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15

Andern Tages trippelte Herr François Türlütt über den buntgemusterten Teppich seines Repräsentationszimmers, hielt zuweilen nachdenklich den Fuß an, um dann wieder die Trippelei aufs neue zu beginnen.

Der ehemalige Guano- und Schnittwarenhändler beschäftigte sich mit einem schweren Rechenexempel. Das sah man ihm an; denn wenn er sich mit einem solchen herumtrug, hatte er die löbliche Angewohnheit, die Hände unter die Schöße seines Rockes zu schieben und diese auf und nieder zu wippen. Die Schniepel tanzten, während der glückliche Besitzer des fidelen Bekleidungsstückes ein ganzes Heer von Zahlen unter seinem Antilopenschädel aufmarschieren ließ, sie in Kolonnen zerlegte, das ›Soll‹ und ›Haben‹ verglich und das Ergebnis mit einem fetten Schnalzen begrüßte.

Der abgebrochene Riese war von jeher ein großer Makler gewesen, ein feiner Kalkulator und Fachmann, aber immer darauf bedacht, den erzielten Gewinn ausschließlich in seine Tasche zu lotsen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Gegenpartei dabei zu kurz kommen sollte. Nur in ganz besondern Ausnahmefällen brachte er es über sich, den Freigebigen zu spielen und tief in den Beutel zu greifen.

Und heute hatte er mit einem dieser ganz besondern Ausnahmefälle zu rechnen, nämlich: das seinerzeit gegebene Versprechen, getätigt vor dem Schrein der Sieben Schmerzen Mariä und im Angesicht des ewigen Gottes, mußte eingelöst werden, und so entschloß er sich denn, der Sache näher zu treten und sie zu einem allgemein befriedigenden Abschluß zu bringen.

Aber wie hoch war die Summe zu nehmen?

Auch dieses Bedenken schlug er siegreich zu Boden.

»Immer nobel,« sagte Herr Türlütt, »beispielsmäßig schon, um meinen Schwager zu ärgern,« und diese christliche Erwägung als führendes Moment hinnehmend, fiel er aus seiner nervösen Trippelei in einen herzhaften Schritt, ließ die Rockschöße an seinem stattlichen Hosenboden herunter, entnahm seinem Zylinderbüro eine Anzahl Kassenscheine, steckte sie zu sich und trat auf die Straße hinaus. Hier sah er sich um wie ein neugewählter Kreisdeputierter, ob alle auch sähen, was er für ein spendabler Kerl sei, grüßte herablassend und schlängelte sich langsam in die Nähe der Kirche.

An einer weißlackierten Tür, mit der Inschrift ›Jesus, Heiland, Seligmacher‹ begnadet, zog er die Klingel.

Sie rief eine hagere Person im kanonischen Alter herbei, die Herr Türlütt in seiner Geschwollenheit und von der geistlichen Luft angeregt, die ihm aus dem Hausflur zuwehte, mit ›ehrwürdige Mutter‹ anredete, obgleich Karline Velmann von einer solchen so weit entfernt war wie ein handfester Küchendragoner von einer verhimmelten Nonne. Nur ihr Antlitz hatte einen asketischen Anflug.

Aber wie dem auch sein mochte, die ›ehrwürdige Mutter‹ lächelte gütig, nahm die Wünsche des Petenten in Empfang, begab sich in das Allerheiligste des geistlichen Herrn und brachte die Antwort zurück: »Hochwürden läßt bitten.«

Petrikettenfeier ten Hompel saß unter der Disputa vor einem dampfenden Schälchen mit Kaffee, als Herr Türlütt sein Zimmer beehrte.

Er erhob sich sogleich, trat ihm entgegen und sagte: »Nun, mein Lieber, was bringen Sie Gutes?«

Damit deutete er auf einen bequemen Sessel: »Ich bitte, Herr Türlütt.«

Herr François machte das Gesicht eines gediegenen Pensionärs, ließ die Augendeckel herunter und sagte: »Herr Dechant, zuvor ein paar Worte ...« und eine klösterliche Ruhe und Milde verschönte sein Antlitz.

»Hochwürden,« begann er, »ich bin nur ein schlichter und einfacher Bürger, ein homo novus«, wie Sie immerzu sagen, aber ich habe zeit meines Lebens 'ne splendide Ader gehabt und 'ne gewisse Noblesse besessen; ja, Herr Dechant, die habe ich immer besessen.«

Er hob wieder die Lider und richtete seine Saupostenäugelchen auf die stillen Blicke ten Hompels, um die Wirkung des Gesagten ermessen zu können.

»Aber nur aus christlicher Liebe, Hochwürden,« fuhr er salbungsvoll fort, »denn ich vertrete die Ansicht, daß die Rechte nicht wissen soll, was die Linke veräußert, weil sie schwarz würde vor Ärger, wenn sie deren opferfreudige Gabe erführe. Ich bitte um Ihre Meinung, Hochwürden.«

Petrikettenfeier nickte ihm Beifall, schmunzelte jedoch mit der toleranten Philosophie eines überlegenen Mannes vergnügt vor sich hin.

»Ich danke, Hochwürden.«

François ließ von neuem die schweren Augendeckel herunter.

»Herr Dechant« – und seine Stimme war wie die eines ›weichen Künstlers‹ auf einem Schmierentheater – »ohne dem Hochmutsteufel in die Arme zu fallen, darf ich behaupten: von jeher bin ich ein christkatholischer, äußerst solider, ja, ich darf wohl sagen, ein königlicher Kaufmann gewesen. Meine Handelsbücher und der Segen des Herrn weisen es aus, sie sind die unparteiischen Zeugen meiner einwandfreien Geschäftspraxis vom Beginn aller Dinge; aber keine Überhebung deswegen. Nur Demut, Demut, nichts weiter. Der Herr hat's gegeben, und von dieser Voraussetzung ausgehend ...«

François brachte sein karmoisinrotes Schnupftuch zum Vorschein und tupfte sich damit gerührt gegen die Schläfen.

»Hochwürden, ich komme zur Sache. Ich habe mein Versprechen beispielsmäßig in dreifacher Hinsicht gegeben – und zwar erstens von wegen der Dreieinigkeit Gottes, zweitens von wegen der drei Patriarchen und drittens, weil Sie, ich und der Bildschnitzer Heinrich Douwermann drei bedeutsame Männer repräsentieren ... und dementsprechend« – und die Wimpern des gediegenen Herrn hoben sich wieder – »habe ich mich veranlaßt gesehen ... Ich will nicht vorgreifen, Hochwürden, aber dreimal eins ist Gott allein, die drei Patriarchen bilden eine heilige Dreizahl und dreimal dreihundert Taler machen eben dreimal dreihundert Taler zusammen, die ich hiermit in puren preußischen Kassenscheinen in Ihre Hände lege, Hochwürden – mit Gott für Kirche und Papst, dem kommenden Geschlecht zum Nacheifer und zur Aufmunterierung. Ich bitte, Hochwürden.«

Herr Petrikettenfeier ten Hompel war ein Priester nach dem Herzen Gottes, dabei aber auch ein lustiger Schalk und ein Mann, der es verstand, den Schwächen seiner Mitmenschen Rechnung zu tragen, ihr Wohl zu fördern und das Komische, wo es ihm begegnete, mitzunehmen und sich dessen zu freuen.

»Herr Türlütt,« sagte er denn auch mit einem pfiffigen Blinzeln, »Sie machten dem Schrein und mir eine seraphische Freude. Ich höre Zymbeln und Geigen, und pausbäckige Engel purzeln vor eitel Wonne vom Himmel herunter. Es ist mir, dem gewöhnlichen Sterblichen, daher ein wahres Bedürfnis, Ihnen von wegen der drei Patriarchen, der Dreieinigkeit Gottes und der spendierten dreimal dreihundert preußischen Taler zu gratulieren und die Hände zu schütteln. Seien Sie der Anerkennung aller Gläubigen, der Kunst und der Kirche versichert. Aus tiefstem Herzen – ich danke Ihnen, Herr Türlütt.«

»Nichts zu danken. Es ist gerne gegeben. Keine Umstände, Hochwürden. Ich möchte nicht gerne. Ich bin bewegt, über alle Maßen gerührt, beispielsmäßig in die sogenannte Pfanne gehauen.«

Seine Stimme knickte um wie der Stengel einer keuschen, schneeweißen Lilie.

Eine Pause entstand, während welcher der alte Herr mit den Fingern schnalzte, den Schelm nochmals zitierte und sagte: »Und nun eine ehrliche Antwort, Herr Türlütt. Wir sind allein, keiner ist bei uns, niemand drängt sich als Zeuge in diese bedeutsame Stunde ... und somit: unter vier Augen mal offen und tapfer gesprochen. Entspringt diese Ihre getätigte Generosität lediglich dem uneigennützigen Bestreben, der Allgemeinheit zu dienen und der bedrängten Kunst unter die Arme zu greifen, oder ist damit so'n ganz kleiner Sonderzweck und so'n ganz allerliebster Nebengedanke verbunden?«

»Nebengedanke?! – Gott bewahre, Herr Dechant! Keine blasse Idee von 'ner Ahnung. Nur selbstlose Bescheidenheit, nur völlige Ergebung in den Willen des Allerhöchsten, beispielsmäßig nur, um als einfaches Veilchen im verborgenen und stillen zu blühen. Aber ich denke« – und er tupfte sich wieder mit seinem karmoisinroten, gemusterten Schnupftuch gegen die Schläfen – »der Himmel wird's lohnen, und wenn es sein könnte, Hochwürden ... im Liboriusboten so'n kleiner Vermerk ... wenn möglich auch so'n schlichter Hinweis von der Kanzel herunter ... und dann, ehrwürdiger Herr: die Kirche als solche wird ein übriges tun und die bescheidene, wenn auch nicht unbeträchtliche Schenkung in ihren Annalen vermerken. Sonst gar nichts, ich ersuche darum, sonst gar nichts, Hochwürden ...« und Herr François machte dazu eine Bewegung, als sei ihm jede Anerkennung eine harte Nuß und ein Greuel vor dem Herrn.

»Gut denn,« sagte der Dechant mit dem fidelsten Gesicht von der Welt, »was in meinen Kräften steht, soll geschehen, Ihre Wünsche zu fördern und in Erfüllung zu bringen, und nochmals gesagt: im Namen der ganzen Gemeinde ...«

Herr Türlütt winkte verschämt ab.

»Keine Ursache. Nichts zu danken, absolut nichts zu danken. Alles ist mit kindlichem Herzen und in gläubiger Einfalt dargebracht worden, aber wenn ich bitten dürfte, Hochwürden ... diese Trockenheit im Halse ... dieses ewige Sprechen ... wenn ich vielleicht 'nen Schluck Apollinaris ...«

Er schöpfte tief Atem und kreiste mit dem dicken Zeigefinger etliche Male um den Kragen herum.

»Das könnte nicht schaden, Herr Dechant.«

»'ne Apollinaris?! Seit wann denn, Herr Türlütt?«

»Seit immer, Hochwürden. Wenigstens, ich kann mich kaum noch erinnern ... es sei denn ...«

»Herr Türlütt ...!«

Der Zeigefinger des geistlichen Herrn hob sich verwarnend.

Da streckte François beschwörend die Hand aus.

»So wahr mir Gott helfe, so wahr die Mutter Gottes von Kevelaer ... und nur in ganz besonderen Fällen ...«

»Wie wär's denn mit 'nem Fläschchen Mosel oder 'nem Gläschen Tokaier?«

Über das Antlitz des würdigen Mannes breitete sich ein seliger Abglanz.

»Beispielsmäßig, nur um Ihnen Gesellschaft zu leisten ... abgemacht denn, also ein Gläschen Tokaier.«

»Optime!« nickte der Dechant. »Setzen wir uns. Ich habe doch noch 'ne kleine Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen, möchte Ihre Ansicht hören, um nicht direkt ins Dunkle zu tappen. Sie müssen mir Ihre kostbare Zeit schon verehren.«

»Aber natürlich, äußerst verbunden, über alles Erwarten ...« und damit drückte sich der Biedermann in eine gemütliche Sofaecke, schlug sein kurzes Beingestell übereinander, und als bald darauf die Flasche Tokaier erschien, die Gläser gegeneinander klingelten und dann niedergestellt wurden, da fragte er etwas verloren über den Tisch fort: »Nun, Herr Dechant, Sie wollten ja doch ... was ist das denn für 'ne niedliche Sache, Hochwürden?«

»Ja so!« meinte ten Hompel und warf einen raschen Blick auf die Stutzuhr, die fixbeinig von einer Porzellankonsole herunterpinkte. »Gleich vier! Bald müssen sie kommen ... und Ihnen zur Kenntnis: ich habe da so 'ne dumme Geschichte, so 'ne mißliche Kontroverse zwischen Herrn Remmelmann und dem Kirchenrendanten zu schlichten, die mir, offen gestanden, ein gewisses Unbehagen bereitet.«

»Hm!« meinte Herr Türlütt, »also 'ne delikate Affäre?«

»Ich kann es nicht leugnen. Auch Sie hörten davon?«

»Nur flüchtig, Hochwürden, beispielsmäßig, nur so ganz aus dem Versteckten heraus, ohne jede Begründung; denn ich habe immer die Regel beherzigt: Kehre nicht vor andermanns Türen; das mögen die Betreffenden selber besorgen.«

»Ein trefflicher Grundsatz. Ihrem Seelsorger gegenüber könnten Sie jedoch eine Ausnahme machen.«

Herr François nickte.

»Dann möchte ich mich nach Stina Birgels erkundigen. Kennen Sie diese, ich meine: sind Sie orientiert über ihren Leumund, über ihr Betragen in und außer dem Hause? Die Ansicht eines unparteiischen Mannes wäre mir wichtig und könnte vieles dazu beitragen, die verfahrene Geschichte aus der Welt zu schaffen.«

Herr Türlütt grübelte nach. Die Frage schien nicht so ganz für seine Stimmung geeignet. Hasenrein war er, aber warum diese Zumutung? Gutachten, Zeugenaussagen und ähnlichen Dingen ging er gern aus dem Wege. Sie lagen ihm nicht und waren ihm von jeher zuwider gewesen. Und daher: er schien um eine richtige Antwort verlegen.

»Nun, Herr Türlütt?« fragte Hochwürden.

»Gott, ja!« mit diesen Worten suchte sich der prächtige Herr aus der ihm gelegten Schlinge zuziehen, »wie man die Leute so kennt. Natürlich, Herr Dechant, natürlich! Gegen das Mädchen ist eigentlich gar nichts zu sagen. Brav, sehr brav; nur so'n bißchen üppig veranlagt.«

»Was verstehen Sie eigentlich unter ›üppig veranlagt‹?« fragte ten Hompel mit feiner und sachlicher Betonung jedes einzelnen Wortes.

»Um Vergebung, Hochwürden – sie ist etwas forsch in der Bluse.«

»Sonst nichts?«

»Daß ich nicht wüßte.«

»Sie vertreten also die Ansicht: Fräulein Birgels ist nicht ähnlich belastet wie das Weib des Potiphar, von dem uns das erste Buch Mose berichtet?«

Ein heftiges Klingeln ersparte dem in die Enge Getriebenen die heikle Antwort.

Mit einem offensichtlichen Glücksgefühl ergriff er sein Gläschen, leerte den Rest und sagte: »Da wären sie ja; nun kann ich mich wohl empfehlen, Hochwürden?«

»Empfehlen?! Warum denn?«

»Gott, ja! – es wird schließlich 'ne peinliche Sache.« »Im Gegenteil. Bleiben Sie ruhig. Die von Herrn Publius Ovidius Naso niedergelegten ›Remedia amoris‹ werden Sie fraglos interessieren.«

»Gewiß, gewiß!« konstatierte Herr Türlütt mit dem Brustton der Überzeugung, obgleich er vom Lateinischen und dem Dasein des angeführten Publius Ovidius Naso soviel wußte wie ein prämiierter Deckbulle vom Zitherschlagen, »aber ich möchte nicht gerne ...«

»Nur keine Ausflüchte,« scherzte der Dechant still vor sich hin. »Ihr Leumundszeugnis dürfte die Sachlage wesentlich klären. Kurz, es wäre mir lieb, wenn Sie blieben.«

Mitdem erschien auch bereits das ausgemergelte Gesicht der ›ehrwürdigen Mutter‹ im Türspalt.

»Schon gut, Karoline. Ich lasse bitten, aber die beiden Herren zuerst,« und damit traten denn auch die Gebetenen, ohne Stina Birgels, ins Zimmer – Herr Remmelmann etwas verweht und mit einem nicht ganz bakterienfreien Gewissen, Herr von Klotz wie ein aufgeschirrter Postgaul, aber mit Spat und Mauke behaftet, total in Schwarz gekleidet und den fuchsigen Zylinder wie eine Opferschale vor sich hertragend.

Als er seinen Schwager bemerkte, machte er ein Gesicht, als wenn er sagen wollte: »Nanu, wer hat denn diesen Zöllner gebeten?«

Der Marabukopf geriet dabei in ein vielsagendes und bedenkliches Schaukeln.

Der Dechant klärte ihn auf, ersuchte die Herren Platz zu nehmen und sagte: »Ihrem Wunsche gemäß habe ich Sie auf diesen neutralen Boden beschieden, von dem christlichen Drange beseelt, die an und für sich unliebsame Angelegenheit in befriedigender Weise zu ordnen und ihr, wenn möglich, den kränkenden Stachel zu nehmen. Im großen und ganzen und abgesehen von nichtssagenden Einzelheiten ist mir der Kausalnexus bekannt ... und in Anbetracht nun, daß Sie, mein hochverehrter Kirchenrendant, und Sie, Herr Remmelmann, sich bisher als Freunde gerierten, gute Nachbarschaft hielten und das Revolutionsfest noch gemeinsam und in fröhlichster Stimmung begingen, gebe ich mich der Hoffnung hin, daß wir, ohne die species facti zu berühren, den eingestürzten Versöhnungs- und Friedenstempel wieder aufbauen können.«

Nöllecke nickte zu diesen Auslassungen.

Herr Türlütt, dem seltsamerweise der Angstschweiß aus allen Poren sickerte, atmete auf und unterstrich die Worte des geistlichen Herrn mit einem befreienden Grunzen.

Anatole jedoch machte ein kritisches Gesicht, stellte den Hut auf seine stocksteifen Knie und fühlte sich wieder in seiner Doppelrolle: halb Oberst a.D., halb Verkäufer in einem Sargmagazin.

Im übrigen gab er keine Willensäußerung von sich.

Er saß da wie eine erfrorene Memnonsäule und bemühte sich ausschließlich, rasiermesserscharfen Blickes ein Loch in den Deckel seines Zylinders zu schneiden. Petrikettenfeier ten Hompel fuhr fort: »Meine Herren! Ich habe vor etlichen Tagen wieder einmal die beherzigenswerte Geschichte des Tom Jones von Fielding gelesen. In diesem klassischen Buch traf ich auf folgende Stelle: Ich habe keine Schuld an der Verführung der Unschuld. Ich habe nichts getan, was diejenigen, welche nach den Regeln des Rechtes urteilen, verdammen werden. Die Schicklichkeit wird beherrscht von der Natur der Dinge und nicht von Gebräuchen, Formen oder Statuten. Nichts ist in der Welt unschicklich, was nicht unnatürlich ist. So Fielding.«

»Großartiger Mann!« konstatierte Herr Türlütt und lehnte sich erleichtert in seine Sofaecke zurück, als wäre hiermit die gewünschte Lösung gefunden.

»Ich denke daher,« ergänzte der Dechant, »Herr Türlütt mit seinem Stoßseufzer und besagter britischer Autor mit seiner Weltweisheit haben uns aus der Seele gesprochen, und ich mache somit den opportunen und dringlichen Vorschlag, das Geschehene, was es auch sein mag, ruhen zu lassen, den Efeu des Vergessens darüber zu spinnen, Fräulein Stina Birgels ein freundliches, begütigendes Wörtchen zu geben und die Herren Interessenten, Sie, Herr Remmelmann als Beklagten, und Sie, Herr Baron, als Vertreter der Klägerin, aufzufordern, sich die Hände zu reichen und das Kriegsbeil ruhen zu lassen. Auf diese Weise ist beiden Parteien geholfen, eine unangenehme Auseinandersetzung vermieden und wieder Friede im Kirchspiel. Sapienti sat! denn wir wollen uns den Spruch: Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, nicht zu eigen machen. Wir können Arzeneien und das Messer entbehren. Der gute Wille allein reicht aus, zu einem gedeihlichen Ende zu kommen. Und das heißt Versöhnung.«

»Bravo!«

Herr François Türlütt strahlte; Zentnergewichte waren ihm von den Schultern gefallen.

Auch Herr Remmelmann schien sichtlich erleichtert, erklärte sich einverstanden mit dem salomonischen Vorschlag und machte Miene, seine Männerbrust an die des eremitierten Steuerempfängers zu drücken.

Eine köstliche Wolke von seltenen Spezereien umgab ihn.

Herr Anatole aber ...

»Distanz, meine Herren!«

Seine Äugelchen blitzten.

Er fühlte sich wie ein Geront in der Gerusia, räusperte sich etliche Male und streckte die Hand mit dem fuchsigen Zylinder gebieterisch von sich.

»Hochwürden, meine Herren!« also begann er. »Alles, was Sie wollen, nur keine Versöhnung; denn wäre sie möglich, ich wäre der erste, der sagen würde: Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt! Aber es geht nicht, es wäre ein Unding, eine Beugung des Rechts und die Prämiierung des Angriffs auf die weibliche Schamhaftigkeit. Herr Remmelmann ist mir von jeher ein lieber Freund, ein teurer Skat- und Kegelbruder gewesen. Das bin ich ihm schuldig zu sagen. Aber ich fühle mich auch verpflichtet, ihm die Erklärung zu geben, daß weder das Ansehen der Person, noch freundschaftliche Beziehungen mich veranlassen werden, der Trägerin des Gesetzes in die Arme zu fallen. Fiat justitia, pereat mundus! Distanz, meine Herren! Mein mir überkommenes Mandat lautet kurz und bestimmt, ist sakrosankt und dringlich wie der kategorische Imperativ, und meine Mandantin dringt unter allen Umständen darauf, ihre weibliche Ehre neu zu vergolden und dem Recht eine Gasse zu bahnen.«

»Und das ist Ihr letztes Wort, Herr Kirchenrendant?« fragte der Dechant.

»Mein letztes. Ich will 'ne präzise und nette Behandlung der Sache.«

»Und Sie, Herr Baron, gedenken in eigener Person die Klägerin zu vertreten?«

»Ich bin dazu willens, Hochwürden.«

» Semper idem,« konstatierte der Dechant und gab ein Klingelzeichen, und keine Minute verging, da zeigte sich das Antlitz der ›ehrwürdigen Mutter‹ wieder im Türspalt.

»Stina Birgels soll kommen,« gebot der Gerichtsherr, ergriff ein Lineal, das neben ihm lag, und klopfte damit in die geöffnete Linke.

Herr Türlütt saß in seiner Sofaecke und sah sich um wie der Lohgerber Meier Salm in der Oberen Bachstraße, wenn ihm die Felle auf und davonschwammen. Warum – wußte niemand. Aber es war so, während Herr Remmelmann stärker apothekerte, aber nicht nach köstlichen Essenzen und Spezereien, sondern mehr nach den Ingredienzien einer Gar- und Hexenküche, wobei er ein eigentümliches Interesse für die saubere Tapete verriet und die einzelnen Muster zählte, ohne damit zu Rande zu kommen und seinen Gleichmut wiederzufinden. Er war total aus dem Einband.

Und Stina erschien ... zuerst ihre zartaufgebügelte Bluse mit Inhalt, hierauf der nicht unbeträchtliche Rest ihres übrigen Körpers.

Sie erschien eigentlich nicht, wankte vielmehr mit einem schmerzlichen Blick auf Herrn Remmelmann und einem weißen Tränentüchlein ins Zimmer, was den Herrn Mandatar veranlaßte, der Fassungslosen beizuspringen und ihr behilflich zu sein, einen Stuhl zu erreichen.

»Ist Ihnen unwohl, Charlotte?«

Sie lächelte bittersüß, schüttelte aber kaum wahrnehmbar den Kopf und entnahm ihrem Muff ein Riechfläschchen, um es schluchzend an die Nase zu führen.

Der Dechant setzte sein Lineal wieder in Bewegung und sagte: »Da meine Ermahnungen zur Versöhnung und die hier zur Verhandlung stehenden Dinge durch einen Vergleich aus der Welt zu schaffen sich bei der einen Partei keiner Gegenliebe erfreuten, so fühle ich mich zu meinem größten Leidwesen genötigt, in medias res zu steigen und dem klägerischen Ansuchen Folge zu geben. – Stina Birgels,« fragte er hierauf, »Sie wollen also unter allen Umständen die Durchführung Ihrer vermeintlichen Rechte?«

»Mynheer Baron wird das Nötige sagen,« flüsterte Stina und nutzte die Gelegenheit aus, ihr Taschentuch gegen die Lippen zu drücken.

»Jawohl,« pflichtete ihr Anatole bei.

»Dann möchte ich Sie ersuchen, Ihre Erklärung abzugeben.«

Der Herr Kirchenrendant erhob sich, streckte den Gänsehals und stützte den Deckel seines Zylinders gegen die Korkzieherhose.

Er berichtete zuerst von dem Leben seiner Klientin in und außer dem Hause, kam auf ihre Jugend zu sprechen und wie er sie als lebhaftes, fröhliches, aber sittenreines Mädchen in seine Dienste genommen. Sie sei ordentlich bis in die Pantoffeln hinein, gehöre der Jungfernschaft ›Zur ewigen Anbetung‹ an, halte regelmäßig ihre österliche Zeit und besuche gewissenhaft die Frühmesse oder das Hochamt. Daß sie ab und zu den Tanzboden frequentiere, sei nicht weiter verwunderlich, das gehöre zur Natur der niederrheinischen Leute und sei ein überkommenes Vermächtnis von alters her und somit berechtigt. Kirmes, Karussell und Tanzboden lägen den hiesigen Menschen nun einmal im Blut, und jeder solle sich hüten, ihnen hieraus einen verderblichen Strick drehen zu wollen. Außerdem: Charlotte, vulgo Stina, verstehe zu kochen, sei häuslich veranlagt und daher wohlgeeignet, das verwahrloste Anwesen eines Junggesellen – hierbei warf er einen bitterkalten Blick auf Herrn Remmelmann – wieder auf seine ursprüngliche Höhe zu bringen und den Vorstand selber zu einem beneidenswerten Gatten zu machen. Fräulein Stina sei eben prädestiniert für Ehe und Mutterschaft.

»Aber was geschah, meine Herren?« fuhr Herr Anatole mit erhobener Stimme fort, indem er seinen Zylinder hob, um ihn feierlichst sinken zu lassen. »Ja, was geschah, meine Herren?!«

Bei diesen Worten schluchzte Stina so wehmütig auf, daß der Anwalt den Faden verlor und Herr Türlütt wähnte, ein siebenfältiges Schwert würde ihm durch den Busen gestoßen. Diese Pause benutzte der Herr Dechant dazu, nochmals einen Versöhnungsversuch zu riskieren, sich an die Parteien zu wenden und sie zu fragen, ob sie vielleicht doch noch geneigt wären, unter billigen Zugeständnissen sich wechselseitig mit der versöhnenden Hand zu beglücken.

»Ja!« seufzte denn auch Herr Remmelmann und glaubte, die rettende Planke gefunden zu haben.

»Und Sie, Fräulein Stina?«

»Nein,« sagte diese. Sie wolle aufs Ganze; denn sie habe ebensogut wie die vornehmen Damen ihre reputierliche Ehre, habe zweitausend preußische Kronentaler gespart und dürfe nicht zugeben, daß die Apotheke in andere weibliche Hände gelange.

Man könne die Sache doch gütlich verhandeln, meinte der Dechant.

Davon sei gar keine Rede. Entweder oder. Ein Eheversprechen sei nun mal ein Eheversprechen, und sie gäbe nicht eher Ruhe und Frieden, bis es ihr vergönnt sei, in einem weißseidenen Kleid und 'nen richtiggehenden Myrtenkranz in die Kirche zu treten.

Das wäre aber ein hartes Verlangen, das sich schwerlich verwirklichen ließe.

Sie bestände trotzdem auf ihrem Schein; das übrige würde sich finden, gab sie zur Antwort und begann wieder zu flennen.

Herr Remmelmann war dem Umfallen nahe. Bedrohlich ballte sich ihm zu Häupten ein schlimmes Wetter. Er hatte das Gefühl, als brächten ihm die Bremer Stadtmusikanten eine Ovation, bliesen aber zu seinem Entsetzen das Blaue vom Himmel herunter.

»Teufel, Teufel!« sagte er bedrückt vor sich hin, »es ist nicht wohlgetan, eines Bären Tatze und eines Weibes Strumpfband lieb zu gewinnen; denn es hat Leid im Gefolge,« und er wäre dem Satan dankbar gewesen, hätte er ihn wie Doktor Faustus auf seinem Mantel durch die Lüfte gewirbelt.

Man konnte eine Stecknadel fallen hören, so still war es mittlerweile geworden.

Da keine Einigung zu erzielen war, Petrikettenfeier auf beschleunigte Handlung drängte, so sprach Herr Anatole weiter; denn er hatte inzwischen den verlorenen Faden wiedergefunden. »Ja, was geschah, meine Herren?! Es war am Tage vor dem Revolutionsfest. Die Luft war voller Eiskristalle und die Kälte zu einem ungemütlichen Spitz geworden, als die Klägerin noch in selbstloser Weise ausging, um für die herzurichtende Punschbowle Pomeranzen zu holen. Meine Herren, ich betone das Wort ›Pomeranzen‹«, eine Unterstreichung, die abermals den Grund dazu legte, Stina heftig aufschluchzen zu lassen, und ihr gebot, das Riechfläschchen in Bewegung zu setzen. »Ja, meine Herren, Pomeranzen sollte sie holen, mir zuliebe und den hohen Gästen zur Freude. Und da frage ich Sie, wo waren diese edlen Früchte zu haben? Pomeranzen, meine Herren, gibt es in hiesiger Stadt- und Kirchengemeinde nur in einem einzigen Hause. Und dieses Haus ist nicht schwer zu finden, trägt ein Einhorn als Wappen- und Schildtier ... und dort, meine Herren« – und er streckte die Hand aus, daß die rechte Manschette wieder wie ein Rebhuhn abschnurren wollte, und deutete auf den unglückseligen Apothekenbesitzer – »und dort, meine Herren, wagt der Mann zu sitzen, der sich unterfing, statt, wie es billig gewesen wäre, ihr sofort die gewünschten Pomeranzen zu geben, meine schwergeprüfte Klientin, wahrscheinlich veranlaßt durch ihre nicht gewöhnlichen Reize, in sein Kontörchen zu komplimentieren – und zwar mit nicht wiederzugebenden Koseworten und dem lämmelhaften Gesichtsausdruck eines schuldlosen Mannes. Meine Herren, ich lege auf das Wörtchen ›Kontörchen ‹ einen ganz besondern Nachdruck« – bei welcher Wendung Stina ihr Züngelchen spielen ließ und katzenartig ihre Lippen beleckte – »denn eben in diesem Kontörchen haben wir die heimliche und verschwiegene Stätte zu suchen, wo sich das Drama des Eheversprechens abspielte – abspielte in krassester Form und mit allen Schikanen.«

Hier machte Herr Anatole eine Kunstpause, um den Eindruck des bisher Gesagten studieren zu können.

Herr Türlütt kam sich vor wie eine alte Kienholzkommode, die Terpentin von sich gab und in allen Fugen und Gelenken ächzte und knackte, weshalb der Gerichtsherr ihn fragte, welche Ursache er habe, solche Teilnahme und solchen Schmerz zu bekunden, worauf Herr Türlütt versetzte: »Gar keine, Hochwürden, absolut gar keine,« während Herr Remmelmann sich merkwürdig ruhig verhielt, nachzudenken schien und auf das Summeln der Vesperglocke hörte, die, ohne die geringste Notiz von dem feierlichen Akt zu nehmen, ganz unvermittelt in die Sitzung hineinplauderte.

Der Herr Mandatar nahm wieder das Wort auf.

»Meine Herren, behalten Sie das verschwiegene Kontörchen im Auge, und das nicht allein ... Beklagter befand sich in diesem Kontörchen im Schlafrock, oder, Herr Remmelmann« – und Anatole warf einen vernichtenden Blick auf den gemarterten Delinquenten – »wollen Sie etwa die kühne und vage Behauptung aufstellen, Sie hätten sich in fraglicher Stunde nicht in Ihrem Schlafrock befunden?« – Hier hielt es Stina für passend, in eine kleine Ohnmacht zu fallen, die der Redner durch ein Glas Wasser und gütigen Zuspruch behob, worauf er wieder fortfuhr: »Ja, das scheinen Sie offenbar abstreiten und als leichtfertige Hypothese meinerseits festnageln zu wollen. Da muß ich aber bitten, mein Lieber! Wie können Sie nur einen solchen Gedanken erwägen? Wie können Sie nur! Da bleibt mir nichts weiter übrig, als Ihnen blank vor die Stirne zu sagen: Ja, Sie haben sich wohl im Schlafrock befunden, haben mit ihm das ahnungslose Mädchen umgarnt, sie an sich gezogen und ihre, wie ich schon oben bemerkte, nicht gewöhnlichen weiblichen Reize bewundert, und das, meine Herren« – und abermals hob sich der fuchsrote Zylinder in getragener Weise – »und das, meine Herren, ist einem mündlich abgegebenen Eheversprechen gleichwertig an die Seite zu stellen. – Hm, hm! – was wäre noch weiter, Charlotte?«

Stina seufzte bewegt auf.

»Ach, Herr Baron,« sagte sie verschämt vor sich hin, »das noch mit die Angorakarnickels.«

»Ja, das mit den Angorakaninchen! – Herr Remmelmann, Sie fahren schmerzlich zusammen. Warum fahren Sie bei der Erwähnung dieses gravierenden Umstandes schmerzlich zusammen? Distanz, meine Herren! Um dies zu begreifen, muß ich folgendes ausführen. Wie Sie alle wissen, hat der Angeschuldigte in Beziehung auf diese Nagegeschöpfe von Jugend an bis auf die heutigen Tage stets ein seltsames, warmblütiges, ja, man kann wohl behaupten, ein menschenfreundliches Interesse bekundet. Seine von ihm aufgestellte Theorie von der Paarungshygiene dieser lichtscheuen Tierchen ist in Allerwelts Munde. Oder, mein Bester, wollen Sie mir auch dieses bestreiten? Wollen Sie mir auch hier in die Parade fahren und sagen: Ich habe mit den Angorakaninchen gar nichts gemeinsam? Können Sie auf Ihren Eid nehmen und im Hinblick auf ihr dereinstiges Sterben kühnlich behaupten: Ich habe mich der Klägerin gegenüber nicht des Gleichnisses vom Rammler und von der Häsin bedient, niemals von dem Wunder der Offenbarung zwischen den Angorakaninchen gesprochen? Wollen Sie ferner die Substantialität des Seelenwärmers, der die junonischen Formen des jugendlichen Weibes umhüllte, kurzerhand abstreiten und sagen: Ich bin schuldlos und niemals mit ihm in Berührung gekommen? Nein, das können Sie nicht, das werden Sie niemals können im Leben – und aus diesem Grunde: Distanz, meine Herren! – denn aus dem Gleichnis mit den Angorakaninchen und dem intimen Spiel mit dem Seelenwärmer bin ich vollauf berechtigt, einen neuen Beweis für das getätigte Eheversprechen zu finden. Da braucht's keiner Worte. Die Tat als solche sagt alles.«

»Und dann noch das mit's Ewaldikegeln und mit die Skatrotunden!« klagte und wimmerte Stina dazwischen.

»Richtig, Charlotte! – Und wenn Sie, Herr Remmelmann, sich einer diesbezüglich gewünschten Aussprache durch Ihr leider viel zu oft betriebenes Skatspiel und durch das Ewaldikegeln, wo sie eine dreihundertpfündige Weihnachtssau als Prämie ausgesetzt hatten, schnöderweise und unter verächtlicher Beihilfe des Herrn Gummerich zu entziehen gedachten – so sind das faule Fische, Herr Nöllecke Remmelmann, ganz faule Fische. Aber es hilft Ihnen nichts. Sie sind heilig verpflichtet, ein schuldloses Mädchen und langjähriges Mitglied des Kirchenchores, der ›Ewigen Anbetung‹ und des ›Lebendigen Rosenkranzes‹, eine bis dato ungeknickte Jungfer zu ehelichen, sie zu einer Frau Apothekenbesitzerin zu erheben und wieder ehrlich zu machen.«

»Und das mit 'nem richtigen Brautkranz,« rief Stina energisch und hatte sich von den Binsen erhoben.

Das war des Guten zu viel für Nöllecke Remmelmann.

Sein Burgundergesicht war noch burgunderhafter geworden.

Wie von einer Tarantel gestochen war er in die Höhe gefahren.

»Meine Herren, Herr Dechant! – ein schuldloses Mädchen ...?!«

»Ja, ein schuldloses Mädchen.«

Flammenden Auges trat ihm der Kirchenrendant und Freiherr entgegen.

»Zweifeln Sie noch? Sind Ihnen die vorgebrachten Gründe noch immer nicht ausreichend? Soll ich neue zitieren? Sie stehen zu Diensten. Ich bin gerne erbötig. Distanz, meine Herren ...!«

»Dann allerdings,« und Nöllecke blitzte und funkelte wie einer, der sein letztes verteidigen wollte und mußte, »ja, dann allerdings bin ich genötigt, zu sprechen. Ich hätte geschwiegen, Teufel, Teufel! ich hätte geschwiegen aus Liebe dem weiblichen Geschlecht gegenüber, geschwiegen, als hätte ich 'ne Portion Brechnuß gegessen. Semen Strychni, meine Verehrten! Aber jeder ist sich selber der Nächste ... und daher frage ich Sie, Fräulein Stina: Denken Sie noch an die Wisseler Kirmes? Wissen Sie noch, daß ich mit einem andern, der hier anwesend ist, da war? Mit wem sind Sie damals unauffällig verschwunden? Mit wem sind Sie damals in die Korngassen gegangen, ganz verloren und heimlich, um spurlos unterzutauchen? Und wenn Sie diese Fragen zu Ihren Gunsten beantworten können, wenn Sie sich in dieser Beziehung als harmlos auszuweisen vermögen, dann kommen Sie wieder. Und nun zu Ihnen, mein lieber Baron. Ja, wenn Sie, Herr Anatole von Klotz, Nachfahre des großen Anacharsis, Freiherr, Kirchenrendant und gewesener königlich preußischer Steuerempfänger, mich als willenloses Treibholz zu verschleißen gedenken, so sind Sie im Irrtum. Bitte, wenden Sie sich an einen andern. Er ist nicht schwer hier zu finden.«

Da war es ganz plötzlich, als wäre ein Totengräber durchs Zimmer gegangen.

Herr Türlütt lag bleich in der Ecke. Er wähnte, den letzten Tag zu erleben und die Posaune des Jüngsten Gerichtes zu hören.

Die Stille hielt an, und diese Stille benutzte das »schuldlose Mädchen«, sich ganz unauffällig und kaum wahrnehmbar auf die Socken zu machen.

Wie eine Federdaune war sie auf und davon und fortgewischt worden. Von Stina Birgels, vulgo Charlotte Corday, von ihren Plänen, Hoffnungen und Ansprüchen war nichts mehr übrig geblieben. Doch der, dem es zugedacht war, den schwersten Tag seines Lebens durchkosten zu müssen: Herr Nöllecke Remmelmann zeigte keine Lust, sich in Wohlgefallen aufzulösen und still zu verduften.

Er blieb, wo er war, sah sich triumphierend um und apothekerte stärker. Eine schier undurchdringliche Wolke von Weihrauch hüllte ihn ein. Verschiedene Nardendüfte rangen sich aus ihr los, besonders der Ruch nach Succus liquiritiae calbreae concisae, um sich in sanften Schleiern über Gerechte und Ungerechte zu verbreiten.

Der Pfarrer erhob sich, schritt etliche Male über den Teppich, blieb hierauf stehen und besah sich mit scheinbar größtem Interesse seine silbernen Schnallen.

Dann hob er den Kopf und gewahrte nur ernste Gesichter.

Gleich darauf trat er dicht an Herrn von Klotz heran und machte sich an einem von dessen Gehrockknöpfen zu schaffen.

»Nun, Herr Kirchenrendant ...?« fragte er gütig.

Fassungslos machte dieser eine wehe Bewegung mit Hand und Zylinder und zog seinen Kopf wie ein Storch zwischen den Kragen.

»Ich bin sprachlos, Hochwürden.«

»Das kann ich mir denken.«

»Und Sie, mein verehrter Herr Türlütt ...?«

»Ich?« fragte dieser aus schwüler Betäubung.

»Ja, Sie,« meinte der Dechant.

»Ich bitte um Schweigen,« lallte Herr Türlütt.

»Also – wollen wir schweigen und diese Stunde begraben,« sagte der Dechant, »aber ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal den geistreichen Fielding zitieren. Irgendwo sagt er: Klugheit und Vorsicht bedarf auch selbst der beste Mensch. Sie sind gleichsam eine Schutzwacht der Tugend, die ohne diese nie sicher ist. Also seien wir für die Zukunft klug und bedächtig, auf daß wir durch eine köstliche Dummheit keinen Schaden erleiden. Das geht auf Sie, Herr Nöllecke Remmelmann, und auf Sie, mein verehrter Herr Türlütt. Und Ihnen, mein sittenstrenger, wenn auch etwas übereifriger Herr Kirchenrendant, dürfte ein Ausspruch ebendesselben unsterblichen Autors zum Nutzen gereichen; denn in der bereits erwähnten Geschichte des Tom Jones gibt er folgende Lehre: Wenn die Kinder nichts tun, so machen sie Unfug. Ich will diese Sentenz nicht auf den schönsten Teil der Schöpfung ausgedehnt wissen, soviel aber wird mir zu bemerken gestattet sein, daß, wenn die Wirkungen weiblicher Eitelkeit nicht offen in ihren eigentlichen Farben der Wut erscheinen, wir mutmaßen dürfen, diese verderbliche Leidenschaft wirke im stillen und versuche das zu untergraben, was sie über dem Boden nicht anzugreifen wagt. So weit Herr Fielding. – In diesem Falle denke ich an die Unschuld vom Lande, an Ihre Klientin, Herr Kirchenrendant. Tragen Sie Sorge, daß ihre Veranlagung sich nicht im stillen weiter verbreitet und wie ein Maulwurf, den die Naturkundigen mit dem lateinischen Namen Talpa europaea, bezeichnen, wühlt und gräbt und die Eintracht in meinem Kirchensprengel gefährdet. Ihr blinder Eifer, mein Lieber, war ehrlich bemüht und fleißig dabei, große Wirrnis zu schaffen. Mögen wir lernen! – Und nun, meine Herren, um den gesäten Drachenzähnen ihre Keimkraft zu nehmen, mache ich folgenden Vorschlag: Sie, Herr Türlütt, haben in Ihrer Eigenschaft als Wisseler Kirmes- und heimlicher Kornfeldbesucher vieles zu sühnen. Ich erkenne gern an und mache es hiermit bekannt: hochherzigen Sinnes haben Sie neunhundert Taler für die Wiederherstellung des Schreines zu den Sieben Schmerzen Maria gestiftet. Machen Sie die tausend voll, greifen Sie tiefer in Ihren Beutel hinein, und ich werde die Worte sprechen: Absolvo te, auf daß es Ihnen gut gehen möge fortan und Sie keine Kornfeldgedanken mehr hegen. Was an der Totalsumme noch fehlt, werde ich mir anderweitig besorgen.«

»Tausend Taler! – Natürlich, natürlich! – Tausend Taler, Hochwürden l«

Der alte Adam fiel dem Antilopengesicht vom Leibe herunter. Er fühlte sich wie neugeboren und weinte diese neue Geburt beseligt in sein karmoisinrotes Schnupftuch hinein.

» Ut Deus bene vertat,« sagte der Dechant. »Und nun zu Ihnen, Herr Remmelmann, zu Ihnen, dem Präsidenten des Kegelklubs und dem Verfechter der Paarungstheorie für Karnickel und ähnliche Nager. Auch Sie dürften ein übriges tun, und wenn Sie sich entschließen könnten, der gekränkten Unschuld ein neues Foulardkleid über die etwas ›reichhaltigen und nicht gewöhnlichen Reize‹ zu streifen, außerdem für Ihr eigenes Seelenheil eine heilige Messe lesen zu lassen, so wäre ich nicht abgeneigt, auch Ihnen Absolution zu erteilen. Also, Herr Remmelmann ...?«

Und Herr Remmelmann nickte und duftete stärker.

»Dann danke ich den Herren, gebiete über die Verhandlung allgemeines Schweigen und schließe die Sitzung. Nur Sie, Herr Kirchenrendant, möchte ich noch einen Augenblick sprechen,« und als die Tür sich hinter den Entlassenen schloß, trat der Dechant an seine Schreibtischkommode, entnahm ihr eine Zeitschrift und deutete auf einen mit Rotstift umrahmten Artikel.

»Die Post schneite mir diese fatale Sache ins Haus – ein Heft der ›Monatsberichte für bildende Kunst‹ mit Berücksichtigung verwandter Wissenschaften, wie Archäologie, Numismatik, Paläographie und Heraldik – wahrscheinlich veranlaßt durch die fürsorgliche Liebenswürdigkeit Ihres Herrn Sohnes.«

»Hm, hm!« machte der Alte.

»Und wenn ich Ihnen nun sage, Herr Kirchenrendant, daß in diesem gehässigen Machwert ...«

»Machwerk, Hochwürden?!«

»Jawohl, gehässiges Machwerk, Herr Kirchenrendant, ein Pamphlet verderblichster Sorte, gerichtet gegen mich und den Wunsch, den Schrein zu den Sieben Schmerzen Maria durch eine hiesige Künstlerin vor dem Verderben schützen zu lassen. Alles atmet in den niedergelegten Zeilen Verkennung der Dinge, und die Sucht ist augenfällig, mein Bestreben lächerlich zu machen und an den Pranger zu stellen. Das berührt mich nicht weiter; denn ich bin gefestigt gegen derartige Entstellungen und Anrempeleien, aber ich empfinde es bitter, daß ein ehemaliges Mitglied meiner Pfarrei, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, sich so weit vergessen und erniedrigen konnte. Allerdings, nach Ihrem sogenannten Revolutionsfest habe ich mir über den jungen Mann eine andere Ansicht gebildet, und was er jetzt für erforderlich hält, in Druckerschwärze der Welt zu verkünden, verrät eine derartig inferiore Gesinnung, daß ich mich gezwungen sehe, mich ihm gegenüber Ihres Wortes zu bedienen: Distanz, mein Herr ... ich habe keinen Konnex mehr mit Ihnen. Wollen Sie ihm dies übermitteln.«

Anatole protestierte mit einer kurzen Handbewegung.

»Aber Hochwürden ...!«

»Ich habe nichts mehr zu sagen. Im übrigen: Sie und ich, mein hochverehrter Herr Kirchenrendant, wir bleiben die Alten.«

Nach einer freundlichen Verbeugung trat er ans Fenster und sah auf die Straße, wo die Laternen bereits angesteckt wurden.

Als er sich wandte, fand er sich allein in seinem Arbeitszimmer, das bald darauf eine angenehme Helle durchstrahlte. –

Zwei Stunden später ...

Das Wetter hatte sich völlig aufgeklärt. Eine straffe Hand wischte auch die letzten Regen- und Graupelwolken aus der Landschaft heraus. Eine herzerfrischende Kälte griff Platz, und vereinzelte Sterne hingen am Himmel.

Da war es, als an der Dechanei nochmals die Klingel ertönte, und als Herr Petrikettenfeier ten Hompel den angemeldeten Besuch zu sich bitten ließ, glitt Johanna Douwermann, bleich und von einer stillen Würde getragen, ins Zimmer.

Freudig bewegt trat er auf sie zu.

»Mein Gott, Fräulein Douwermann! – ich seh's Ihnen an, Sie sind die Trägerin einer willkommenen Botschaft.«

»Mögen Sie es so nennen, Hochwürden. Zwar bestehen bei mir immer noch berechtigte Zweifel; ich hoffe jedoch, sie im Laufe der Tage überwinden zu können. Jedenfalls – den Zwiespalt, der mich bedrängte, habe ich beiseite geschoben, und wenn Sie meine verspätete Antwort noch in Gnaden aufnehmen wollen – ich fühle mich stark genug, das mir übertragene Werk zu einem glücklichen Abschluß zu bringen.«

Der Dechant hatte ihre weißen Hände ergriffen.

Mit scheuen Fingern glitt er darüber hin.

»Dank, tausend Dank, Fräulein Johanna! und glücklichen Herzens begrüße ich Ihren Bescheid mit einer Stelle aus Virgils Georgica, welche da lautet: Felix, qui potuit rerum cognoscere causas! Glücklich, wer zu erkennen vermocht die Gründe der Dinge! – und gleich morgen werde ich alles anordnen und in die Wege leiten, Ihnen ein ruhiges Arbeitsfeld zu besorgen. Der neben der Sakristei gelegene Raum wäre wohl die geeignetste Stätte. Und nun nochmals tausend Dank, Fräulein Johanna.«

Noch lange sprachen sie über dieses und jenes. Erst beim ›Engel des Herrn‹ gingen sie still auseinander.

An diesem Abend spielte der alte Herr nach langer Zeit wieder das Harmonium mit seliger Inbrunst; und so schön und heilig wie heute hatte es noch niemals geklungen.


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