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10

Der zehnte November dämmerte herauf, kalt, dunstig und mit fletschenden Zähnen. Die Quecksilbersäule sank bis fünfzehn Grad unter Null. Nebelkrähen, in normalen Jahren nur äußerst seltene Gäste, stolzierten in ihrer schwarzgrauen Watt über den Marktplatz und wunderten sich Stein und Bein über ihr frühzeitiges Hiersein. Sonst hatten sie um diese Zeit noch die Misthaufen jenseits der Oder und Weichsel bevölkert, waren bei den Polacken herumvagabundiert, die sich am Leibe noch schmutziger hielten, als ihre stumpfnasigen Seelen es taten.

Nöllecke Remmelmann hatte schon recht: seit Menschengedenken hatte es nicht so gottserbärmlich gefroren. Auch Herr Türlütt vertrat diese Ansicht und zwar mit einer gewissen Genugtuung. Die Kälte sagte ihm zu, vornehmlich heute; stellte sie ihm doch einen Genuß in Aussicht, der nicht zu den alltäglichen gehörte: Rotspon, Burgunder und Punsch ... Getränke, die seine Lebenselixiere waren und recht geeignet erschienen, dem klingenden, singenden Frost eine mollige und behagliche Note zu geben. Überhaupt das Revolutionsfest ...! Er freute sich darauf wie die Made auf den Limburger Käse oder wie das strotzende Euter auf den leeren Melkeimer. Herr Remmelmann schlug in die nämliche Kerbe. Nicht so die andern. Sie erschienen mit gemischten Gefühlen; denn bei Licht besehen war die ganze Geschichte doch nur eine Farce, der Auswuchs einer krausen Phantasie, die knollige Idee eines in seiner Art schiefgewickelten Mannes, der in alten Erinnerungen und Überlieferungen herumkramte wie der Geist einer überständigen Jungfer in vergilbten Liebespapieren: aber des lieben Friedens wegen und um den alten Herrn nicht aus seiner verschnörkelten Traumwelt zu reißen, hatten sie auch dieses Mal die Zähne zusammengebissen, hatten zugesagt und wollten pünktlich erscheinen, nicht ohne sich dabei heimlicherweise auf ein kleines übermütiges Späßchen zu freuen.

Mit dem zehnten November erwachten drei Hähne, drei stattliche Hähne, die schönsten und markantesten, die die Stadt aufweisen konnte.

Der erste, ein bergischer Kräher spanischer Rasse mit schwarzem Leibrock und blaugrauen Sporen, hockte auf der obersten Sprosse der Türlüttschen Hühnerleiter, riß den Schnabel wie ein Marktschreier auf und verfügte über ein Organ wie das eines versoffenen Budenbesitzers, der die Besichtigung einer Riesendame für zehn Pfennige anpräsentierte. Heiser, blechern wie ein verbeulter Ofenschirm, aber gesinnungstüchtig und tapfer, tönte der Weckruf. Herr François erwachte davon, streckte sich, daß die Bettstelle krachte, erinnerte sich und spitzte den Mund, als wenn es gleich mit dem Punsch- und Burgundertrinken losgehen könne.

Der zweite! Eben hatte er die im Kreise seiner Hennen gemeinsam bekleckerte Stange verlassen und saß jetzt, ein Prachtkerl von einem Brahmaputrahahn, mit knallrotem, dreireihigem, leicht gezacktem Barett, schneeweißem Bäffchen und befedertem Schuhwerk auf dem verschneiten Küstermist. Seine Stimme erinnerte an die seines Herrn und Gebieters, war sonor, kapuziner- und domorgelmäßig und hatte Guano und natürlichen Dung an den Füßen. Was in der Küsterei noch schlief, mußte wach davon werden. Auch Herr Bollig erwachte, stieß seine Frau sanft in die untern Rippen und sagte: »Züffche, dat is der feßliche Gesang vom Dag des Herrn. Et is zwar ein Dag voller Biesterei un eso 'ne Art von Dummheit, wat m'r da beim Herrn Baron erlebe müsse, aber da muß einer schon lang herumsuche könne, bivor er solche Tillekatesse bikömmt, un da sagen ich lieber, Herr Völlig, sagen ich lieber, ich for meinen Teil wollen mal hingehn. Züffche, wat meinst du dazu?«

»Dat stimmb,« sagte Züffche und drehte sich auf die andere Seite.

Der dritte! Als hätte ein Kastrat in der Sixtinischen Kapelle gesungen, so kikerikiete dieser kleine Japaner, dieser drollige Zwerghahn im ockergelben Wams und im Schmuck des blaugrünen, schillernden Schwanzes im Hof des Nachfahren des großen Anacharsis von Klotz, und das gerade vor dem Fenster der ehrsamen Jungfer. Die Stimme dieses geflügelten Sandkratzers schrillte wie eine Eisenrassel, spektakelte wie eine Pikolopfeife, ging durch Mark und Bein, machte die Zähne stumpf, pinkte und hämmerte so nachhaltig gegen die gefrorenen Scheiben und stichelte so gesinnungstüchtig in Stinas Tausendundeine Nacht hinein, daß auch sie den jungen Morgen begrüßen mußte, aber nicht so, wie die Herren Bollig und Türlütt es taten, nicht in Erwartung der feinschmeckerlichen Genüsse am heutigen Revolutionsfest, nein, sie gähnte seelisch hinein, gewissermaßen auf Schwingen bräutlichen Empfindens und einer getragenen Stimmung. Noch nie waren ihr solche Stunden gekommen. Nein, dieser erquickende Schlaf und dieses süße Erwachen, dieses graue Aufdämmern hinter den Schirtinggardinen! Sie war mit sich, ihrer Pflicht und ihren Entschlüssen sofort einig geworden. So'n Viertelstündchen konnte sie noch immer riskieren, und daher: sie wollte noch so'n bißchen duseln und dösen und das Durchlebte noch einmal durchleben.

Ein Bild des Friedens, mit zusammengefalteten Händen ruhte sie jetzt auf dem blaugewürfelten Kissen, während ihre sanften Atemzüge die ebenso blaugewürfelte Decke auf und nieder bewegten. Wie war das gestern abend gewesen? Ja so! – alles hatte seinen Ausgang von den Pomeranzen genommen. Diese Küsse, diese schöngerundeten Knie, diese unbefleckten Liebkosungen und dann dieser seelenvolle Abschied! Kalt war es draußen, bitterkalt, kalt, um in eine Eissäule verwandelt zu werden. Allein sie fühlte diesen Gletscherhauch nicht. Sie ging durch die klingende Frostwelt hindurch wie durch einen Park mit singenden Vögeln und bunten Frühlingsgirlanden, ins Grenzenlose hinein, ins Unendliche und dann wieder nach Hause. Ach, wie war hier alles so nett und behaglich! – nur Nöllecke fehlte ... und sie hatte doch so 'ne Bange und so 'ne Sehnsucht nach ihm, und da ging das nicht anders: sie kleidete sich aus, zog ihr Nachtjäckchen über, nahm heimlicherweise den Stiefelknecht des Hausherrn und schlüpfte mit ihm in die angewärmten Posen hinein, um doch etwas Männliches bei sich zu haben. Nöllecke, Nöllecke ...! – und dann war sie wieder in der Apotheke bei ihm, in seinem Allerheiligsten, in seinem Kontörchen, wo die schöne Tante Desideria Schnapp so gravitätisch von der Wand herabgrüßte und alle die vornehmen Remmelmänner hingen mit den steifen Vatermördern und den aristokratischen Gesichtern. Sie kam schon in 'ne noble Familie hinein, daran war gar nicht zu deuteln ... und Nöllecke erst mit seinem kleinen, allerliebsten Schnäuzchen und den krölligen Haaren! Und wie er sich hatte, so forsch und so mannbar und immer gleich aufs Ganze! Nein, dieser allerliebste Schwerenöter! Immer anregender zog es an ihren geistigen Blicken vorüber. Eine liebe Erinnerung gab der andern die Tür in die Hand. Kaum hatte sich die eine empfohlen, war auch schon eine zweite ins Zimmer getreten; aber wie sie auch vorsprachen – eine jede trug ein Myrtensträußchen im Knopfloch ... und was die Hauptsache war: heute abend kam Nöllecke selber, ihr Nöllecke, und würde ihr vielleicht vor der ganzen Gesellschaft nochmals sein Herz und seine ganze Apotheke und all sein liegendes und bewegliches Eigen zu Füßen legen. Nein, das würde er nicht tun. Dazu war er zu zartfühlend, zu vornehm. Das hatte noch Zeit. Eine junge, eben erst knospende Liebe durfte vorderhand nur im verborgenen blühen. Aber sie selber, sie konnte vielleicht dem alten Herrn schon jetzt so 'ne kleine Andeutung machen. Das allerdings wäre zu überlegen gewesen.

Ihre Betrachtungen stockten; denn der winzige Japaner lärmte zum fünftenmal über den Hofraum und zwar mit einer so impertinenten und spatzenköpfigen Frechheit, daß sich davon die seligen, scharfumrissenen Bilder entfärbten, blutleer wurden und wie Schemen zergingen. Sie welkten ab und ließen die Köpfe hangen, gleich Mohnblumen in hohen Stengelgläsern. Die lieblichen Szenen und Erinnerungen waren geschlechtslos geworden.

Da war's Zeit für Charlotte Corday.

Mit einem Wuppdich entstieg die komplette Dame den Federn, fuhr mit ihren strammen Beinen in die wollenen Strümpfe hinein, puddelte wie eine fettleibige Ente in der Waschschüssel herum, machte sich fertig und begab sich hinunter, um unter Beihilfe einer Aufwartefrau die Vorkehrungen für den heutigen Abend zu treffen.

Sanft und gottwohlgefällig hob sich die Sonne und senkte sich wieder.

Um die siebente Stunde waren alle Fenster des Klotzschen Hauses erleuchtet. Die Trikolore bammelte vom Dachgeschoß herunter, gerade über der Haustür. Im sogenannten Revolutionszimmer stand die Festtafel gerichtet, neun Gedecke auf Reihe, sachlich angeordnet und von einer purpurnen Helle umschienen. Mitten auf dem Tisch paradierte der Freiheitsbaum, mit roten Schleifchen garniert und der Jakobinermütze bekrönt. Die ganze Sache machte sich prächtig; ihr wohnte die Kraft inne, eine Gasterei der Konventsmitglieder vorzutäuschen und lebhaft vor die Seele zu stellen. Arrangement und Beleuchtung gingen Hand in Hand und ergänzten sich trefflich.

Herr Anatole von Klotz nickte befriedigt. Steifbeinig wie ein rheumatischer Hühnerhund umschritt er die Tafel und sonnte sich bereits im Vorglanz der kommenden Feier. Mehr als je versetzte er sich in die Rolle eines Obersten a. D. und in die eines Verkäufers in einem Sargmagazin. Gänsehals und Marabukopf wuchsen selbstgefällig aus den Vatermördern heraus, während seine Pupillen wie die blanken Beschläge eines Katafalks umhergeisterten. Sein Gesicht war verschlossen wie immer, sein Inneres zugeschnürt wie der Geldbeutel eines geizigen Menschen. Von Zeit zu Zeit machte er mit der rechten Hand eine kurze, abgehackte Bewegung, als müsse er ausgereifte Distelköpfe guillotinieren. Fünfundzwanzig hatte er bereits auf diese Weise heruntergesäbelt.

Dann warf er die Tür zum Nebenzimmer auf. Ein kleiner, vermickerter Mensch saß hier auf einem niedrigen Binsenstuhl. Es war der Sohn eines Reepschlägers, auch bei diesem in Stellung, benutzte aber seine freie Zeit dazu, bei allen nur möglichen und unmöglichen Festivitäten die Geige zu spielen.

»Brav so, Baptiste! Pünktlich wie immer. Merci! – und wenn die Herren sich setzen, dann fiedelt Ihr los – knapp – forsch – im Marschtempo ... etwa so ...« und mit spitzem Mund pfiff er die Marseillaise herunter. »Verstanden?«

»Wird gemacht, Herr Baron.«

»Vorher aber ...«

»Weiß schon, Herr Baron, das mit die bengalischen Feuer ...«

»Mein Mann!« nickte Anatole, drehte sich kurz auf dem Absatz herum, ging wieder in den Festraum zurück, trat ans Fenster und sah in den Abend hinaus.

Sapristi, wie langsam die Zeit ging! Die Uhrzeiger schienen Leim an den Füßen zu haben.

Jetzt glaubte er Stimmen zu hören.

Als erster hatte sich der Herr Dechant auf den Weg gemacht. »Der Not gehorchend,« sagte er still vor sich hin, »denn man kann nicht immer durch das Lustgärtlein des hohen Liedes pilgern, sich nicht immer an den feinen Auslassungen des hochseligen Thomas von Kempen erbauen, mit dem großen Athanasius durch die lybische Wüste schreiten oder sich am Psalterspiel des Königs David erfreuen ... Von Zeit zu Zeit ist es auch erbaulich und Nerven beruhigend, sich in die Wiege des Unsinns zu legen und den müden Geist von den Schrullen eines krausen Menschen schaukeln zu lassen – selbst dann, wenn sich dieser die Jakobinermütze überstülpt, um das Fest der großen Göttin zu feiern, obgleich man lieber zu acht Saiten den Psalm anstimmen sollte: » De profundis clamavi ad te, Domine. Domine, exaudi vocem meam.«

Nicht weit vom Hause des Gastgebers stieß er auf Arnt Douwermann und Dirk Vogels, während Herr Bollig und François Türlütt auf einem Nebenweg auftauchten und sich zu ihnen gesellten.

»Wer fehlt noch?« lachte der Dechant.

»Herr Remmelmann,« sagte der Küster.

»So wären wir denn zu sieben,« meinte Petrikettenfeier ten Hompel. »'ne stattliche Runde!«

»Zu acht,« entgegnete Herr François Türlütt, »Herr André hat sich gleichfalls die Ehre genommen.«

»Also auch wieder im Lande?« fragte der Dechant.

»Seit gestern, Hochwürden; nur auf 'nen Katzensprung. Sozusagen aus dem puren Handgelenk heraus. War in Köln, 'ne bedeutsame Sache, so 'ne Art von Kongreß. Famoser Kerl. Macht sich und seiner Familie große Ehre und steht in Erwartung, den väterlichen Punsch zu genießen ... Arak, Tee, Zucker, Pomeranzen und wenig Wasser, Hochwürden! Er freut sich innig darauf.«

Das Antilopengesicht strahlte.

»Und Sie natürlich nicht,« sagte der Dechant.

»Aber Hochwürden ...!«

Das klang wie ein Vorwurf.

Die andern Herren stießen sich an.

»Nanu!« meinte der Dechant. »Da kann man ja mit der Pelzkapp' nach werfen. Sie erzählten mir doch, Sie seien unter die Abstinenzler gegangen.«

»Schon richtig, Herr Dechant. Auch heute noch befolge ich den nämlichen Grundsatz. Mäßigkeit ist die Mutter für sämtliche Tugenden. Spirituosen! – niemals, unter keiner Bedingung. Allerdings, es gibt Ausnahmen, gewichtige Gründe, die geeignet sind, die feinste Regel über den Haufen zu stoßen. Beispielsmäßig, nur um meinem Schwager und den übrigen Herren Gesellschaft zu leisten. Man darf doch so 'nen noblen Zirkel nicht stören! und dann die Kälte – die sibirische Kälte!«

»Nur aus diesen Gründen, Herr Türlütt?«

Herr François legte gottergeben die Hand auf die Brust, als wenn er sagen wollte: »Wie können Sie zweifeln, Hochwürden?«

Der aber zweifelte und drohte jovial mit dem Finger.

»Herr Türlütt ...!«

»Ah!« stöhnte der Präsident der Bruderschaft Unserer Lieben Frau in tiefster Bedrängnis und hob wie beschwörend die Rechte gen Himmel, just in dem Augenblick, wo ein kaltes Sternchen niederpurzelte: »Hochwürden, so wahr mir Gott helfe, so wahr die Mutter Gottes von Kevelaer ...«

»Vor diesen Argumenten allerdings ist jedes Mißtrauen auszuschalten,« schmunzelte der Dechant, legte seinen Arm in den des Abstinenzlers und sprach im Weitergehen und mit einem lustigen Ton in der Stimme: »Ich bin eigentlich ganz Ihrer Meinung, Herr Türlütt. Sie sind kein Freund von Punschbowlen und ähnlichen Dingen. Ich auch nicht. Sie sind mir ein Greuel, gerade wie Ihnen. Ich spreche sie als Erfindungen Beelzebubs an, nur darauf berechnet, die Gedanken wirbelsinnig zu machen – gerade wie Sie es tun. Trösten wir uns daher mit den Worten des Dichters: Solamen miseris socios habuisse malorum, was auf deutsch heißt ...«

Er kam nicht weiter.

Herr Remmelmann flitzte heran wie aus der Pistole geschossen.

»Allseits guten Abend, die Herren! Hurra die Bowle!«

Gleichzeitig flammte es auf. Eine Wolke von blutroten Schleiern legte sich um die Fassade, drehte sich durch die verschneiten Lindenzweige hindurch und spreitete purpurne Decken unter die Füße der Revolutionsmänner. Die ganze Klotzsche Sinekure stand in Brand und Brunst und spektakelte wie ein Hexenhäuschen durch die weite Umgebung.

Herr Jakob Bollig schlug die riesigen Hände so voller Bewunderung zusammen, daß sie wie Waschhölzer klapperten.

»Das Licht der Freiheit!« ironisierte Petrikettenfeier ten Hompel.

»Großartig! Nie dagewesen!« jubelte François Türlütt. »Weiß Gott, Schwager, du verstehst es schon, Feste zu geben!«

Herr Remmelmann beurteilte die ganze Sache vom Standpunkt des Pyrotechnikers und Apothekers aus und zählte an den Knöpfen herunter: »Drei Teile Kaliumchlorat, vier Schwefelantimon, achtzehn Strontiumnitrat und sechs Gewichtsteile Schellack – machen zusammen 'ne rote bengalische Flamme.«

Dirk Vogels schüttelte den Kopf und murmelte in den grellen Zauber hinein: »Unsinn, du siegst,« um dann mit den Worten Sapiheas zu schließen: »Verstand ist stets bei wen'gen nur zu finden.«

Damit schrillte die Klingel, die Feuer verloschen, und die Herren waren in den Hausflur getreten.

Ein deliziöser Hauch von Schellrippchen, Pomeranzen und Gänsebraten empfing sie.

Herr Bollig machte sich lang, um über die Köpfe der andern besser fortriechen zu können. Jugenderinnerungen stiegen in ihm auf; denn ähnlich hatte es auch in der Gereonswallgasse bei Ohm Jakob gedüftelt, in dem Hause mit den verhangenen Fenstern, den Marmortischen und den hohen Spiegeln, nur das Arom war hier stärker, aufdringlicher und wies auf die Damen hin, die die einsam gelegene, vielbesuchte und geweihte Stätte bewohnten – aber ebenso trefflich wie beim Herrn Kirchenrendanten und Steuerempfänger a. D. wurde auch in der Gereonswallgasse und bei Ohm Jakob gegessen.

»Nein, diese Tillekatessen!« sagte Herr Bollig, hängte mit steifen Fingern den Hut an den Nagel, streifte den Überzieher ab und folgte den andern, die bereits abgelegt hatten.

Der Herr Gastgeber war eitel Zeremonie und Andacht. Den Oberst a. D. hatte er beibehalten, dem Verkäufer im Sargmagazin aber den Abschied gegeben. Dafür kehrte er mehr den Republikaner heraus, erging sich in Redensarten, die mit der Tradition eines ehemaligen preußischen Beamten keine Gemeinschaft mehr hatten, und hieß die Herren im Namen der Revolution herzlich willkommen. Auch der junge Baron wußte seine Stellung als Sohn des Hauses zu wahren. Für jeden hatte er ein verbindliches Lächeln, plauderte über seine neuesten Forschungen, hielt dem Herrn Dechanten einen kurzen, belehrenden Vortrag über die altkölnische Schule, sprach Herrn Douwermann sein lebhaftes Bedauern wegen des beschädigten Schreins in Sankt Nikolai aus und wußte Herrn Remmelmann in ein launiges Gespräch zu ziehen, das sich mit der Karnickelzucht und der tierischen Psyche beschäftigte. Auch Herr Bollig kam nicht zu kurz. Er durfte sich in den warmen, wissenschaftlichen Strahlen des jungen Kunsthistorikers sonnen, und er freute sich dessen. Nur fiel es allgemein auf, daß André Dirk Vogels zu vernachlässigen schien, ohne dabei die Formen der Höflichkeit außer acht zu lassen. Aber sein ganzes Verhalten war so kühl und gemessen, so vornehm zurückhaltend, so über alle Maßen von oben herab, daß es schließlich noch zu unliebsamen Erörterungen geführt hätte, wäre nicht Charlotte Corday erschienen, die stolze Büste von einer weißen Bluse umhüllt, eine rote Schleife um die Taille geschlungen und ein neckisches, korallenfarbiges Häubchen auf den straffgescheitelten Haaren.

Ihr erster Blick galt Herrn Remmelmann, der diese blutwarme Aufforderung mit einem verliebten Schmunzeln, wenn auch einer gewissen Reserve quittierte. Hierauf wandte sie sich an den Hausherrn, nickte ihm zu und flüsterte nur das eine verhaltene Wörtchen: »Mynheer!«

Dieser kurze Appell wirkte auf ihn wie Stahl auf Stein und Feuer auf Zunder.

»Messieurs!« – und der alte Herr wurde zur Hopfenstange, wobei er die Handschuhe so gelassen abstreifte wie ein Marquis zur Zeit des Regenten – » messieurs, le souper est servi! Entrez, s'il vous plaît!« und mit unnachahmlicher Grazie wies er auf die sauber gespreitete Tafel, die ein Hauch steifer Feierlichkeit und getragenen Ernstes umspielte.

Gleichzeitig kratzte und fiedelte Baptiste im Nebenzimmer die Marseillaise herunter, kurz, schneidig, gepfeffert, wenn auch hie und da etwas daneben... » Allons, enfants de la patrie ...!« zündende Klänge im Marschtempo, unter denen die Geladenen sich um die Tafel gruppierten, sich ordneten und ihre Plätze einnahmen – der Herr Dechant zur Rechten des Gastgebers, Herr Douwermann zu seiner Linken, die übrigen nach Rang und Würden gereiht, aber so, daß jeder zufrieden sein konnte, und das waren sie auch, selbstlos und begierig der kommenden Dinge. Doch eins war befremdlich. Alle saßen bereits, nur der alte Baron stand noch immer hinter seinem Gedeck, muffelte mit der Oberlippe und deutete auf einen leeren Stuhl, ihm gerade gegenüber.

Die Musik verstummte sofort.

»Meine Herren ...!«

Er atmete tief auf und fuhr dann mit gehobener Stimme fort:» Je vous demande mille pardons, messieurs! aber ich habe noch eine Pflicht zu erfüllen. Eine Dame ist draußen und bittet um Einlaß. Sie wird in großer Toilette erscheinen, in scharlachenem Rock; Mütze und Schuhe von der nämlichen Farbe. Wundern Sie sich nicht über ihr bleiches Gesicht. Es ist weiß wie die gekalkte Wand, unerbittlich und kalt wie das einer Leiche. Nur zu natürlich! denn wer mit einem Danton und Momoro verkehrte, einer Marie Antoinette den gepuderten Kopf vor die Goldkäferschuhe legte und den großen Anacharsis auf den Mund küssen durfte ... Ich bitte um Distanz, meine Herren. Respekt, Messieurs! Ich komme gleich wieder.«

Damit verließ er das Zimmer und zog unhörbar die Tür hinter sich zu.

Eine tiefe Stille ging um, eine stumme Erwartung, ein verstohlenes Raunen, währenddessen der junge Baron die löbliche Korona ersuchte, die Gläser mit feurigem Burgunder zu füllen. Der liebenswürdigen Aufforderung folgte ein anheimelndes Gurgeln und Glucksen, ein Schimmern von böhmischen Granaten, das das ganze Zimmer erfüllte und die Szene noch um einen Ton düsterer machte. Weiß der Kuckuck nochmal! man kannte ja die Wunderlichkeit des Kirchenrendanten, seine sonderbaren Einfälle, seine Schrullen und Launen; aber in diesem Augenblick war es doch jedem, als liefe ihm ein breiter Eisstrom über den Rücken; denn just als das letzte Glas purpurn aufleuchtete, tat sich wieder die Tür auf ...

» Attention, meine Herren ...!«

Mit stummer Grandezza trat Anatole ein, ernster denn zuvor und mit einem bittersüßen Lächeln um die blutleeren Lippen. Sein Arm war gekrümmt, als läge darin eine weibliche Hand, als schritte ihm eine Dame zur Seite, der er sich verpflichtet fühlte bis in die innersten Nieren. In verbindlichster Weise machte er Konversation, nickte ihr zu und geleitete sie mit Augen, die wie scharfe Rasiermesser blinkten, um den Tisch herum, bis zu dem verwaisten Gedeck. Hier angekommen, machte er eine chevalereske Verbeugung und tat, als ob er ihren Arm sanft aus dem seinen löse.

Dann hob er sich auf und sprach mit feierlicher Stimme: »Meine Herren, wir haben die Ehre, Madam Guillotin unter uns zu wissen, die Tochter des berühmten Arztes und Menschenbeglückers, › le spectre rouge‹, verschwägert mit dem gentilen Herrn Samson, Citoyen von Paris, en demeurant la meilleure fille du monde. Distanz, meine Herren! Noblesse oblige ...« und dann stellte er vor: »Madam, ich habe die Ehre – Seine Hochwürden der Herr Dechant ten Hompel, Pfarrer hiesiger Kirchengemeinde und Ehrendomherr an der Kathedrale zu Münster, Herr Douwermann, Privatgelehrter aus altem Geschlecht, Herr François Türlütt, mein Schwager, Herr Lehrer Vogels, Herr Remmelmann, pharmacien, Herr Bollig, concierge de l'église, und André, mein Sohn ... Ich bitte, Platz nehmen zu wollen, Madam, und was mich betrifft ... Si vous le voulez, je vais changer de place et je me mettrai vis à vis de vous. Vous permettez, madame? Merci, madame ...!« und damit ging er geschraubt und unter atemloser Spannung um die Tafel herum, pflanzte sich dem blutigen Gespenst gerade gegenüber auf, ergriff sein Glas und sagte: »Meine Erlauchten! Das hohe Fest kann beginnen. Wie in den verflossenen Jahren, so sind Sie auch diesmal erschienen, brüderlich vereint, um im Beisein des illustren Gastes aus Frankreich den denkwürdigen zehnten November und den großen Anacharsis zu feiern. Das danke ich Ihnen und heiße Sie unter dem Freiheitsbaum herzlich willkommen. Vive la république! Vive la montagne! Das Weitere findet sich später. Zum Wohle, die Herren!« – dann riß er den Kopf herum und rief über die Schulter: »Charlotte, faites votre jeu!« setzte sich nieder und hielt seinen Pokal dem Herrn Dechanten und den andern entgegen.

»Alles verstehen, heißt alles verzeihen« dachte Petrikettenfeier ten Hompel und tat ihm Bescheid; desgleichen fühlten sich die übrigen Herren verpflichtet, besonders Herr Bollig, obgleich ihm die Haare zu Berg standen und er den Eindruck des Grauens noch immer nicht los werden konnte; denn zum erstenmal war ihm die Ehre zuteil geworden, geladen zu sein und bei diesem Gastmahl weilen zu dürfen. Der vierschrötige Mann mit den gesunden Kauwerkzeugen fühlte sich bis in das Mark seiner Knochen erschüttert. Das war ja, um aus dem aufgebügelten Rock und den Küsterhosen zu fahren! und stieren Blicks, das Glas in der klobigen Hand, sah er bald auf den leeren Stuhl, bald auf das unbenutzte Gedeck und glaubte schließlich ... Ja, er konnte nicht irren. Da saß sie verkörpert: das Revolutionsweib, die Tochter Guillotins, die entsetzliche Frau in der ausgeschnittenen Robe und mit der phrygischen Mütze ... Donnerwetter nochmal! und die zusammengekniffenen Lippen ... und das schmale Gesicht, weiß wie Billardkreide ... Und sie nickte ihm zu ... ja, sie tat es wahrhaftig ... tat es wahrhaftig ... Er sah alles mit leibhaftigen Augen und konnte nicht fehlgehen. Der Burgunder bibberte in dem seinen Kristall, sah rot aus wie Blut und ließ einen scharlachenen Vorhang vor seinen Blicken herunter.

»Züffche« sagte er kleinlaut, »dat is ja alles recht schön mit dem Dag des Herrn; aber wenn m'r so alles bidenkt, dann wären ich doch lieber zu Haus gebliebe.«

Eine kräftige Hand schlug ihm in diesem Augenblick fidel auf die Schulter.

»Prosit, Herr Bollig! – nur um Ihnen Gesellschaft zu leisten ...« und das Antilopengesicht schüttete sein volles Glas hinter den weißen Schirtingschlips und meinte zum andern: »Prosit, Herr Bollig!«

Das wirkte besänftigend und ließ den unheimlichen Gast für eine Zeitlang verschwinden. Kurz, Herr Bollig hatte wieder Grund unter den doppelnähtigen Schuhen, leerte den Rest bis zur Nagelprobe und schnüffelte mit weiten Nüstern über den Tisch fort.

Ein allgemeines »Ah!«

Die Schellrippchen kamen. Charlotte Corday brachte sie auf blütenweißer Assiette, gefolgt von der Aufwartefrau, die mit einer riesigen Sauciere und einer Karottenschüssel hinter ihr herwankte.

Dann wurde anpräsentiert.

»As 't üh belieft, Mynheer Dechant,« zwitscherte Charlotte.

»As 't üh belieft, Mynheer Douwermann.'

»As 't üh belieft ...«

Ihre Worte erstickten, gingen unter in einem Meer seliger Freude; zwei begehrlich schillernde Augen standen dicht über Herrn Remmelmann. Die üppige Hebe errötete bis tief in das stramme Korsett hinein, und es gelang ihr während des Servierens, ihre derben Schenkel mit denen des Geliebten in eine innige Berührung zu bringen, was ihn seinerseits veranlaßte, mit zärtlicher, wenn auch unsicherer Hand über ihr saftiges Sitzfleisch zu gleiten.

»Ach du!« sagte sie glücklich, streifte ihn nochmals und präsentierte dann weiter: »As 't üh belieft, Mynheer Bollig.«

Der ließ sich nicht weiter nötigen, langte zu und gabelte sofort zwei Schellrippchen, aber die größten, auf seinen angewärmten Teller.

»As 't üh belieft, Mynheer Türlütt.«

Während des Auflegens suchte François sein gutmütiges Dulderhaupt an die volle Rundung Charlottens zu drücken, ›beispielsmäßig, um kommoder nehmen zu können.‹

»Nix mehr für Sie,« wehrte sie ab und bot dem jungen Herrn die Schüssel.

»As 't üh belieft. Mynheer Dokter.«

»Nun, Herr Vogels,« rief der Dechant seinem Gegenüber zu, »wie weit ist Ihre Forschung gediehen? Oder wollen Sie den Rest ad calendas graecas vertagen?«

»Mit nichten, Hochwürden. Zwar gibt das städtische Archiv keinen weitern Aufschluß. Nur ein gewisser Hinweis liegt vor; aber dieser genügt mir, weiter nach der Handschrift Meister Heinrichs zu fahnden und ihrer habhaft zu werden. Sie muß noch vorhanden sein. Besagter Vermerk in der städtischen Rechnung ist zu deutlich gewesen, redet eine zu eindringliche Sprache. Leider haben die Wirren des spanischen Krieges unter Mendoza manches durcheinander gewirbelt und auf eine andere Stelle getragen, was aber keineswegs ausschließt ...«

»Nun?« fuhr der geistliche Herr eifrig dazwischen.

»Daß die Akten des Hospitals und die Annalen der Kirche eine Sichtung verlohnten. Zweifelsohne ist fragliches Dokument zwischen diesen Papieren zu finden, und wenn Sie gestatten, Hochwürden ...«

»Aber selbstverständlich, mein Lieber! Gleich morgen ... ich werde Anweisung geben ... alle Fächer und Geheimschränke stehen zu Ihrer Verfügung ... und sollte es Ihnen gelingen, den heißersehnten Fund tatsächlich zu heben: Sie haben die Kunstgeschichte und insbesondere die alte heimische Schule um vieles bereichert.«

Er stieß mit ihm an.

» Jucundi acti labores. Mit Gott denn, Herr Vogels!«

»Danke, Hochwürden.«

»Verzeihen Sie meine Neugier, Herr Lehrer,« suchte in diesem Augenblick der Sohn des Hauses die Unterhaltung an sich zu reißen, »aber ich hörte soeben ... Es handelt sich ohne Zweifel um den Meister des beschädigten Schreins in der hiesigen Kirche?«

»Allerdings, Herr Doktor.«

»Und Sie wollen behaupten, der Name seines Schöpfers konnte zweifelsfrei festgestellt werden?«

»Ja, er konnte festgestellt werden.«

»Seltsam! Bis jetzt ist alle Mühe, selbst der besten Kunsthistoriker, vergebens gewesen, hier Klarheit zu schaffen. Die Legende bestand; aber ob diese Legende mit der historischen Wahrheit sich deckt ...«

»Sie deckt sich.«

»Und Sie, ausgerechnet Sie, hatten das Glück, die Wahrheit zu finden?«

»Ich fand sie.«

»Und was befähigte Sie, diesen Nachweis zu führen?«

»Mein gesunder Menschenverstand.«

Ein ironisches Achselzucken von seiten des Doktors.

»Mein Kompliment,« sagte er leichthin. »Auch hier wieder die alte Erfahrung: Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe. Da können sich ja die akademisch gebildeten Herren einsalzen lassen.«

»Herr Doktor ...!«

Auf den Backenknochen Dirk Vogels' standen zwei glühende Flecken, die plötzlich vergingen.

Der junge Baron winkte ab: »Es bleibt bei meiner aufgestellten Prämisse.«

»Herr Doktor, als Gast am Tisch Ihres Herrn Vaters verbieten es mir Takt und Höflichkeit, Ihnen die gebührende Antwort zu geben.«

»Herr Vogels, warum das?!« suchte der Dechant begütigend einzulenken, und »André ...!« klang verwarnend die Stimme des alten Herrn herüber. » Distance, s'il vous plaît

Eine unbehagliche Stimmung machte sich geltend. Sie fröstelte über den Tisch und ließ alle Herzen erkalten. Selbst Herr Bollig fühlte den quälenden Ernst der Stunde, und sei es nun, daß er den Drang eines Friedensapostels unter seinem Düffelrock verspürte, sei es, daß der feurige Burgunder ihn fortriß – Herr Jakob Bollig erhob sich, klopfte ans Glas, räusperte sich und machte der ganzen Korona, mit Einschluß des vereinsamten Gedecks, eine tiefe Verbeugung.

»Meine Herren un Damen!« sagte er hierauf, »hier stehen ich in tiefster Bitrachtung, um einige Worten zu sprechen« – hierauf schlug er sich mit seiner knolligen Hand fest und gesinnungstüchtig auf das blaugestärkte Schemischen – »denn ich bin arg bitrüb, weil dat kleine Differenzche soebe passiert is, aber auch arg erfreut, weil m'r hier dat schöne Feß mitmache dürfe. Meine Herren, ich bin zu Kölle gebürtig ...«

»Bravo!« nickte François Türlütt.

»Un alle, die zu Kölle gebürtig sind, habe 'ne anständige un 'ne feine Kurakter, un daher sagen ich, Herr Baron, sagen ich, entschuldige Sie gütigs, wenn ich Sie als noble Edelmann bititiliere, weil ich in die letzte Zeit so'n telikat Esse nich mitgemach habe. Der schliche Gesang vom Dag des Herrn hat uns alle bigeistert; denn m'r bikame hierdurch 'ne richtige Bigriff von die schöne Biesterei, die sich in Paris abspiele konnte. Un dat danke m'r Ihne. – Hochgeehrten Herr Baron, bischeidenen Herr Baron! M'r habe bireits die Firkenrippche gegesse, un da lawieren ich für, sie habe uns geschmeck, dat et Euch 'ne wahr Liebhaberei war, von die andere Tillekatesse, die noch komme solle, un von die Punschbowl will ich gar nich mal rede. Da kann m'r Bravo un Takapo zu sage. Auch der Herr Türlütt hat sich als Schwager baronemäßig binomme, nich, weil er die feinste Kumkummere und Leckertäte aufgetisch hat, sondern weil er sich dem heilige Schrein un die Kirche gegenüber nobel bizeigte. Meine Herren, m'r habe Kurasch, m'r scheniere uns nich, un daher sagen ich, alla bunnöhr sagen ich, dat Feß is so schön, wie nur ein Patentfirle sein kann, un daher, meine lieben Freunde, bin ich der Ansich, m'r wolle der bischeidene Herr Baron lebe lasse, m'r wolle Herr Türlütt lebe lasse, m'r wolle die Revolution lebe lasse, wenn auch so'n paar Blootsdröppcher dran sind ... Sie leben hoch ...!«

Und »hoch!« ging das durch das Revolutionszimmer und »nochmals hoch!« und »zum drittenmal hoch!« – und der armselige Baptiste nebenan begleitete diese sinnige Ovation mit feurigem Geigenstrich, während Anatole auf den begeisterten Redner lossteuerte, ihn umarmte und dann in die Worte ausbrach: »Sie haben mir zwar vorgegriffen, doch trefflich gesprochen. Großartig, sage ich Ihnen. Votre genre est petit, aber prächtig. Soyons amis, monsieur Bollig

Dann ergriff er die mächtigen Hände des Glücklichen, schüttelte sie zwei Minuten lang und sagte: »Ich danke Ihnen, Herr Bollig. Ich danke Ihnen vielmals, Herr Bollig.«

»Nix zu danke, Hochwürden, wollte sage Herr Baron; denn ich bin schon sowieso mehr als zufriede.«

»Ha, diese Bescheidenheit ...!«

Herr Anatole streckte so erhaben die Hand aus, daß er nur mit knapper Not sein wanderlustiges Röllchen zurückhalten konnte, während Herr Türlütt sein seidenes Taschentuch flott machte und es bewegt gegen Augen und Lippen preßte.

Er schluchzte gerührt und wäre auch fraglos als Redner aufgetreten, hätte in diesem Augenblick kein Tellerwechsel stattgefunden und wäre die Gans nicht erschienen.

Aber da kam sie, ein Prachtstück aus der schwimmenden Vogelwelt.

Herr Remmelmann begrüßte die neue gastronomische Erscheinung als Kenner und Naturwissenschaftler. So etwas war ihm noch nicht vor Augen gekommen, und er sagte sich richtig: sollte es diesem gebratenen Kapitolsretter einfallen, in seinem knusperigen Fett und seiner ganzen Beleibtheit von der Schüssel herabzuspazieren – die Beine müßten ihm abknicken wie Streichhölzer. Und dazu dieser Duft, dieser Weihrauch, dieses Bukett nach Äpfeln, Maronen und gedünstetem Rotkohl ...!

Sein Antlitz karfunkelte. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen.

Ebenso erging es Herrn Bollig ... und wieder das gelispelte, aber einladende: »As 't üh belieft, Mynheer Dechant.«

»As 't üh belieft, Mynheer Douwermann.«

»As 't üh belieft ...«

Erneut fühlte Nöllecke den sanften Schenkeldruck, der sich ihm schon vorhin bei den Schellrippchen aufgedrängt hatte; auch die leichte Bluse mit ihrem köstlichen Inhalt schmiegte sich ihm sanft an die Wangen, und das sagte ihm mehr als alle Theorien der ars amandiund der Paarungshygiene zusammengenommen. Und dabei noch die zärtlichen Worte: »Man keine Modestie nicht. Was Luzernerklee für die Karnickels bedeutet, das ist für dir so'n richtiges Bruststück.« und der saftigste Teil des delikaten Vogels sah sich auf den Teller des Herrn Apothekers geschoben.

»As 't üh belieft, Mynheer Türlütt, aber keine Anfassung nicht.«

Charlotte ging weiter. Neue Bouteillen erschienen: Burgunder und Langkork. Mit dem Vorrücken der Zeiger wurde die Stimmung fidel, ja, äußerst fidel. Die blutleere Französin vor dem verwaisten Gedeck störte nicht weiter; das kleine Rencontre zwischen Dirk Vogels und dem Doktor wurde vergessen, und selbst über die ernsten Züge des alten Douwermann, der ein eifriges Gespräch mit dem Dechanten führte, legte sich ein zufriedenes Lächeln.

Die Herren Bollig und Türlütt lebten wie die Finken im Rübsen, animierten sich umschichtig und waren nahe daran, Brüderschaft zu trinken und sich in die Arme zu fallen. Bollig verstieg sich sogar dazu, seinen prächtigen Nachbar der opulenten kirchlichen Stiftung wegen für einen Ausbund von Wohltäter und Spendierer zu halten, was diesen zu Tränen rührte und ihn seinerseits veranlaßte, den Küster in den siebenten Himmel zu heben und sein Lob in allen Tonarten auszuposaunen. Er sei mehr als ein gewöhnlicher Laie, er sei ein Studierter, ein fesselnder Kanzelredner, und es sei beispielsmäßig himmelschreiend, daß es ihm nicht vergönnt worden sei, Geistlicher zu werden und die Soutane zu tragen. Das Zeug habe er dazu; jede Bewegung, jeder Gedanke und jedes Wort verrieten den geborenen Domherrn; aber, Gott sei es geklagt! es sei nun einmal anders gekommen.

»Leider, leider!« konstatierte Herr Bollig, drückte die Hand des wohlwollenden Mannes mit einer so gediegenen Treuherzigkeit, als gälte es ein Abschiednehmen auf Leben und Sterben, wobei er so resigniert zur Decke aufsah wie ein krankes Huhn mit Pips und Kalkbeinen.

Zweimal war bereits der Gänsebraten herumgereicht, waren die Gläser gefüllt und geleert worden, war Nöllecke noch häufiger mit den üppigen Formen Charlottens in eine angenehme Berührung gekommen, als der kirschrote Grützauflauf unter Zutat einer roten Johannisbeersauce erschien, gefolgt von einem kolossalen Emmentaler Käse, von dem die Salztränen wie schwere Regentropfen von beschlagenen Scheiben kullerten ... und dann kam die Punschbowle ...

Aber wie kam sie? Ein Ungetüm von einer Porzellanterrine wurde aufgetragen, unter den Freiheitsbaum gestellt und mit einem feierlichen Händeklatschen begrüßt und bewundert ... und als dann die Schalen sich füllten und ihr würziges Arom verbreiteten, als die Remmelmannschen Pomeranzen so inbrünstig über die Tafel lockelten, daß selbst der alte Douwermann davon animiert wurde und zum Dechanten bemerkte, die Festivität habe doch eine ganz annehmbare Wendung genommen, dieser jedoch unmerklich den Kopf schüttelte und dem Alten zuflüsterte: » Nescis, quid vesper serus vehat, man weiß so recht nicht, was der späte Abend uns bringt, der Teich Sileon kann noch immer in Bewegung geraten ...« da mit einemmal und wie aus heiterm Himmel herunter ...

Anatole brachte seine Dose zum Vorschein, nahm eine Prise, klopfte mit dem Nachtischlöffelchen ans Glas und erhob sich, als wäre er von einer Sprungfeder aufgeschnellt worden.

Die Blicke aller waren in diesem Augenblick auf ihn gerichtet. Gott, wie hatte der Mann sich verändert! Keine Spur mehr von früher. Alles so spukhaft, so preziös, so ganz aus der bisherigen Rolle gefallen. Seine Augen glänzten wie Mondsteine, wie leuchtender Holzmulm, sahen aus, als ob sie zurückschauten, sich in sich selber versenkten – und er hatte doch noch in der letzten halben Stunde seine gute Laune auf das freigebigste unter die Gäste verteilt, war der Aufgeräumteste von allen und die Liebenswürdigkeit selber gewesen ... und jetzt diese Wendung: die Getragenheit in Person, das verkörperte Schicksal, ein ›cri de douleur‹, ein getrommelter Trauermarsch ...

Auch schien es, als wären Lampen und Kerzen mit Krepp umhangen, als wären sie zu Totenlichtern geworden, als hätten sich die Sardellensträhnen des betagten Herrn fester über den kahlen Schädel gelegt, als wüchse der Gänsehals länger aus den Vatermördern heraus ... und während dieser Groteske griff er in seine altmodisch zugeschnittene Weste hinein und ließ seine hervorgeholte silberne Uhr repetieren.

»Ha!« sagte er düster und warf den Kopf wie ein Schlittengaul aufwärts, »genau die Stunde, wo am vierundzwanzigsten März 1794 Anacharsis, ›orateur du genre humain‹, von der Place de la Révolution fortgekarrt und beigesetzt wurde. Narretei, Teufelswerk, Wahnwitz und Mord – und doch eine heilige Stunde! – Hört ihr nichts, fühlt ihr nichts?! Was tastete sich durch die Menschendrangsal hindurch, durch die Qualen der Völker? Ein endloses Schweigen – und eine mahnende Stimme zerriß dieses Schweigen und sagte: Le silence des peuples est la leçon des rois! Aber hörten die Könige, hörte der Gewaltmensch von Frankreich? Den Teufel taten sie, er und die andern. Frechheit, verdammte ...! – Nimmt es da wunder, wenn Samson erschien und die Handschuhe auszog? Laissez faire, laisser passer, sagte Herr Samson ... Kopf herunter! – Allerhand Achtung! – und das, Madam, ist Ihre Arbeit gewesen. Schluß des ersten Aktes, Messieurs! Zum Wohlsein, die Herren!«

Eisige Kellerstille umgab ihn. Keiner wagte sie aufzupeitschen. Nur die Gläser wurden leer und füllten sich wieder.

» Madame et messieurs! Auf dem Revolutionsplatz stand Blut. Zwanzigmal, dreißigmal, hundertmal hob sich tagsüber das Messer und tickte und tackte, Nemo ante mortem beatus! Madam, so dachten auch Sie und Herr Samson ... und siehe da: die Witwe Capet war an die Reihe gekommen. Hut ab! Diese Witwe wußte zu sterben, mußte sterben, um der armseligen Generation eine Gasse zu bahnen – und in diese Gasse hinein stürmte der Chaumette-Hébertismus, pflanzte den Freiheitsbaum auf und riß das Bleigewicht von den Füßen des Volkes herunter. Hoch die Vernunft, hoch der Kult der großen Mutter Natur! An den Brüsten des Heidentums hatte die christliche Welt zu genesen. Sans phrase, meine Herren! – und Sie, Madam, versuchten es mit Anacharsis von Klotz, diese gigantische Arbeit zu leisten, versuchten es – gaben sich Mühe – erdenkliche Mühe ... und so dämmerte der zehnte November herauf, und so erschien der zehnte November, auf dessen Geheiß Welten auftauchten, versanken und wieder erstanden. Schluß des zweiten Aktes, Messieurs ...! aber sacré nom de Dieu ...«

Der alte Herr sah sich um, sein Blick wurde streng und herausfordernd. »Wo ist denn der Herr Dechant geblieben? Fort? Einfach auf und davon? – Wer lacht da? – Hier hat keiner zu lachen. – Vollkommen unmöglich – impossible! – In Gegenwart von Madam gibt es kein Lachen, hat es niemals gegeben, sonst – man würde wie unter dem Galgen lachen, und das wäre entsetzlich. Aber ich frage noch einmal: Wo ist der Herr Dechant geblieben? Holla, heda! – wo ist er? Ah, ich verstehe! Der Kult der Vernunft, wo der Atheismus seine Orgien feierte, verschnupfte den geistlichen Herrn, ließ ihn ganz heimlich und sacht aus dem Revolutionszimmer gleiten. Mir gleich, was er tut; denn ich stehe hier für meine Person als chevalier sans peur et sans reproche ...«

»Bravo!« schrie François Türlütt dazwischen und klatschte drei Salven über den Tisch fort.

»Ja, Herr Dechant, so stehe ich hier und walte unentwegt des mir überkommenen Amtes. Doch hiervon abgesehen – ich bin preußisch gesinnt, monarchisch und christlich, katholischen Glaubens bis in das Mark meiner Knochen – Mark meiner Knochen – Mark meiner Knochen ... vertrete jedoch die Idee Anacharsis' des Großen, spreche in seinem Namen, in seinem Geist, aus dem fin de siècle heraus, und das muß man eben begreifen und mir zu gut halten, Hochwürden; denn ich bin, der ich bin: ein chevalier sans peur et sans reproche. Nichts für ungut, Herr Dechant.«

»Schwager, das bist du,« lärmte François Türlütt, »das kann dir keiner fortnehmen, Schwager!«

»François, Ruhe! ich komme jetzt auf den Glanzpunkt des heutigen Abends zu sprechen und bitte die Herren, die Gläser zu füllen.«

Seine Zunge wurde schwer, stockte und lallte. Aber nochmals hob er sich auf, stürzte sein Glas Punsch hinunter und reckte sich wieder.

» Écrasez l'infâme! – ja, auf den zehnten November – auf den Kult der Vernunft, den Anacharsis gestiftet – auf das Fest in Notre Dame von Paris ... Messieurs, die Gläser gefüllt ... der zehnte November ...«

»Hoch soll er leben!« brüllte Franz Türlütt. »Hoch soll er leben!«

»Mensch, in drei Teufels Namen nochmal!« wetterte Anatole und streckte die Arme, »der dritte Akt ist noch gar nicht zu Ende. Die Hauptsache kommt erst!«

Aber François ließ sich nicht stören, riß Herrn Bollig in seiner Begeisterung mit, so daß beide auf ihre Stühle sprangen und von hier aus ihre Ovation weiter verteilten.

»Hurra der zehnte November, und hoch soll er leben, hoch soll er leben!«

»Ich bitte dich, Schwager!«

»Beispielsmäßig, um dir Gesellschaft zu leisten – hoch soll er leben!«

»Hochverehrten Herr Baron, bischeidenen Herr Baron ...!«

Nichts verfing mehr.

Der alte Herr fuchtelte mit Armen und Beinen. Ein Röllchen fuhr auf und davon; aber dann krächzte er so entsetzlich auf die beiden ein, daß sie verstummten und in ihr Nirwana versanken.

»Ich sage euch ja, die Hauptsache kommt noch, und daher im Namen von Madam, der Tochter Guillotins, Ruhe, Messieurs!«

Und Ruhe trat ein, Grabesruhe, die Ruhe eines Sargnagels.

Anatole von Klotz war wieder der alte geworden. Mit seinem Marabukopf und den tiefliegenden, runden Augen sah er geisterhaft in die vergangenen Tage, in die Tage des Schreckens.


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