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7

»Johanna ...!«

Hinter ihm klinkte geräuschlos die Tür ein.

Erst beim zweiten Anruf erhob sich eine hohe Mädchengestalt, die scheinbar in den Abend geträumt hatte, jetzt aber mit geschäftiger Hast ein Linnentuch ergriff und es über eine Einzelfigur warf, die, auf einer Drehscheibe stehend, dem vollen Licht einer Hängelampe ausgesetzt war. Gerätschaften der Modellier- und Holzschneidekunst lagen daneben, seine Messerchen, Raspeln, Spachteln und Bohrer, auch verschiedene Klumpen angefeuchteten Tones. Ein herber Duft erfüllte den mäßig großen Raum, an dessen Wänden Kupfer und Zeichnungen hingen, Studien nach der Natur und leicht mit Kreide hingeworfene Skizzen. Statuetten von Tanagra grüßten von kleinen Sockeln herunter. Alles atmete die größte Strenge und Schlichtheit, lediglich verklärt durch das freie Lampenlicht, das auch die entlegensten Ecken, wo sich bereits die warmen Schatten breit machen wollten, mit seiner wohltuenden Helle umspielte – und dennoch: geheimnisvoll und schneeblau dämmerte auch hier der Abend ins Zimmer.

In dieser Umgebung stand Johanna Douwermann, im Schmuck ihrer aufgeknoteten, goldroten Haare, eine ruhige Schönheit, ebenmäßig und still, als wäre sie aus dem gefeierten Bildwerk eines alten Meisters getreten. Diese Ruhe und Schönheit waren wie die der heimischen Landschaft. Viele verstanden sie nicht, und man mußte schon zu den Auserwählten gehören, um sich von dem tiefen und absonderlichen Reiz umstricken zu lassen. Geht über die breiten Dämme und Deiche, wenn es Abend werden will und die Bäume, die in der weiten Ebene stehen, leise und ungewiß zu säuseln beginnen ... wenn dann die dunkeln Wälder von Moyland tiefblau herübergrüßen, die endlosen Kornfelder sich gegen den Horizont anwellen, als glitte die Hand des Ewigen über die Myriaden von Ähren, wenn die Wiesen einschlafen wollen, die unabsehbaren Wiesen, die weder Anfang noch Ende besitzen und wunschlos von den weißen Nebeln zugedeckt werden – dann werdet ihr sehen, und ihr werdet die Hände falten in ernster Versunkenheit. Aber tut ihr es nicht, geht ihr achtlos vorüber, so zählt ihr nicht zu den Stillen und Wissenden, und niemals werdet ihr die majestätische Ruhe und Schönheit Johanna Douwermanns ergründen und aufnehmen können. Sie und die niederrheinische Landschaft sind ein und dasselbe, ergänzen sich wechselseitig, und die Auserwählten und Kundigen finden sie wieder auf den Tafeln eines Jan van Eyk oder eines Meisters von Kalkar. Die weiße Stirn, die feinrassige Nase, die stolzen, sichern Augen und die Formen unter dem weichen, anschmiegenden Gewand, alles das mutete an wie aus alten Zeiten heraus, hatte mit den jetzigen Tagen nichts mehr gemeinsam, war wie ein Bild, das gebot, vor ihm niederzuknien und das ›Gegrüßet seist du, Maria‹ zu beten. Sie hatte ein Madonnengesicht, und doch war dieses Gesicht von einer steinernen Kälte. Man wußte eigentlich nicht, worauf man es ansprechen sollte, so eigenartig stand es zwischen Anmut und Strenge, zwischen Stolz und duldender Hingebung. Bald sonnte es sich in einer freundlichen Helle, um gleich darauf die Schatten des Todes zu zeigen. An Johanna Douwermann wagte sich kein müßiges Gerede heran und scheute sich ängstlich, selbst mit den vorsichtigsten und zärtlichsten Fingern, den Schleier von ihrem Tun und Lassen und ihren geheimsten Gedanken zu heben. Sie war dagegen gefeit, wie die Wasserjungfern gegen Schmutz gefeit sind, wenn sie über ein sumpfiges Altwasser schweben. Ihre Reinheit würdigte sie, eine Hostie dem geweihten Kelch zu entnehmen. Ihr Lächeln erinnerte an das der Mona Lisa von Leonardo da Vinci, und wenn es um ihre Mundecken spielte, schien ein feines, ovales Goldreiflein ob ihrem Scheitel zu glitzern, ähnlich wie man es bei den Heiligen sieht – und so ein feines, ovales Goldreiflein war auch heute bei ihr und wollte nicht schwinden.

Als ihr Vater eintrat, legte sie den Elfenbeinspachtel beiseite, den sie noch mit ihren schlanken Fingern umspannt hielt.

Mit einem liebevollen Blick glitt er über die verhüllte Skulptur.

»Du bist fleißig gewesen, Johanna?«

»Ich hätte es sein können,« gab sie leise zurück; »aber der schneeblaue Tag war meiner Arbeit nicht günstig.«

»Um so freudiger ist die Botschaft, die ich dir zu überbringen habe.«

Mit übervollem Herzen machte er sie mit dem eigenartigen Zufall und dem Wechsel der Dinge bekannt, legte den Arm um ihre Schultern und schloß mit den Worten: »Alles Hoffen auf Erden geht schließlich seiner Erfüllung entgegen, und wenn es Manna vom Himmelreich regnet, soll man es aufheben und in seine Scheuer bergen. So ist es mir eben ergangen. Es kam Manna vom Himmel herunter, und ich nahm es auf und habe es in meine Scheuer geborgen ... und was dich anbetrifft: Hochwürden ist selber gekommen ...«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung, als wenn sie sagen wollte: »Jetzt nicht, in diesem Augenblick nicht, laß mir erst Zeit, um mich in aller Stille zu sammeln. Eine Prüfung ist nötig, ob Wollen und Können sich auch richtig begegnen ...« aber der Alte hatte bereits die Türe geöffnet und die Herren aufgefordert, näher zu treten.

Dirk Vogels hielt sich etwas zurück und grüßte nur flüchtig; aber seine Blicke umgriffen das seltsame Mädchen um so fester und inniger, während Petrikettenfeier ten Hompel auf sie zutrat, ihre Hände nahm und leuchtenden Auges sagte: »Zum Gruß, Fräulein Johanna!«

»Gott lohn's, und er segne Ihren Eintritt, Hochwürden!«

»Prächtig, prächtig wie immer!« sprudelte das lebhafte Männchen vor sich hin. »Ein gutes Geschick leitete mich, und was mich herführte, werden Sie bereits wissen, Fräulein Johanna.«

»Vater sagte es mir.«

»Um so besser! Da hat's keine Not mehr, und ich habe nicht weiter nötig, meinen Sermon ab ovo zu beginnen, sondern darf mich getrostes Mutes in medias res hinein versetzen. Nur das muß ich sagen: Unser lieber Herr Jesus Christ weiß schon alles auf den richtigen Fleck zu placieren, und es ist mir eine ganz besondere Freude gewesen, daß er mich wertete, ihm dabei Mörtel und Kelle zu reichen. Ja, Fräulein Johanna, Mörtel und Kelle; denn ich bin sein erster Gesell im hiesigen Kirchspiel. Sonst bin ich wie die übrigen Menschen. Habe ihre Schwächen und Fehler, aber auch ihre guten Seiten und den Drang in mir, nach lauterm Gold zu schürfen und irdisch Wertvolles auf die Beine zu stellen. Es ist schon ein inniges Suchen in jedem, und so er findet, wird dieses Finden zu einer herzerquickenden Gottesfeier. Eine solche Gottesfeier ist in uns. Sie redet zu uns, sie spricht aus einer rosigen Wolke heraus und verbindet längst dahingegangene Tage mit der jetzigen Stunde. Die alte Zeit schlägt die Augen auf, sie öffnet den Mund und freut sich, eine würdige Nachfahrin des großen Meisters gefunden zu haben. Sein Erbe ist in Ihre Hände gelegt, Fräulein Johanna, Ihnen wurde es anvertraut; denn eine bessere Sachwalterin dürfte schwerlich zu finden sein.«

Noch immer hielt er ihre weißen Hände zwischen den seinen. Jetzt gab er sie frei.

»Nun?« fragte er glücklich.

Sie sah ihn mit großen Augen an. Dann aber ... ein weltfremdes Kräuseln spielte um ihre Mundecken, und kaum merklich schüttelte sie den Kopf mit der schweren Haarkrone.

»Was ist denn, Fräulein Johanna?«

Die Hände über der jungen Brust verflechtend, meinte sie klanglos: »Ich weiß es kaum zu sagen, Hochwürden. Ich freue mich über die Botschaft und bin doch traurig darüber. Alles ist so unvermittelt und überraschend gekommen. Bisher war Ruhe in mir. Nun wird mir diese Ruhe genommen. Ich lebte in einem verschwiegenen Winkel. Nun tut sich die Welt für mich auf, obgleich ich nicht weiß, ob sie mir zuträglich ist, mir und meinem bescheidenen Dasein, und das, Hochwürden ...«

Mit einem verhaltenen Seufzer brach sie ab.

»Ja, und das ...?« fragte der Dechant.

»Und das macht mir Sorge, Hochwürden.«

Petrikettenfeier ergriff von neuem ihre Hände.

»Sorge, Fräulein Johanna, wo doch eine heilige Sache Sie ruft ...?«

»Gerade, weil sie heilig ist, weil sie groß und erhaben ist, weil sie gleichsam aus dem Himmelreich stammt – das ist es ja eben. Da sind Bedenken und Zweifel, die sich nicht so einfach fortwischen lassen.«

»Herr, du mein Jesus!« fuhr der Alte dazwischen, »was sind denn das nur für Zweifels- und Glaubensängste? Wenn der Herr Dechant dich führt, wird er dich schon den richtigen Gottesweg leiten ... und nun kommst du und bist der Meinung: ich kann diesen Pfad nicht betreten. Ich dankte schon meinem gütigen Schöpfer da droben, der alles zum Guten gewendet, und nun, wo ein Berufener vor dir steht und dir das Schnitzmesser in die Hand drückt, um dem großen Heinrich Gefolgschaft zu geben, da ziehst du mir ein schwarzes Tuch vor den jungen Tag, der sich glorreich aufheben möchte. Ich begreife das alles nicht und bin nahe daran, aus meinem Gleichmut zu fallen. Sonst so klar und kalt in deinen Entschlüssen, bist du jetzt so weich wie Modellierwachs geworden, unbestimmt, ohne jegliches Zugreifen. Wo soll ich das hintun? Warteseligkeit steht nicht in meinem Brevier, und ich ersuche dich nochmals, Farbe zu zeigen und dem Herrn Dechanten eine runde und bündige Antwort zu geben.«

Seine Stimme war hart und brüchig geworden, und wie in bitterm Unmut glitt er durch die weichen Haare seines fließenden Bartes.

»Wird's nun?« fragte er hastig.

Sie sah über ihn fort, als hätte er gar nicht gesprochen.

»Ja oder nein?« rief er heftig, »sonst – ich müßte an deinem gesunden Menschenverstand irre werden.«

»Aber Herr Douwermann ...!« wehrte der Dechant wohlwollend ab, indem er die Hände seines Schützlings um so inniger drückte. »Wir wollen doch unsere Fassung bewahren. Warum dieses Aufbrausen? Es führt zu nichts und erinnert an Spatzengezänk. Ich weiß, was ich weiß. Kein Titelchen davon gebe ich hin. Im Herzen Ihrer Tochter ist stets eine keusche Flamme gewesen, und daher: mit Zweifeln und Glaubensängsten hat ihr Sinnen gar nichts zu schaffen. Da liegt etwas, was wir vorderhand nicht zu begreifen vermögen. Sie wird uns Aufklärung geben. Ein Berg von Not muß erst von ihren Schultern herunter. Ihrem Seelsorger gegenüber wird sie schon sprechen, und somit frage ich Sie, Fräulein Johanna: Welche Gründe liegen vor, dem bedeutsamen Auftrag, der auch die Neuschöpfung einer Pieta in sich schließt, skeptisch gegenüber zu stehen?«

»Gründe, Hochwürden?«

»Ja, ich denke an ernsthafte Gründe.«

»Offen gestanden: ich kann sie nicht finden, wenigstens sie mit dem richtigen Namen nicht nennen. Aber ich glaube, ich bin zu irdisch veranlagt, und dann: ich kann den Spuren des großen Meisters nicht folgen.«

»So, so!« meinte der Dechant und gab ihre Hände frei, »zu irdisch veranlagt! Hab's nicht gewußt und weiß es auch jetzt nicht. Solche Selbstanklagen sind wie armselige Strohfeuer, die in sich selber verlöschen. Nein, nein, Fräulein Johanna« – und seine Stimme nahm einen warmen und leuchtenden Ton an – »das Gottfremde liegt Ihnen nicht. Bei Ihnen ist alles still und groß wie in einem lauschigen Sommerwald, ohne Sünde und Weltstaub, und wenn einmal eine gewisse Unruhe hineinkommt, so ist es nur ein Rauschen und Tönen, wie wenn der Herr mit den alten Kronen Zwiesprache hält und seine allmächtige Domorgel spielt ... und dafür möchte ich Deo gratias sagen. Und weiter, Fräulein Johanna ... Wie kommen Sie nur zu diesem seltsamen Trugschluß? Das ist eine Ansicht, die mit einem Buckel und einer Pritsche umherläuft. Was heißt das: ›ich kann den Spuren des großen Meisters nicht folgen?‹ Quod scripsi, scriptum est. Ich habe Ihre Handschrift gelesen und kenne Wort für Wort und Zeile für Zeile. Auch das Kleinste in ihr ist für mich bedeutsam geworden. Ich hab's immer gesagt und sag' es auch heute: von kleinen Unebenheiten abgesehn – nichts fehlt ihr. Alles sauber und von einem mutigen Glanz überzittert. Und diese, Ihre Handschrift auf die Kunst übertragen ... Sie bossieren in Wachs, wie die Alten es taten. Ihr Messer behandelt den Holzstock, wie nur die Auserwählten des sechzehnten Jahrhunderts zu schnitzen vermochten. Die Adlerschwinge dieser Zeit rauscht durch Ihr Schaffen, und ich stehe nicht an, hier feierlichst die Erklärung abzugeben: Ihre Kunst ist stark genug, um in die Fußtapfen Heinrich Douwermanns zu treten, die Schmerzensreiche zu bilden und die beschädigte Predella in alter Glorie und Herrlichkeit erstehen zu lassen.«

»Hochwürden ...!«

In heftigen Stößen klopfte die junge, harte Brust gegen das weiche Gewand. Sie rang nach Atem und suchte nach Worten. Endlich stammelte sie: »Und wenn auch alles so wäre, geben Sie mir Bedenkzeit, Hochwürden.«

»Bedenkzeit?!« fragte der Alte, mehr erstaunt, als erregt und noch immer nicht wissend, was er mit dem sonderbaren Verhalten seiner Tochter anfangen sollte. »Aber ich bitte dich, Kind,« fuhr er gemäßigter fort, »nun hat der Herr Dechant doch so erlösend und allbefreiend gesprochen, hat dich bestellt zum Hüter unseres unvergleichlichen Schreins, und das aus freien Stücken heraus und nur vor Gott und seinem Gewissen, hat dir ein köstliches Saitenspiel in die Arme gelegt, um den Namen Douwermann wieder erklingen und jubilieren zu lassen – und da noch Bedenkzeit?!«

»Mein Gott!« sagte sie wie aus einem tiefen Schmerz und einer dumpfen Betäubung heraus, »ich sagte schon vorhin: ich halte mich für zu irdisch veranlagt. Mein Schaffen sucht andere Wege, fahndet nach neuen Zielen, will die Enge und das Starre der Linien und Formen vermeiden und ist bestrebt, einen stärkern Anschluß an die Antike zu finden.«

»Und wann ist dir diese Erkenntnis gekommen?« fragte er mit ruhigem Ernst.

»Im verflossenen Sommer.«

»Das war wohl, als die Wiesen dem dritten Schnitt zureiften und die Bauern ihre Weizenernte nur so hineinscheffeln konnten?«

Sie nickte stumm vor sich hin.

»Und darf man nach dem Lehrmeister fragen?«

Seine Stimme zitterte.

»Ich möchte vorderhand seinen Namen verschweigen.«

»Auch eine Antwort. Dann eine andere Frage,« und Arnt Douwermann streckte die Hand aus und wies auf die verhüllte Figur, die sich im vollen Lichtkegel der Hängelampe emporhob. »Du weißt: deine Arbeitsstätte ist mir von jeher heilig und unantastbar gewesen. Ich wollte dich in deinem Wirkungskreis nicht stören, denn in der Überraschung fand ich allzeit eine feiertägige Freude. Jetzt aber ... Das da, was unter dem Tuch sich verbirgt, ist wohl das Resultat deiner neuen Erkenntnis?«

»Ich machte wenigstens den Versuch, die Rückkehr zur Natur anzustreben und dem freien, pulsenden Leben zu seinem Recht zu verhelfen.«

»Und behandelt dieser Versuch einen kirchlichen Gegenstand?«

»Nein, er ist weltlich.«

»Also weltlich, weltlich!« begehrte er auf, und der sonst so beschauliche und in sich gefestigte Mann schien Halt und Fassung verlieren zu wollen, »dann aber habe den Mut auch, uns einen Blick in diese, deine neue Welt zu verstatten. Nimm die Hülle fort, auf daß auch wir deines ersehnten Glückes teilhaftig werden. Das willst du doch, das ist doch deine Absicht, Johanna; denn jede neue Lehre will ihre Bestätigung haben.«

Herrisch trat er vor, als sei er gewillt, das dunkle Geweb von dem Bildwerk zu reißen.

Sie kam ihm zuvor.

»Jetzt nicht,« sagte sie mit flammenden Augen und breitete die Arme, als müsse sie eine Barriere legen zwischen ihre Kunst und den Vater. »Unvollendetes soll man nicht zeigen. Es verwirrt nur und bringt keine Andacht.«

Langsam sanken die Arme an ihrem schönen Leibe herunter.

»Später vielleicht,« sagte sie klanglos.

»Also – später vielleicht,« wiederholte der Alte mit verdrückter Stimme und schüttelte traurig den Kopf. »Vielleicht nur, vielleicht nur ...!« und seine Worte steilten senkrecht empor, um wieder matt und flügellahm in sich zusammen zu sinken. »So aus allen Himmeln gerissen zu werden! Das tut weh, und ich hab' nur den einzigen Wunsch, daß dein Glaubensbekenntnis sich vor Gott und deinem Gewissen verantworten möge. Doch noch besser: ich hätte dich lieber für alle Zeit in deinem schlichten und weißen Kleide gesehen.«

Er war dicht an ihre Seite getreten. Dann packte er zu und umspannte ihr Handgelenk.

»Oder du – versprichst du mir, in deinem schlichten und weißen Kleide zu bleiben?«

Eine tiefe Stille ging um, ein lastendes Schweigen, als fiele ein dichter Meltau von der Decke herunter.

»Sie bleibt es, Herr Douwermann,« sagte der Dechant mit aller Bestimmtheit. »Das weiße Kleid wird sie auch fürderhin tragen, genau so, wie sie es trug, als ich sie als Kind zum Tische des Herrn geleitete. Dieserhalb wird mir das Herz nicht schwerer und ärmer. Man kann schon im Leben seine Anfechtungen haben; denn wären sie nicht, man würde nicht die Krone des ewigen Lebens gewinnen. Siegreich wird sie alle Gefahren bestehen. Darauf lege ich meine Hände ins Feuer. Warum auch nicht? Kenne ich doch ihr inneres Wesen wie die heiligen Schriften. Darin steht nichts Unrechtes geschrieben. Was ist alles klar und lauter wie Gottes Sonnenschein und wirft keine Schatten. Was sollte ihr auch beikommen, den makellosen Opferherd einer gottseligen Kunst zu verleugnen, um dafür die Fackelträgerin eines unlautern Kultes zu werden? Jede Behauptung ist nicht wörtlich zu nehmen. Sie verlangt sachliche und sinngemäße Behandlung. Auch der gläubigste und kirchlichste Bildner hat nicht stets im Herrgottswinkel zu schaffen, vor dem silbernen Ämpelchen zu beten und seine Motive aus dem Jenseits zu holen. Es steht ihm nicht an, zeit seines Lebens Märtyrer und Bekenner zu schnitzen, etwa den großen Christopher, Sankt Ursel und ihre elftausend Jungfern, Katharinchen mit dem Spinnrädchen und den heiligen Krispin, der Leder stahl, um es armen Schustern zu geben – aber er soll dem Herrn dienen, auch in seinen irdischen Werken. Und so hoffe ich denn, Fräulein Johanna« – und in den Augen des würdigen Priesters wohnte ein Glanz, wie ihn sonst nur die Gläubigen sahen, wenn er das Brot segnete und das allerheiligste Altarsakrament unter Weihrauch emporhielt – »daß auch Sie ihm fernerhin dienen und uns nach wohlüberlegter Bedenkzeit eine freudige Antwort zuteil werden lassen.«

»Das wäre ein Glück!« meinte der Alte, »und wenn es so käme, es würde wieder heller werden zwischen meinen vier Pfählen.«

»Also Mut denn, Fräulein Johanna,« sagte der Dechant. »Laßt die Rechte nicht wissen, was die Linke tut, so ihr euch prüfet. Ultra posse obligatur, spricht der Lateiner; aber er sagt auch: Nobilis is vero est, quem nobilitat sua virtus oder zu deutsch: Der ist für adelig geacht, den seine Tugend zum Ritter macht. Möge auch Ihre Tugend sich immer stolzer entfalten. Seien auch Sie ein Gottesstreiter und Ritter im Reiche der christlichen Kunst, und das Antlitz des seligen Heinrich Douwermann wird aufleuchten im Himmel.«

»Ich will es versuchen,« hauchte sie bewegt.

Ihre Brust stürmte.

»Also abgemacht denn, und kommen Sie in freudiger Mission zu mir – nicht heute, nicht morgen, in einigen Wochen vielleicht – ich bin gewiß, meine alten Hände werden sich falten und meine Lippen werden sprechen: Benedictus, qui venit in nomine Domini!«

Hierauf hob er die Hand, die weiße, durchgeistigte Hand, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes und segnete alle. Von Arnt Douwermann begleitet, verließ er das Zimmer.

Dirk Vogels hatte bisher am Türpfosten gestanden, wie eine Säule – ohne Leben – ohne Bewegung – bleich wie das Entsetzen.

Kein Wort war über seine Lippen gekommen; aber sein Herz hämmerte ihm gegen die Brust, als müsse es die Rippen zersprengen. Alles lag mit entsetzlicher Klarheit vor seinen Blicken: die vergangenen und die noch kommenden Tage. Aber sie boten nichts Gutes. Wie mit Kirchhofsrosen fiel es über ihn her, wie ein Regen von Asche und Lava, und dabei fühlte er die aufdringliche Nähe der verflossenen Sommertage und -nächte, ihr verschwiegenes Rauschen in den Korngassen, ihr Locken und Werben und ihr verbuhltes Sternenfeuer, das auf jeder fruchtschweren Ähre ein duftiges Räucherkerzchen entflammte. Was hatten ihm diese laulichen Sommernächte nicht alles zu sagen! Und dann noch das soeben Gehörte! Es trieb ihm das Blut in die Schläfen. Er kam sich vor wie ein Ausgestoßener. Das schmale, scharfgemeißelte Antlitz war in frostiger Starre auf Johanna gerichtet.

Auch sie regte sich nicht. In kirchenstiller Ergebung stand sie vor dem verhangenen Bildwerk, mit niedergeschlagenen Blicken, bleich und gefühllos, nur von dem Gedanken erfüllt: »Peinige mich nicht so, wie die andern es taten!«

Da trat er vor.

»Johanna!« knirschte er zwischen den Zähnen.

Er war nicht mehr Herr seiner Sinne.

Ihre Augen taten sich weit auf, und die kaum wahrnehmbare Bewegung ihres Mundes endigte in einem schmerzlichen Lächeln.

»Auch du noch?!« fragte sie wie geistesabwesend, »und ich dachte schon, du wärest mit den Herren gegangen.«

Wie Eiswasser liefen die ruhigen Worte über ihn fort.

Da hielt's ihn nicht länger.

»Du!« stöhnte er auf und sprang auf sie zu. Wortlos, mit einem eisernen Griff, als wollte er ihr die Glieder zerbrechen, so riß er sie an sich.

»Was willst du?! Was tust du?!«

Mit Aufbietung all ihrer Kraft suchte sie aus seiner Umarmung zu kommen. Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf vor dumpfer Empörung. Sie stöhnte und ächzte. Schließlich gelang es ihr, sich gegen seine Brust zu stemmen und den Kopf rücklings zu werfen. Ihr Blick zuckte bestürzt in seinen hinüber. Sie kannte ihn nicht wieder. So hatte sie ihn niemals gesehen. Heiß und kalt lief es ihr über den Rücken. Sie fühlte seinen glühenden Atem, seine sehnigen Arme.

»Was quälst du mich so!«

»Du!« zischelte er ihr ins Ohr, »es muß endlich klar zwischen uns werden.«

»Das war es doch immer.«

»Nein, du – das ist es niemals gewesen. Immer dieses Geben und Nehmen, dieses ängstliche Wandern über Torf und Moor. Immer wieder dieses Sichsperren, dieses Locken und Abwehren. Ich will Klarheit haben, Johanna!« und wieder riß er sie an sich, wie trunken, wie aus einem wilden Fieber heraus, und preßte seinen Mund auf ihren weißen, zuckenden Hals.

»Laß mich los – du!«

»Nicht eher, bevor ich weiß, was sich zwischen uns drängte, was aus uns werden soll, was im verflossenen Sommer geschehen ist, wer dein Lehrmeister war und dir das infame Evangelium einer neuen Kunstepoche gepredigt. Diese Offenbarung will ich wissen, will sie mir zu eigen machen, will sie ergründen. Da steckt doch irgend eine geheimnisvolle Sache dahinter ...«

»Nichts steckt dahinter,« stöhnte sie fassungslos. »Wie kommst du darauf? Ich bin doch kein Kind. Aber wenn du es wissen willst: Nichts ist im verflossenen Sommer passiert, wenigstens nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte und was meine Ehre antasten könnte.«

»Und das Bildwerk da ... Was ist unter dem Tuch da verborgen?«

Hart und ehern fielen ihm die Worte von den Lippen herunter.

»Das ist meine Sache und meine Arbeit, und ob ich sie zu zeigen gewillt bin, darüber habe ich mir noch keine Ansicht gebildet. Und das andere, Dirk, ich meine das, was du ein neues Evangelium nennst ... auch darüber bin ich keinem Rechenschaft schuldig. Und wer es gepredigt? Ein Starker, ein Könner hat es gepredigt, und die Stimme der Kunst hat es mir in die Seele gerufen. Die mußte es wissen. Im übrigen« – und ihre Worte klangen wie Stahl – »ich bin keinem verpflichtet, niemand, nicht einmal mir selber ... auch dir nicht.«

Das wirkte wie ein knallender Peitschenhieb.

Dumpf stöhnte er auf. Seine Arme lockerten sich, ließen von ihr ab. Wie gelähmt sah er in einen gähnenden Abgrund.

»Du nicht verpflichtet? Also keinem verpflichtet? Auch mir nicht?«

Ein heiseres Lachen brach aus ihm hervor.

»Was bist du denn eigentlich?« fragte er mit zerbrochener Stimme und wich etliche Schritte zurück. Dann blieb er stehen und maß sie mit kalten Blicken. »Oder glaubst du vielleicht ...« Er suchte nach Worten; eine wilde Gedankenflucht hatte sich an ihn geworfen. »Weißt du denn alles nicht mehr? Erinnerst du dich nicht? Ich meine, ist denn alles aus deinem Gedächtnis getilgt, wie in den Wind gesprochen und in den Sand gezeichnet? Du – was damals zwischen den Wiesen geschehen ist, als wir über den Binnendeich gingen und die Osterfeuer brannten, groß, einsam und heilig, wo ist das alles geblieben? Die Feuer von Grieth und Wisselward und die auf dem Paternosterdeich! Strahlende Cherubim in heiliger Osternacht! Und was du da sagtest und dachtest und tatest – ist das nur ein Darlehn gewesen, ein erbärmliches Trinkgeld, wie man es gedankenlos zwischen Tür und Angel verteilt, wie man es einem Bettler zuwirft und dann die Tür hinter ihm zuschlägt?«

Ihre Hände verschränkten sich, verflochten sich krampfhaft. Alles Leben trat ihr zum Herzen zurück. Die aufeinander gepreßten Lippen waren blutleer geworden.

»Was machst du aus mir,« sagte sie heftig, »und wessen klagst du mich an? Ich habe gar nichts vergessen und will nichts vergessen.«

»So redest du jetzt, um nur eine Antwort zu finden. Aber das ist keine Antwort. Sie bietet mir nichts und kann mir nichts bieten, und selbst ein Stein, den du mir an Stelle von Brot gäbest, wäre barmherziger gewesen als deine Worte. Aber das sage ich dir: ich habe diese Stunde herbeigesehnt, wie der Sterbende die letzte Ölung herbeisehnt. So geht das nicht weiter. Mein Herz ist zermartert. Es ähnelt dem Bildstock auf dem Kalvarienberg. Vergegenwärtige dir doch die vergangenen Tage und Monde. Damals im Frühling flog es in den Himmel hinein wie eine jubelnde Lerche. Du hattest ihm Schwingen gegeben und Trost gegeben und Hoffnung für später. Dann hungerte ich nach dir und dürstete nach dir, den Sommer hindurch, den Herbst hindurch, und jetzt ist es Winter geworden ... Hier pocht das und arbeitet das. Mein Blut ist verriegelt. Es hat Heimweh nach dir. Gib ihm die Freiheit. Aber ich stehe mit leeren Händen wie immer. Und dann noch das andere...« und seine Stimme schrie auf: »Was hast du vor? Soll die Marter noch weiter gehen? Schaffe doch Klarheit um mich. Oder bist du anderweitig verpflichtet? Das muß nun einmal gesagt werden, um freie Bahn für uns beide zu schaffen. Ich für meine Person, ich ertrag' das nicht länger. Entweder so oder so. Ich muß aus der Pein- und Armeseelkammer heraus, sonst zermürb' ich, sonst geht mein ganzes Dasein vor die Hunde. Lieber wünsche ich mir das Los meines Vaters. Trotz der grauen Stube, durch die ich lange hätte hindurchstieren müssen, endlich wäre mir doch die ersehnte Ruhe geworden. So aber ... willst du mich endgültig zum Bettler machen und die Tür hinter mir zuschlagen, dann sag' es, aber kurz und bündig – und ich bin zum letzten Male Bettler gewesen.«

Mit einem kurzen Laut brach er ab, warf sich auf einen Stuhl und barg das Gesicht in die Hände – verzweifelt, in sich zusammengebrochen, als wäre nichts mehr zu retten, nichts mehr, nichts mehr ...

»Mein Gott und mein Heiland ...!«

Dann hob er die Hand und winkte mechanisch ab, als wenn er sagen wollte: »Geh nur, geh nur; es ist doch alles vorüber.«

Aber sie ging nicht.

Scheinbar kalt und gelassen stand sie auf der nämlichen Stelle. Nur ein leises Zittern überflog ihren Körper; ihre Lider schlossen sich langsam. Vieles ging ihr durch den Sinn. Sie befand sich in einer Welt, die außerhalb dieser Welt lag. Sie hatte gehört und doch nicht gehört. Nur wie aus unbegrenzter Weite her waren ihr die übereilten Worte zu Ohren gedrungen. Aber ein Klingen war bei ihr wie das von Haferähren im Wind. Das hörte sie deutlich. Sie war im verflossenen Sommer durch ein Feld mit Haferähren gegangen. Sie konnte dieses Klingen nicht los werden, und wie sie sich auch mühte, es aus ihrem Gedächtnis zu bannen, immer wieder wisperte es durch ihre Seele wie erdenferne Glöckchen. Schließlich gelang's ihr, und da war es ihr so, als wenn das geheimnisvolle Tönen Form und Gestalt annähme, sich verwandelte, zu einem großen Vogel würde, um sacht über die ernteschweren Felder zu schwimmen – immer weiter und weiter ... Drüben bei den dunkelblauen Wäldern von Moyland verschwand er.

Da solches geschehen, trat sie etliche Schritte vor, ruhig und zielbewußt, bis dicht in seine Nähe. Sie schien zu schweben. Dann hielt sie den Fuß an; über ihre Wangen kam ein herzzerreißendes Lächeln. Langsam hob sie die Arme; ihre schlanken Hände umspannten ihre junge Brust unter dem weichen Gewand. Dann sprach sie.

Keine Vorwürfe, keine Entschuldigungen. Ihre Stimme war sanft und lindernd wie Balsam. Sie klagte nicht an und beschönigte nicht. Nur dereinzelte Tränen waren dazwischen. Sie erklärte sachlich und ohne jede Erregung. Sie führte ihn in die Osternacht hinein, als die Feuer erwachten und die weiten Wiesen einschlafen wollten. Die Worte und Sätze reihten sich aneinander, so klar und scharf umrissen wie die Bilder am Himmelreich. Sie erzählte ihm Dinge, an die er sich kaum noch erinnern konnte, wie nur ein Weib sie empfand und nur ein Weib sie wiederzugeben vermochte. Dann meinte sie schließlich, wobei sich ihre Blicke wieder öffneten: »Das wäre es, was ich dir zu sagen hätte. Mein Leben liegt vor dir wie ein offenes Buch, dessen Inhalt du kennst. Nur einige Blätter sind unbeschrieben für dich. Für mich nicht; aber das kommt daher, weil sie eine rein persönliche Note haben und mein eigenstes künstlerisches Empfinden betreffen. Das laß dir genug sein. Jedenfalls: ich fühle mich dir gegenüber nicht schuldig und begreife daher nicht, wie du dazu kamst, mir eine derartige Szene zu machen.«

Er hob langsam den Kopf und sah sie fassungslos an.

»Also – das begreifst du immer noch nicht?«

»Nein,« versetzte sie duldend.

»Dann laß dir nochmals bedeuten ...«

»Bevor du es tust ... ich habe dir noch etwas mitzuteilen,« entgegnete sie in stiller Ergebung, ohne mit der Wimper zu zucken. »Es ist das letzte. Dann habe ich dir nichts mehr zu sagen. Das übrige überlasse ich deinem Ermessen. Daß ich es vorhin nicht tat, lag in einer gewissen Zurückhaltung meinerseits begründet. Das ist jetzt anders geworden. Du zwingst mich dazu. Drum sollst du es wissen. Verkenne unsere wechselseitigen Beziehungen nicht. Noch ist jeder von uns Herr über sein Tun und Lassen geblieben. Nichts hindert uns, stillschweigend Abschied zu nehmen. Wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen, nicht soviel wie der Hauch auf einem Spiegel. Unsere Blicke können sich begegnen, ohne daß unsere Wangen erröten. Ich sage dir das alles, damit du siehst, wie frei und ungebunden wir noch sind. Du zu mir und ich zu dir. Noch ist das bindende Wort nicht gefallen, obgleich ich weiß, wie gut du zu mir bist und mein Herz sich zu dir hingezogen fühlt. Ein stillschweigendes Einvernehmen – gewiß, aber noch keine Verpflichtung.«

Sie suchte nach Atem.

Mit einem jähen Ruck war er in die Höhe gefahren.

»Aber Johanna ...!«

»Nein, du – noch keine Verpflichtung,« rief sie mit aller Bestimmtheit. »Sage mir nichts; ich weiß, was du willst. Ich bin sicher, du würdest dich nur in einem Irrgarten von Beteuerungen und Worten verlieren. Und das wäre zwecklos wie immer. Wir sind keine Kinder mehr und müssen mit den Tatsachen rechnen. Ich leugne es nicht und habe es niemals geleugnet: mit heißem Sehnen bin ich mit dir über die eingedunkelten Dämme gegangen – meine Brust hat an deiner geruht – unsere Körper berührten sich – du hast mich umarmt – du hast mich geküßt, und ich habe diese Küsse erwidert, als Weib erwidert, und habe mich von ihnen beseligen lassen... Das gestehe ich unumwunden ein und werde es niemals bereuen. Aber eines besitze ich noch« – und ihre Stimme ging über sich fort – »und das halte ich fest; wenigstens jetzt noch ... mein eigenes Selbst. Ist das vertan, so habe ich nichts mehr zu geben. Um auch dieses zu opfern, muß ich erst die Überzeugung gewinnen: durch dieses Opfer bin ich restlos glücklich geworden – mir gegenüber und meiner Kunst gegenüber. Ich muß mich erst sammeln, mich erst wiederfinden. Laß mir Zeit. Dränge mich nicht. Ich muß aus meinen Zweifeln und Bedenken heraus ... Drum warte. Du weißt, daß ich dein bin, daß ich dir angehören möchte ... nur lasse diese Liebe ausreifen, behutsam und ohne Übereilung, wie ein blühendes Kornfeld. Es wäre ein Verbrechen, es voreilig unter die Sense zu bringen. Ich will mich für dich aufbewahren, so weit es in meiner Kraft steht und ich es mit meiner Kunst und meiner Seelenruhe vereinbaren kann. Und ist es so weit, dann will ich jauchzend in deine Arme hinein, um dir auch das zu geben, was ich bis jetzt noch verweigerte und verweigern mußte. Ich bringe dir ein Opfer, bringe auch du mir eines. Bist du hierzu gewillt ...?« und sie hielt ihre Arme gebreitet.

Wie sie aufleuchteten, diese alabasternen Arme! denn ihre Ärmel hatten sich bei der raschen Bewegung bis zu den Schultern gestreift. Ein königliches Weib hielt diese Arme gestreckt, ein königliches Weib unter diesen schlichten Sparren.

»Dirk, bist du hierzu gewillt ...?!«

»Johanna, Johanna ...!«

Mit einem Sprung war er bei ihr. Er hatte alles verwunden, aber auch alles.

»Johanna, Johanna ...!«

Himmel und Erde versanken ihm in dieser wilden Umarmung. Eine Flutwelle brandete über ihn fort. Endlich, endlich ...! – So hatte sie noch niemals geküßt, ihn so an ihre junge Brust gezogen, ihm so ihren blühenden Leib geboten mit all seinen Wundern. Und sie fanden sich immer und immer wieder in einem verzehrenden Kusse, der kein Ende nehmen wollte und köstlich war in seiner schmerzlichen Keuschheit.

Kaum hörbar klinkte die Tür auf, und ebenso lautlos schloß sie sich wieder.

Arnt Douwermann trat unauffällig zurück. Er wollte die heilige Stunde nicht stören.


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