrecktem Nacken, und seine Antworten wurden wie im Jubel gesprochen. Früher verschlossen und wortkarg, redete er jetzt in feurigen Zungen, und er berauschte sich selbst an dem krausen Zeug, das er dem hohen Gericht und den Geschworenen anpräsentierte. »Meine Herren,« sagte er schließlich, »mein Leben ist immer so honett dahingelaufen wie ein Eisenbahnzug auf blanken und schnurgeraden Schienen. Das ging wie geschmiert, und was die Hauptsache ist: meine Heirat war glücklich. Auch meine Ehe. Nur schade: alle Frauen sind wie die weiblichen Krebse. Sie machen gerne retour und kommen vom Gaul auf den Maulesel. Das ist auch meiner passiert; denn sie hat ihre weißgescheuerten Holzschuhe neben gutsherrliche Plüschpantoffeln gestellt, und das haben meine ehrlichen Klumpen übel genommen. Besonders der eine, und so ist denn der weibliche Krebsgang und das große Sterben gekommen. Doch schön war die Sache.«

Die Richter und die Geschworenen sahen sich nachdenklich an; aber Stäwe sprach weiter. Er erklärte das sechste Gebot und erörterte des längern, wie unter dem Schnürleibchen sich die Spielgefährtinnen des Satans verbergen. »Das sind ganz niederträchtige Dinger,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »und was konnte meine Lene dafür, daß sie so ganz absonderliche und liebliche hatte? Das war eben ihr Unglück und doch nicht ihr Unglück; denn Gottes kaltes Eiswasser und mein linker Holzschuh haben sie aus den Krallen des Satans gerissen und ihr gezeigt, wie ein ehrlicher Kerl noch Manns genug ist, 'nen räudigen Bock abzutun und ein verlorenes Schaf in den Garten des Paradieses zu führen. Sie müssen nämlich wissen, mein hoher Gerichtshof: was die Lene ist, die so prächtige Halbkugeln hatte – durch Jesu Christi Blut und mit Gott für König und Vaterland habe ich ihr zum Himmel und in die Gute Stube verholfen. Des bin ich froh und segne den hochgebenedeiten Sankt Nikolausabend.«

Lächelnd wie ein glückliches Kind stand Stäwe seinen Richtern und der atemlosen Menge gegenüber, die alle Zuhörerbänke besetzt hielt, und es war ihm so, als vernähme er überirdische Musik und die Chöre jubelnder Engel.

»Um Jesu Christi Blut!« sagte er leise, »und was ich getan habe, das muß seine Belohnung erhalten; denn alles will wiedererlebt sein, oder Gottes Wort ist gelogen. Ich habe gesprochen und bitte um ein Gläschen Champagner. Den hab' ich niemals getrunken.«

Wieder sahen sich die Richter und die Geschworenen an, und als die Sachverständigen und die Pathologen ihr Gutachten niedergelegt hatten, ließ der Staatsprokurator die Anklage fallen.

Stäwe jedoch kam in das graue und weitläuftige Haus, dessen Fenster zwar hinter einem schöngeschmiedeten Gitterwerk lagen, wo aber Menschen wohnten, die das Perpetuum mobile suchten und die Umgestaltung der Weltordnung anstrebten; auch waren etliche dort, die mit Zepter und Kronen spielten und Königreiche verteilten. Da saß er nun verschiedene Jahre, pries Gottes Güte und Allmacht und verehrte seinen linken Holzschuh, als wenn er ein Heiligtum wäre. Aber freie Wipfel hinaus sah er in die niederrheinische Gegend, hörte er die Glocken läuten wie in seinen glücklichen Tagen und war unermüdlich tätig, aus einem Pappelholzblock zwei niedliche Schuhe zu schnitzen. Als er damit fertig geworden, stimmte er den ambrosianischen Lobgesang an und psalmodierte mit hallender Stimme:

»Großer Gott, wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke ...«

und sagte: »Die sind für Lene bestimmt; denn die frühern hat der andere mit in die Grube genommen ... und Lene triumphiert jetzt in meine Behausung hinein, schön und strahlend wie die Königin, die auf der Mondsichel thront ... und Dirk, unser eingeborener Sohn, spielt die Vigeline dazu und tritt unter die Seligen, wo er sitzen wird zur rechten Hand Gottes, um zu richten die Lebendigen und die Toten ... Grüßt mir Dirk, unsern Sohn, denn er ist unseres Grußes bedürftig. Amen.«

Und Dirk Vogels stand wie auf einer unermeßlichen Heide, die unter heißem Sonnenbrand lag, die dürr und leer war wie die unbarmherzigen Hände, die an Stelle des Brotes nicht einmal Steine vergaben. Als das Unglück geschah, trat er in das vierte Semester, und er hätte sein Leben in die Hand nehmen mögen, um es als ein verfehltes und verrottetes gegen die Wand zu schmettern. Seine Mutter, seine angebetete Mutter, die ihm stets vorgekommen war wie eine Frühlingswiese mit Myriaden von Blumen, mit Himmelsschlüsseln und Salbei bestellt und mit einem prächtigen Lerchenjubel darüber – wo war sie nur, wie konnte sie nur in die Irre hineingehen, in den purpurnen Wahnsinn, der alles Armselige hinweggewischt, dafür aber die Schande, den Moder und die Verwesung ins Haus gebracht hatte?! Sein Inneres, sein Denken und Fühlen, seine arme Seele kroch wie eine Mimose zusammen, suchte die Dämmerung und die nächtigen Stunden auf und hatte den Mut nicht, stiernackig unter die Leute zu treten; denn er wähnte, sie würden ihn mitleidig ansehen, ihn bedauern, ihn das Traurige seiner Lage merken lassen; und das wäre nicht zu ertragen gewesen. Was konnte ihm überhaupt das Leben noch bieten? Was wollte er von den kommenden Tagen, die vor ihm heraufzogen, als wären sie aus einem Aschenregen gekommen? Er irrte sich. Die Menschen waren barmherzig; nicht rührselig und mitleidig. Dafür hatte das Schicksal zu brutal gegen die Türplanken des Holzschuhmachers gehämmert. Sie hatten Respekt und eine tiefgründige Andacht – eine Andacht, wie sie herrscht am Tische des Herrn, wenn die Bußfertigen kommen, um des ewigen Brotes teilhaftig zu werden. Und als Dirk Vogels zum ersten Male wieder den Fuß in die engere Heimat hineinsetzte, zogen die Mannsleute ihre seidenen Schirmmützen herunter, und die Frauen kamen zögernd und schluchzend heran, legten ihm die Hand auf die Schulter und sahen ihm tief in die Augen.

»Dirk,« sagte denn auch der Grobschmied Christ van den Hövel, »ich weiß allens, und weil ich allens weiß, kann ich auch das gewesene Malör in die richtige Begutachtung nehmen. Was gewesen ist, das kann man nicht mehr zurückpfeifen wollen; denn es wäre vergebliche Arbeit und in den Brunnen gepfiffen; für so was bin ich nie zu haben gewesen. Aber was kommt – und dein Leben liegt vor dir – und wie man sich dabei anstellen soll, das ist gerade so, als wenn man auf der Rollerbahn stände, um seine feinste Kugel zu schieben. Dirk« – und Christ van den Hövel holte seinen überzeugungstreuesten Bierbaß aus dem rasselnden Schurzleder heraus – »und so ist denn meine mutmaßliche und eingeborene Ansicht: Stelle dich forsch auf die Rollerbahn hin, spucke dito forsch auf die Kugel und pfeffere mit Gottes gnädigem Beistand alle Neune herunter. So hast du das beste und nobelste Honnör deines Lebens geschoben.«

So weit Christ van den Hövel, der Grobschmied, und seine Worte fielen auf dankbares Erdreich ... und als dann noch der fette Ansiedelungsbauer vorsprach, derselbe, der an dem verhängnisvollen Nikolausabend, als die Bratäpfel im »Goldenen Anker« hinter der Ofenröhre rumorten, die sich anhebende Tragödie auf die schiefe Ebene und ins Rutschen brachte – als Fritz Kleienberg vorsprach und sagte: »Herr Studiosus, nichts zu verübeln; denn ich bin gewissermaßen der unschuldsvolle Seifensieder gewesen, bin indessen jedoch immer erbötig, geschehenes Unrecht in klares Recht zu verwandeln, den gelehrten Universitätsbullen auszumästen und schlachtreif zu machen, wenn auch dabei so propter und prätorius drei- oder viertausend Krontaler abspringen würden; Herr Studiosus, nichts zu verübeln, aber was Sie auch wollen: Kaplan, Professer, Avkat oder medizinischer Doktor ... mir soll's egal sein; denn Fritz Kleienberg hat's dazu und sein Wort ist immer die erste Nummer im Landkreis gewesen ... also ich bitte ...« und er hielt ihm die Hand hin – ja, erst da kamen dem Ärmsten so recht die Worte Christ van den Hövels zum wahren Bewußtsein, als dieser meinte: »Stelle dich forsch auf die Rollerbahn hin und pfeffere mit Gottes gnädigem Beistand alle Neune herunter. So hast du das beste und nobelste Honnör deines Lebens geschoben,« und er sagte mit stiller Bewegung: »Ich danke Ihnen, Herr Kleienberg; aber ich fühle, man soll sich auf sich selber und nur auf sich selber verlassen. Nur so ist ehrliche Arbeit zu leisten. Läßt sich's auf der Höhe nicht schaffen, will ich's mit der Niederung und der Tiefe versuchen. Auch im einfachen Lehramt kann ich mit dem Sämannstuch umgehen und die Herzen der Menschen befruchten. Auch auf diese Weise hole ich mir das beste Honnör meines Lebens.«

»Wie Sie meinen,« versetzte der Ansiedelungsbauer, »aber Herr Studiosus, wenn Sie mal ein Anliegen haben ... ich bin immer zu finden, und wer bei mir anklopft, dem wird aufgetan werden. Meine Kartoffeln braten in ihrem eigenen Schmalz, und meine zweihundert Kühe kalben dreimal im Jahre. Also drum keinen Schenier nicht. Ich heiße Fritz Kleienberg. Das gilt tausend preußische Friedrichsdors, wenn nicht das Zehnfache, zwischen Niedermörmter und Kleve. Herr Studiosus, nichts zu verübeln, es ist gerne gegeben.«

»Und dennoch muß ich auf meiner Ansicht bestehen.«

»Schön denn; aber nochmals gesagt: ich bin immer zu finden.«

Damit ging er; aber Dirk Vogels biß die Zähne zusammen. Er hatte noch festen Grund unter den Füßen; er brauchte nicht mehr an sich und der Welt und den Menschen zu zweifeln. Ein frischer Saft und ein neuer Trieb war ihm zwischen Bast und Borke gefahren. Er sah in ein weites, grünendes Land, und die Morgensonne war bei ihm. Ja, er wollte von der Höhe herabsteigen und es in der Tiefe versuchen. Auch hier konnte er mit dem Pflug über die Äcker schreiten, die Schollen brechen und den Samen streuen in junge Menschenherzen, auch hier das Banner entfalten und rufen: » Pereat mundus, fiat vita!« – und so ging er denn hin und schüttelte den akademischen Staub von den Füßen, um sich für das Amt eines schlichten Lehrers vorzubereiten – mochte kommen, was wollte. » Pereat mundus, fiat vita!« Er rief es noch einmal und ging erhobenen Hauptes über die Trauer und die vergangenen Tage hinweg und energischen Schrittes seinem neuen Berufe entgegen. Als er seine Heimat und das Grab seiner Mutter verließ, war es Frühjahr geworden. Die Uferränder der Niers, auch die der kleinen Wässerchen, die ihr zuströmten, waren blau von Veilchen. Die Weidenkätzchen puderten ihren goldigen Staub von den schwanken Ruten, und der Pirol, der sich wie ein schwefelgelber Federball von Vorgehölz zu Vorgehölz wiegte, flötete seine kurze, aber meisterliche Strophe so volltönend in Gottes schöne Welt, daß davon die Kuckucksblumen sich mit unzähligen Blüten bedeckten, schöner als in den verflossenen Jahren. Das war die Zeit, wo Dirk Vogels die Seminartür hinter sich zuschlug, einen tiefen Atemzug machte und seine neue Tätigkeit antrat. Zuvor jedoch ... er fuhr mit der Hand in den heimatlichen Boden hinein und warf eine Faust voll krumiger, fruchtbarer Erde über die Schulter, so wie es die Landsknechte taten, wenn sie ihr ›Her, her‹ gerufen und die Spieße eingelegt hatten, um den Durchbruch und den letzten Anprall zu wagen. Damit hatte er mit dem alten Leben gebrochen. Ein neues lag vor ihm; er griff danach wie ein Blinder nach dem ersten Strahl der wiedergegebenen Sonne, obgleich das Land, wo er zu unterrichten hatte, zwischen Hochöfen und Schlackenhalden erstickte und unter Tag bei Grubenlicht und dem eintönigen Gepoch ihrer Hämmer die Menschen sangen:

»Die Bergmannsleut' sein brave Leut';
Sie haben 'n Fell vorm Arsch und fressen Fleisch ...«

und war alles mit Rauchfahnen umhangen wie in einer florigen Esse. Hier blieb er drei Jahre, lehrte und suchte und fand immer noch Zeit, die Regesten im Essener Stift zu durchforschen und aus den Gesteinen und Stollen im Ruhrtal manches geologische Wunder zu heben. Des armen Mannes hinter den grauen Eisenstäben gedachte er in kindlicher Liebe. Seine Lippen beteten für ihn, seine Hände spendeten; die Hälfte seines Gehaltes nahm den Weg in das düstere Haus, das keinen zurückgibt. Der Alte lebte sein eigenes Leben. Tagtäglich stimmte er den ambrosianischen Lobgesang an, den er mit den Worten schloß: »Grüßt mir Dirk, unsern Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe!« Eines Tages jedoch legte er seinen Kopf auf die Seite. Er starb wie der König von Thule. Die Augen gingen ihm über ... und Dirk bestattete ihn und ließ ihm ein einfaches Holzkreuz errichten. So erfüllte er seine Sohnespflicht und die seines Amtes. Dann kam er zum Niederrhein. Hier hatte Arnt Douwermann seine Tätigkeit als Hauptlehrer aufgegeben, ruhebedürftig, mit sich und seinem Herrgott zufrieden. Dirk Vogels war an seine Stelle getreten ... Herrgott! hier zwischen Dämmen und Deichen, zwischen immensen Wiesen, die vom Horizont eingeschluckt wurden, hier wieder in der engern Heimat, die ihm die Zeit der Kindheit, das Sehnen und Hoffen aus verklungenen Tagen und den ganzen Stimmungszauber ihres eigenen Ichs erneut an das wiedergesundete Herz legte – Herrgott im hohen Himmel da droben! hier konnte er einen tiefen Atemzug machen und die Arme breiten und seine Seele hineinschicken in das stille Abendrot, das hinter den blauen Wäldern von Moyland langsam verdämmerte.

Dirk Vogels war glücklich geworden, aus einem Suchenden ein Findender, aus einem ruhelosen Geist eine in sich gefestete Natur mit einem sinnierenden und beschaulichen Einschlag ... und die Grillen umher geigten dazu, die Glocken der kleinen Stadt läuteten Frieden und Weihe, und auf ihren Klängen trugen sie eine köstliche Sehnsucht und eine wundervolle Verheißung.

Und diese Verheißung ...
»Düweke, Düweke, Düweke ...!«
So sangen die Glocken.

Hatte da vor vielen Jahren ein seltsames Menschenkind am grauen Meere gelebt, in Amsterdam, der merkwürdigen Stadt, die nach Schellfischen und Genever riecht, und in der die Klinkergiebel so stumpfsinnig am Wasser stehen wie die breithosigen Mynheers, wenn sie sich ein Priemchen hinter die Backe schieben und spitzfadig in die müden Grachten hineinspucken. An einer solchen langsam dahin schleichenden Gracht, in einer niedrigen Estaminet, wo auf dem Schanktisch feuchte Schnapskringel standen und verwitterte Matrosenfäuste lagen, da sah sie in den Spiegel hinein, das heißt, da wohnte sie mit ihrer Mutter, der Wirtin Sigbrit Willums, einer verwitweten Frau ... und die Gäste, wenn sie erschien, ließen ihre Flüche, ihre holländischen Manieren und Priemchen unter den Tisch fallen und schmunzelten: »Düweke, Düweke ...!« und wenn sie ihres Weges daherkam, dann steckten die Amsterdamer die Köpfe zusammen und sahen ihr nach und freuten sich über das Ebenmaß ihrer jungfräulichen Glieder und sagten auf niederländisch: »So schön wie Düweke ist keine im Lande; sie soll ja auch die Geliebte eines nordischen Königssohns werden. Gebt mal acht, ob bei Sigbrit Willums keine Glaskutsche vorfährt!« Sie hatten schon recht und redeten nicht ins Blaue hinein; denn der Königssohn kam und nahm sie mit sich nach Kopenhagen und bedeckte sie mit seinem Linnen und seidenem Zeug und freute sich an dem minniglichen Spiel ihres Leibes und ihres heitern Mundwerks und seufzte noch im Traum: »Düweke, Düweke ...!« denn Düweke war so schön wie eine blütenweiße Taube, die an einem Sonntagmorgen das goldene Sonnenlicht auf ihren Flügeln einhertrug.

Und die Glocken in der kleinen Stadt sangen auch: »Düweke, Düweke, Düweke ...!« und das kam daher, weil Johanna Douwermann ebenso schön wie Düweke aus Amsterdam war, aber reiner an Seele und Leib und keuscher in ihren Gedanken und Werken. Ihre Hände waren die eines Künstlers, Hände, die in Wachs bossierten, den Ton belebten und die wie die Hände der Bilderschneider dem starren Holzstock Odem verliehen. Schon von Kind an war Johanna ganz eigen gewesen. Hinter ihren offenen Schläfen arbeitete ein freier und großer Geist; sie erschauerte vor den Altarwerken in der Sankt Nikolaikirche, und als sie heranwuchs, machte sich das Blut ihres Ahnherrn, des gefeierten Schnitzers, auch in ihren Adern bemerkbar. In Düsseldorf und Utrecht vorgebildet, von den alten Meistern der niederländischen Schule angeregt und geleitet, eröffnete sie schließlich in der engern Heimat ihre eigene Werkstatt und stellte Bildstöcke ins Leben, die an die besten Erzeugnisse des sechzehnten Jahrhunderts gemahnten. Die Kirche merkte auf. Auch die profane Welt konnte sich ihrer Kunst nicht länger verschließen. Stark und groß, innig und herb, ihre Ziele herrisch umgreifend, wandelte Johanna Douwermann von nun an ihre besondern Wege. Alles und jedes an ihr bildete ein harmonisches Ganze. Kaum, daß ihre Formen sich gestalteten, die Bestimmung des Weibes bei ihr zur Anschauung kam, reifte sie in eine Schönheit hinein, die geschaffen war, die Sinne des Mannes in einen betörenden Rausch zu versetzen. Dennoch hatte diese Schönheit nichts mit den alltäglichen Begriffen gemeinsam. Nur solche fühlten den ganzen Reiz ihres Leibes, die auch die Schwingungen ihrer Seele erfaßten. Und solche Menschen mußten Sonntagskinder sein, sonst verstanden sie nicht, welch ein Zauber sich um Johanna Douwermann ausgetan hatte, welch Geheimnis die schlichte Hülle barg, was ihre Augen begehrten, wenn sie in dem orangefarbigen Licht von Florentiner Steinen spielten. Nur ein Sonntagskind war würdig, ihr verschleiertes Bild zu enthüllen – und wäre auch nach geschehener Tat lächelnden Mundes durch die Pforte des Todes geschritten ... und so ein Sonntagskind war Dirk Vogels von jeher gewesen.

Ihr Haar war goldrot, und wenn sie es entschürzte und strählte, dann ließ es sich an wie eine leuchtende Flamme.

Das sah der junge Magister eines Tages, als er an ihrer Kammer vorbeiging. Er glaubte, ein Wunder zu sehen, und dachte in seinem heißen Gemüt: »Wie schön sie ist, wie heilig und feierlich! Und wäre sie dein, du wolltest dich in ihr Haar hüllen wie in einen glänzenden Mantel, wolltest Gott danken und preisen, wenn dieser Mantel gemeinsames Gut wäre für allewige Zeiten.«

Sie sahen sich öfters, und wenn sie durch die abendlichen Wiesen schritten, wo die verlorenen Stimmen einschlafen wollten, dann wähnten sie sich von ein und demselben Büscheln umleuchtet. Ihre Blicke hellten sich auf; sie wurden wissend, ohne den Mut zu finden, es sich wechselseitig einzugestehen. So trugen sie ihr resigniertes Glück viele Monde hindurch wie ein zartes Geheimnis mit sich herum, und sie wagten es nicht, diesem Glück Schwingen zu geben und es offenkundig zu machen. Etwas Unausgesprochenes blieb zwischen ihnen bestehen, und so sehr auch die Herzen nach einem befreienden Ausgleich drängten – ihre Lippen schwiegen und schienen kein Verständnis für das zu haben, was ihre Sinne bewegte. Sie persönlich gefiel sich immer in derselben Entsagung, in der nämlichen Ruhe. Doch wenn es wahr ist, daß Schweigen Gewährung bedeutet, so war sie bereits die Seine geworden vor Gott und den Menschen. Und so kam es denn ... Es war um die Stunde, wo die heilige Osternacht sich sacht und feierlich zu offenbaren gedachte – da standen sie Seite an Seite auf dem mächtigen Binnendeich, der an den Wassermühlen und dem Fingerhutshof vorbei bis nach Elten und Emmerich führte. Von hier aus sahen sie in das eingedunkelte Land, über dem bereits die goldenen Engel schwebten und auf die Menschen herabgrüßten, die den Osterfeuern entgegenharrten. Keine halbe Stunde verging, als auch schon ein feines Leuchten die weite Ebene umgrenzte. Pünktchen bei Pünktchen, aneinandergereiht wie ferne Laternchen. Aber die Laternchen kamen ins Wachsen, wurden zu Fackeln, zu siegreichen Flammen. Regungslos standen sie zwischen Himmel und Erde.

»Wie schön!« sagte sie leise, »und sieh nur – die stolzen Scheiter dahinten!«

»Es sind die Feuer von Grieth,« versetzte er glücklich.

»Und die da?!«

»Brennen bei Wisselward, und die bei den Schleusen am Kalkflack – strahlende Cherubim in heiliger Osternacht!«

»Wie schön du das sagst!«

»Johanna ...!«

Er hatte den Arm um ihren jungen Leib gelegt und preßte ihn an sich.

Sie ließ es geschehen.

»Und dort ...!«

Er machte eine große Handbewegung und zeigte zur Linken.

Hoch auf der Krone des Paternosterdeiches erhob sich eine zuckende Lichtsäule.

»Es ist unser Fanal, und es möge uns leuchten bis an das Ende unserer gottseligen Tage!«

Er hatte mit irren Worten gesprochen. Seiner Sinne kaum mächtig, riß er sie an sich, sie, das Weib seiner Träume, die Künstlerin, die von Gott begnadete, für ihn die Königin des Himmels und der Erde.

Sie stöhnte unter seiner wilden Umarmung.

»Nein, du! So nicht, so nicht ...!«

Ihr Stammeln verebbte, ging unter in dem Singen des Scheiters, erstarb unter seinen wütigen Küssen: »Weib, du ... Geliebte ... Himmlische! Du und dein junges Leben... Herrgott! Johanna ... heute ist unsere Stunde gekommen ...«

»Was willst du?!«

Ja, was wollte er nur? Ihre Liebe wollte er haben, ihren jungen, unberührten Leib; ihr Haar wollte er lösen, es um sich schlagen und mit ihm wie in einem Feuermantel einhergehen ... Er fühlte ihre harte Brust, und der Duft des Weibes war bei ihm.

»Du – was die Osterfeuer umstrahlen, das ist gesegnet vom Herrn. So sagt man.«

»Nein, du ...!«

Sie warf sich rücklings und stemmte sich ihm mit beiden Armen entgegen. Ihre Augen flammten in die seinen hinüber. Stahlhart drangen sie ihm zu. Der samtbraune Schein der Florentiner Steine war ihnen genommen.

»Du,« sagte sie eisig, »wenn du aber der Rechte nicht wärest ...«

»Was ...?l«

Seine Stimme trieb ab, als säße der Sturmwind dahinter.

»Ich meine, wenn du der Rechte nicht wärest – wenn ein anderer käme ...«

»Wer sollte denn kommen?!«

Er stieß einen heisern Laut aus und stammelte: »Gut, dann kann ich ja zum Bettelmann werden.«

»Nein, du ...!«

Lachend hatte sie sich an ihn geworfen. Sie weinte und schluchzte, und dazwischen das helle Gelächter, das ihm die Seele zerfleischte, ihn zum Narren machte, und dann sagte sie wieder: »Ich will ja alles und tue ja alles! Nur warten sollst du, warten, bis ich mich zurechtgefunden, bis alles klar in mir ist; denn sonst müßte ich in eine Wirrnis hinein, aus der es keinen Ausweg mehr gäbe.«

»Johanna ...!«

»Warte doch, warte!« Ihre Worte verloren sich unter ihren Liebkosungen und Küssen, die immer zärtlicher und inniger wurden ... und er glaubte an sie wie an die Worte des Evangeliums und erschauerte unter der Berührung ihres jungen Leibes.

Eng aneinander geschmiegt standen die beiden verwunschenen Menschen auf der Deichkrone. Sie wuchsen in den Himmel hinein und sahen in die eingedunkelte Landschaft, wo die Osterfeuer immer strahlender und sieghafter wurden und ihnen zuflammten: »Nun sind eure Ostern gekommen!«

Hand in Hand gingen sie heimwärts, und Dirk Vogels harrte auf den Tag der Entscheidung wie die gläubigen Menschen auf ihren Erlöser.

Der Sommer kam, und lauliche Winde spielten mit den Halmen der Felder. Der Herbst streifte die Blätter von den Bäumen herunter, und dann war es Winter geworden. Dirk Vogels aber schritt mit seinen glücklichen Gedanken noch immer wie durch einen lachenden Frühling, wo die Rosen aufbrechen wollten und die Nachtigallen schluchzten ... Die jetzige Stunde jedoch hatte das alles mit ihrem eisigen Hauch zerstört und verdorben.

Mit einem harten Ruck war er in die Höhe gefahren.

Also das war das Ende.

*

Der Alte stand neben ihm.

»Herr Vogels,« sagte er mit fester Betonung, »ich frage Sie jetzt: Wollen Sie mich anhören, und wenn Sie mich anhören wollen, werden Sie meine Worte beherzigen?«

»Ich höre.«

»Und werden Sie mir Glauben schenken, mir blindlings vertrauen?«

»Auch das,« sagte Dirk Vogels.


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