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An diesem Abend hingen die Sterne wie verstörte Armeseelchen am Himmel. Man sah es ihnen ordentlich an, daß sie froren, so bibberten sie, und so ängstlich trippelten sie auf der nämlichen Stelle, als wenn sie hierdurch ihre unruhigen Silberfüßchen warm machen wollten.
Auch der Herr Apotheker Nöllecke Remmelmann war der gleichen Ansicht. In Schlafrock und wichsblanken Stiefeln, die sich bei jedem Schritt knarrend apostrophierten, um sich eine vergnügliche Wärme und den sanften Schein einer Stehlampe, also stand er am Fenster, sah auf die Straße hinaus und äugelte zum gestirnten Himmel empor, wo die Armeseelchen ihres Daseins nicht froh werden konnten.
Er hatte ordentlich Mitleid mit ihnen, bedauerte sie und hätte ihnen am liebsten ein wattiertes Mützchen über die Ohren gezogen; denn Herr Remmelmann war weich und zart von Natur, weich wie Kamillentee oder wie ein laulicher Aufguß von Achillea millefolium. Vor allen Dingen – frieren und frösteln war ihm von jeher zuwider gewesen.
»Teufel, Teufel! das ist ja, um in einen Wolfspelz zu fahren,« hauchte er gegen die glitzerigen Scheiben, schlug die Falten des Schlafrockes enger zusammen und sagte: »Seit Menschengedenken ... Herr Jeses! wir schreiben doch erst den neunten November und dann diese Frostwelt! Es ist ja, als hätte der Wettermacher Laudanum gesoffen und das Regieren vergessen. Nein, diese Kälte!« und solches als das Resultat seiner Betrachtung hinnehmend, pirschte er sich an den Ofen heran, drehte sich in einen breitarmigen Sessel hinein, schlug die Beine übereinander und hielt Umschau in seinem kommoden, wenn auch kleinen Kontörchen.
Herr Remmelmann, etwas kurz in der Taille geraten, sonst wohlbeleibt, mit einem frischen Rotspongesicht, einem krölligen, blütenweißen, in die Höhe gestrichenen Haarkranz, der eine stattliche Glatze umzirkte, war Junggesell, Skat- und Dominospieler, Naturwissenschaftler und Karnickelzüchter, machte Witze, selbst äußerst gewagte, vornehmlich dann, wenn es sich darum handelte, dem Ewigweiblichen schamhaft die Nase zu röten, und behauptete, noch immer in den besten Jahren zu sein, weil es ihm vergönnt war, erst im verflossenen Lenz den achtundfünfzigsten Geburtstag zu feiern. Beim Billard, auf der Kegelbahn, in der Ressource, bei festlichen Gelegenheiten jeglicher Art, wie Kindtaufen, Hochzeiten und sonstigen Gastereien, überall wußte er sich Liebkind zu machen und die erste Violine zu spielen. Alle Welt hatte ihn gern. Nichts schlug er ab, war jedem zu Willen, war edel, hilfreich und gut, und nur den Freuden des Ehestandes gegenüber bewahrte er von jeher eine kühle Reserve, obgleich er Feuer und Fett werden konnte und wie ein Siesemännchen aufbegehrte, wenn ihm weibliche Reize in eine lohnende Greif- und Reichweite kamen. Selbstverständlich mit Auswahl, obwohl diese Auswahl nicht gerade einen besonders reifen Geschmack offenbarte. Schmaltiere und junge Ricken waren ihm ein Greuel. Die knidische Venus und die Aphrodite von Melos sah er nicht an. Die Äpfelchen der Hesperiden liebte er nicht, es wäre denn, daß sie schon derbe, feste und überreife Paradiesäpfel waren und eine stattliche Schirting- oder Kattunbluse ausfüllen konnten. Traf dieses ein, dann allerdings ... dann war Herr Remmelmann in seinem Element wie die Forelle im Sprudelwasser, und wenn dann noch eine Geige gestrichen wurde und die Klarinette seelenvoll auflärmte und bis in die Zehenspitzen hinein kribbelte, dann ging das nicht anders ... Herr Remmelmann wurde zum Gott, legte den Arm um die Taille seiner Schönen, drückte ihr sein Chemisettchen fest an das Ewigweibliche, walzte los in feinen und getragenen Schleifen und dünkte sich höher und glücklicher als ein Pascha mit sieben Roßschweifen.
Jetzt saß er in stiller Betrachtung, hörte auf das, was ihm der Ofen vorplauderte, und lauschte auf die zarte Klingelrolle des Kanarienvogels, die spiegelblank aus einer lauschigen Ecke hervorperlte.
Eine köstliche Welle von Apothekerwaren umräucherte ihn. Es duftete nach Spezereien und seltenen Essenzen. Sie drängelten sich aus dem Schlafrock heraus, aus der rotgepunkteten Weste und wölkten einen lieblichen Rauch um die gekräuselten Haare; kurz, Herr Nöllecke Remmelmann düftelte nach Kamillen, Latwergen, Karbol, Lavendelwasser und Myrrhentinktur, nach Süßholz, Emser Pastillen und dem allerfeinsten Succus liquiritiae calbreae concisae. Wäre Herr Remmelmann nicht Herr Remmelmann, also kein männliches, sondern ein weibliches Individuum gewesen, unwillkürlich wäre man an die Worte aus dem Hohenlied Salomonis erinnert worden, die da lauten: »Wer ist die, die herauf gehet aus der Wüste wie eine gerade Säule von Aromen und allen Gewürzen des Krämers? O du ...! – Deine Schößlinge sind ein Paradies von Granatbäumen mit den Früchten ihrer Äpfel, Cypern, Narden und Safran, Kalmus und Zimmet, Myrrhe und Aloe samt allen kostbaren Salben. Erhebe dich, Nordwind, komme, du Südwind, durchwehe meinen Garten, daß seine Düfte strömen!« – in dieser Weise legte sich ein einnehmendes Bukett um Herrn Remmelmann, durchsäuselte sein erhelltes Kontörchen und wandelte für eine rege und tapfere Phantasie den schlichten Junggesellenraum in den märchenhaften Rosenhain der kyprischen Göttin.
Die meiste Zeit des Tages verlebte Herr Remmelmann in diesen vier Wänden, die seine liebsten Erinnerungen umschlossen und mit etlichen netten Sachen und Sächelchen aufwarten konnten – Urväterhausrat aus der Biedermeierzeit: Sofa, Spiegel und Stühle aus Birnbaumholz, in Lyraform und mit einem geblümten, jetzt verwaschenen Stoff überzogen. Hierzu kam die Ahnengalerie der edlen Remmelmänner, bestehend aus Silhouetten, Daguerreotypien und Lithographien, die meisten in koketten Rahmen und Rähmchen. Von den Bildern fiel besonders eins in die Augen. Es stellte eine üppige Frauensperson dar, die zweifelsohne eine unbändige Schönheit gewesen sein mußte. Tante Desideria Schnapp, Witwe und Apothekenbesitzerin, hatte ihrerzeit die Männerwelt in Atem gehalten. Um ihretwillen war der junge Provisor ins Wasser gegangen, hatte sich der Forstadjunkt aus dem Reichswald eine barmherzige Kugel gestattet, war der ehrenfeste und allgemein geachtete Herr Postmeister nahe daran gewesen, den Verstand zu verlieren. Aller Zuspruch verfing nicht. Achtlos und mit verhärtetem Busen war Tante Desideria an diesen Tränenkomödien vorübergegangen. Sie blieb von den Eigenschaften einer Semiramis des Nordens so weit entfernt wie die Erdrinde vom kalten Polarstern – eine mit Keuschheit umgürtete Frau, eine Vestalin, eine zweite Johanna d'Arc. Sie hatte nur ein Idol, nur eine Leidenschaft: Nöllecke Remmelmann. Bei ihrem gottseligen Ableben vermachte sie ihm denn auch laut Testament ihr liegendes und bewegliches Eigen, als da waren: Garten, Haus und Hofraum, die Konzession, eine Apotheke zu führen, und schließlich eine Karnickelzucht, die ihresgleichen im hiesigen Landkreis suchte. Im Sinne der Verstorbenen verwaltete er das ihm überkommene Gut und Vermögen, hielt die Apotheke in bester Verfassung, pflegte Hof und Garten und machte sich eine Ehre daraus, nur die besten und seltensten Rassen des putzigen und verdienstvollen Nagers zu halten und weiter zu züchten. In seinen mit aller Sorgfalt hergerichteten Ställen fand man das angorische oder Seidenkanin, selbst der rare Lepus huxleyi von der kleinen Insel Porto Santo bei Madeira war von ihm mit den größten Geldopfern eingeführt worden. Kurzum, das Unternehmen florierte, verursachte dem Inhaber die herzinnigste Freude und machte seinen Namen geehrt bei allen Hegern und Pflegern dieses niedlichen Stallhasen.
Herr Remmelmann kannte die Karnickelseele wie kein Naturwissenschaftler vor ihm. Rammler und Häsin waren ihm so vertraut geworden wie Menschen. Er wußte, was ihre Nagerherzen bewegte, wenn sie mit ihren Läufen trommelten, mit ihren Blumen wippten, die Löffel anlegten und sich ohrfeigten, daß nur die Wolle so fegte. Ihr Murksen war ihm Musik, ihr Liebesspiel schien ihm interessanter zu sein als alle Stiergefechte und Hahnenkämpfe in Spanien und England zusammengenommen, und der Wochenstube widmete er eine Pflege und Sorgfalt, die man mit ›rührend‹ ansprechen konnte ... und schließlich, um der Erblasserin ein dauerndes Zeichen seines unauslöschlichen Dankes zu verstatten, hatte er inmitten der Stallanlagen eine Tafel errichten und darauf mit Ölfarbe schreiben lassen: »Den Manen meiner unvergeßlichen Tante Desideria Schnapp.«
So standen die Dinge, als sich Herr Nöllecke Remmelmann fester in seinen Schlafrock gehüllt und beim warmen Ofen niedergelassen hatte. Er saß im Dämmerzustand, so halb zwischen Wachen und Träumen, und hörte auf die zarte Kantilene des Kanarienvogels, die noch immer silberfein und filigranartig aus irgendeiner verlorenen Ecke hervorkonzertierte.
In Reichweite von ihm befand sich ein ovales Fensterchen in der Wand, ein Spion, ein œil de bœf, das ihn befähigte, die Verbindung zwischen Kontörchen und Apotheke sachlich aufrecht zu halten. Von hier aus konnte er den Aus- und Eingang beobachten, seinen Provisor kontrollieren und die nötigen Anweisungen anbringen, ohne sein Alleinsein preiszugeben und die Füße zu rühren. Von dieser Gelegenheit machte er stets den ausgiebigsten Gebrauch, des Nützlichen wegen und der Bequemlichkeit halber, und so auch jetzt wieder; denn horch ...
Unter dem Daguerreotyp der schönen Tante Desideria Schnapp stand eine niedliche Stutzuhr auf einem ebenso zierlichen Bronzekonsölchen. Die pinkerte in nervöser Unruhe, seufzte dann leise und tinkte mit ihrem Chansonnettenstimmchen in die Kanarienrolle hinein, daß es Herz und Ohren erfreute.
»Sieben Uhr!« sagte Herr Remmelmann, öffnete das Guckfensterchen, streckte den Hals und rief in die Apotheke hinein: »Herr Gummerich!«
»Herr Remmelmann!« kam es prompt und eifrigst zurück.
Gleichzeitig schob sich ein lustiges Gesicht mit pomadisiertem Haartoupet vor das œil de bœuf und sah fragend auf seinen Herrn und Gebieter.
»Feierabend!« sagte Herr Remmelmann. »Was noch zu tun ist, kann ich selber besorgen.«
»Schön!« dienerte Herr Gummerich.
»Die Rezepte sind doch alle erledigt?«
»Alle.«
»Weitere Kundschaft ist wohl kaum zu erwarten?«
»Kaum. Die Stadt ist bärengesund. Höchst bedauerlich!«
»Na denn ... 'nen vergnügten Abendschoppen und gute Verrichtung. Bis morgen.«
»Merci, Herr Remmelmann,« und damit warf sich der Herr Provisor in seinen Don Diego, schlang sich den grobwolligen Schal um den Hals, schlenkerte die befransten Enden keck über die Schultern, stülpte den Biberhut auf und trabte mit der Melodie ›Es war mal bei der Nacht, es war mal bei der Killekillekill, es war mal bei der Nacht‹ in den frostigen, sternklaren, schneeblauen Abend hinaus.
Aber wie das so ist im menschlichen Leben ... allem Bestehenden ist keine Ruhe vergönnt. Der Gemütlichkeit nicht, dem Alleinsein nicht, dem Menschen nicht und selbst dem Erdball nicht, und des Galileo Galilei › Eppur si muove‹ wird seine ewige Dauer und Beweiskraft behalten; denn kaum mochte sich Herr Remmelmann wieder in seinen Schlafrock eingedreht und Herr Gummerich sich an seinem Stammtisch niedergelassen haben, als die Haustür aufging, die Klingel anschlug und ein saftiges, derbes Frauenzimmer an die Theke herantrat.
Erstaunt darüber, daß niemand seine Wünsche in Empfang nahm, sah es sich um.
Wie Meister Löffelmann vom Lager, so war Nöllecke aus seinem Sessel gefahren, vigilierte durch den Spion, schien freudig erregt und konnte sich nicht genug daran tun, die Angekommene mit gierigen Blicken zu mustern.
Dann rief er: »Man keine Bange. Man immer frisch herein ins Kontörchen!«
»Gerne, Mynheer!« und kaum fünfzehn Herzschläge vergingen, als auch schon Stina Birgels erschien, festen Schrittes, barhaupt, einen gehäkelten Seelenwärmer um ihren stattlichen Busen geschlagen und die Hände unter der weißen Schürze verborgen.
Frisch sah sie aus, das mußte ihr selbst der Neid zugestehen. Tropfengroße Kristalle brillierten in dem straffgescheitelten Haar, die Maronenaugen sahen aus wie brauner Velour, und das Züngelchen kam etliche Male zum Vorschein, um feucht über die üppig aufgeworfenen Lippen zu gleiten. Dazu diese Wangen! Die bittere Kälte hatte sie in Borsdorfer Äpfel verwandelt.
»Nun, Fräulein Birgels, wie soll ich Sie nennen – Stina oder Charlotte?«
»Wenn ich bitten darf, Mynheer, Charlotte ist feiner. Außerdem hat es Mynheer von Klotz so in der Gewohnheit. Es soll ja wohl vornehmer klingen.«
»Wie Sie befehlen.«
Er schnürte sich näher heran.
»Und nun, Fräulein Charlotte, was verschafft mir die Ehre?«
»'ne schöne Empfehlung von Mynheer von Klotz, und Mynheer lassen fragen, ob Mynheer ganz bestimmt zum morgigen Abend vorsprechen täten?«
»Selbstverständlich, mein Kind. Wer kommt denn noch?«
»Mynheer, der Pastor, Herr Douwermann und Vogels, die Küsterei und Mynheer François Türlütt. Auch der junge Baron hat sich die Ehre gegeben.«
»Nanu! wann ist der denn gekommen?«
»Heute nachmittag, so ums Vespern herum.«
»Teufel, Teufel!« erstaunte sich Herr Remmelmann, »das muß ja 'ne pompöse Festivität werden, Fräulein Charlotte.«
»Wird's auch, Mynheer. Piekfein! Ei mit Schlagsahne ist gar nichts dagegen.«
Ihre Zunge leckte an den Lippen herum, machte sich breit, um gleich darauf wieder spitz wie das lanzettförmige Blatt des Sauerampfers zu werden.
»Um es einfach zu sagen, Mynheer, wir benehmen uns zuerst mit Schellrippchen und roten Karotten, dann mit Gänsebraten und Rotkohl und dann mit Grützauflauf und roter Johannisbeersauce.«
»Herrje! und das machen Sie alles so aus Ihrem puren Verstand heraus, so ganz von alleine, so mit Ihren niedlichen Fingern, Fräulein Charlotte?«
»Ach Gott, ja! man hat schon das Seine gelernt und ist auch nicht so ohne.«
»Großartig, Fräulein Charlotte! Wollen Sie nicht Platz nehmen, Fräulein Charlotte? Dann plaudert sich das besser und kommoder zusammen.«
»Wenn es nicht unangenehm ist, gerne, Mynheer,« und die Maronenaugen nahmen einen stillen und innigen Glanz an.
»I Gott bewahre!« schmunzelte Herr Remmelmann, drückte die reife und saftige Person in den nächsten Sessel hinein, setzte sich ihr mit einer gewissen Fühlung gerade gegenüber und sah ihr wie ein selbstloser Ami in das Borsdorferapfelgesicht, in dem die samtweichen Blicke immer feuriger und verständnisinniger aufleuchteten.
Kein Zweifel, sie verstand es schon, die ihr angetane Ehrung richtig einzuschätzen, wußte sie doch: Herr Remmelmann zählte zu den Honoratioren des Städtchens, verstand sich auf weibliche Tugenden und hatte immer so einen angenehmen Wildgeruch an sich, der sie an ihre schönsten Stunden zwischen den Korngassen erinnerte. Und dann seine Manieren! – so gar nicht hoffärtig und oben hinaus, sondern einfach und gütig, und das hatte auch seine Reize.
Und wie treu er sie ansah! – so biedermeiermäßig wie seine Einrichtung selber und so mit Rotkehlchenaugen. Das tat ihr ordentlich wohl unter dem gehäkelten Seelenwärmer und versetzte ihre immensen Formen in eine sanfte Bewegung, die eine gewisse, wenn auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer leichten Dünung aufweisen konnte.
Und wie er zu plaudern verstand!
»So, Fräulein Charlotte, also Grützauflauf mit roter Johannisbeersauce! Meine ganze Leidenschaft. Dafür könnte ich mein Seelenheil und meine Apotheke verkaufen. Teufel, Teufel! – und die Getränke, Fräulein Charlotte?«
»Das ist eigentlich dem Herrn Baron seine Ressource; aber um es einfach zu sagen: Rotspon, Burgunder und verschiedene Pünsche, Mynheer.«
»Teufel. Teufel ...!«
»Ja, und das mit die Pünsche ... das wäre mir ja beinah durch den Kopf und meine Besinnung gegangen. Um dessentwillen bin ich ja eigentlich gekommen, Mynheer.«
»Bitte, schießen Sie los, Fräulein Charlotte!«
»Um es einfach zu sagen, Mynheer: 'ne schöne Empfehlung von Herrn von Klotz, und Mynheer lassen fragen, ob Mynheer die Ansicht vertreten, daß Mynheer Pomeranzen oder so was in die Punschterrine hineinmachen könnte, um 'nen feinen Geschmack und 'ne größere Bekömmnis in die Sache zu bringen, und wenn Mynheer sich nicht in 'ner konträrigen Meinung befinden, dann lassen Mynheer von Klotz Mynheer Remmelmann bitten, ihm ein Viertelpfund zu überlassen. Aber christkatholisch gemessen. So, das wäre wohl alles, um es einfach zu sagen. Nichts für ungut, Mynheer,« und ihre sanften Blicke ruhten velourweich auf Nöllecke Remmelmann.
»Hm, hm!« sagte dieser. »Punsch und Pomeranzen, Fräulein Charlotte, nicht übel, gar nicht übel, Fräulein Charlotte, aber Teufel, Teufel noch mal! – die Sache will überlegt sein, sehr überlegt sein. Man kann nicht so ohne weiteres das Für und Wider erörtern. Nicht so ins Blaue hinein zu- oder abraten. Ich bitte daher um einige Minuten Bedenkzeit,« und Herr Remmelmann lehnte sich in seinen Sessel zurück, ließ die Augendeckel herunter, aber nur so weit, daß noch immer ein feiner Seidenfaden durch die Wimpern hindurchschillern konnte, wippte die linke Stiefelspitze auf und nieder und saß in tiefem Sinnen und in schwerer Betrachtung. Aber diese Betrachtung hatte nichts mit Punsch und Pomeranzen zu tun, beschäftigte sich vielmehr mit seinem Besuch und einer Radierung Adrian Brouwers, die neben der schönen Desideria Schnapp hing und eine lustige Kirmesszene zur Darstellung brachte.
Eine ähnliche Szene hatte er im verflossenen Sommer selber durchlebt, hatte seine Freude und seinen Gusto daran gehabt, und so kam es denn auch, daß er sich ihrer wieder lebhaft erinnerte.
Das war damals im benachbarten Wissel gewesen. Draußen ging ein warmer und mit vielen Glühwürmchen durchstreuter Abend durch die Dorfgassen. Von fernher rauschte das Korn herüber, und die Wiesen, die unter dem ersten Schnitt lagen, spendeten einen köstlichen Weihrauch. Es duftete nach welken Blumen und Halmen. Da hatte er im Verein mit Franz Türlütt die Kirmes besucht, um sich auf dieser eine vergnügte Stunde zu machen, 'ne verstimmte Leinewebermusik drang aus dem Tanzzelt, worin mehrere Petroleumlampen eine mäßige Helle verbreiteten und eine Anzahl Wisseler Bauern und Bauernweiber sich damit beschäftigten, auf und nieder zu walzen ... und Stina Birgels mitten dazwischen. Gottverdomie nochmal! das war doch noch ein richtiges Fraumensch! – roggenstrohhaarig, mit vollgehäufelter Bluse und bei aller Beleibtheit noch fix und tanzfertig wie ein Heupferd auf einer jungen Frühlingskoppel. Und Herr Remmelmann stand am Eingang der Tente und riskierte einen Blick nach dem andern ... und dann kam so'n derber, vierschrötiger, junger Feld- und Wiesenbauer daher, ein Prachtkerl im blauleinenen Kittel, mit silbernen Ringen in den Ohren, und warf 'nen harten Speziestaler auf die Musikantentribüne und rief dann: »Jetzt aber paßt Achtung – ich und die Stina!« – und legte den Arm um sie her und tanzte drauf los. Herrgott dieses Schwenken! Rechtsherum, linksherum! dann wieder geradeaus und dann um die Ecke ... und Stina klebte ihre Person fest an ihren Partner, jauchzte und juchzte und drehte sich so forsch um ihre eigene Achse, daß ihre Röcke bis zu den kräftigen Schenkeln aufwirbelten, während ein hahnebüchener Tusch von der Tribüne niederprasselte – und nochmals Tusch und zum drittenmal Tusch ... Das war Rasse und Weib! – und Nöllecke sah sein blaues Wunder und eine ganz neue Welt. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Teufel, Teufel! diese prächtigen Beine, dieses Untergestell und dieses Enkörchen an dem verschwitzten Leinwandkittel ... Dann war Stina plötzlich verschwunden, und wie es so kam: auch Herr Türlütt hatte sich ganz allmählich und unauffällig verkrümelt, um, wie er später sagte, nach dem Wetter zu sehen.
Daran dachte er wieder, und das Rotspongesicht erschloß sich mit stillem Behagen.
Nöllecke Remmelmann öffnete langsam die Augen.
»So, Fräulein Charlotte,« sagte er wie aus tiefem Meditieren heraus und legte ihr die Hände auf die runden Knie. »Ja, das mit dem Punsch und den Pomeranzen, Fräulein Charlotte. Es geht, wahrhaftig, es geht; denn eine alte Vorschrift besagt: Willst du 'nen guten ›Bischof‹ ansetzen, vergiß nicht, das Gemisch mit Citrus bigaradia corniculata zu würzen, und was so 'nem ›Bischof‹ bekömmlich ist, das kann auch so 'nem Pünschchen nicht schaden, vornehmlich dann nicht, wenn Sie die ganze Geschichte besorgen. Sie sind überhaupt ein appetitliches Frauenzimmer, Fräulein Charlotte,« und damit hatte er seinen rechten Arm um ihre Taille verankert, sie aufgehoben und sie ganz feierlich und behutsam an seinen gesteppten Schlafrock gezogen.
»Ach Sie!« lallte sie schamhaft, und eine höchst anmutige Mischung von Hoffnung, keuscher Verwirrung und einem zarten Erröten verhimmelte sie. Unter dem Seelenwärmer war wieder die getragene Dünung wie vorhin.
»Teufel, Teufel!« schnalzte Herr Remmelmann, »überhaupt dieser Seelenwärmer! Prächtige Ware! Darf man mal schätzen?« und ohne erst eine Antwort abzuwarten, glitten seine Finger erregt über die zitterige Wölbung. »Potz Tausend nochmal! 'ne flotte Gipüre. Das ist ja Wolle von den feinsten Angorakaninchen. Keine Schafwolle oder solche von andalusischen Ziegen. Kennen Sie überhaupt Angorakaninchen, Fräulein Charlotte?«
Immer nachdrücklicher interessierte sich Herr Remmelmann für den gehäkelten Umschlag.
»Na, ob ich sie kenne!« seufzte die Glückliche.
»Schon möglich, Fräulein Charlotte. Aber eins kennen Sie nicht, ihr Liebesspiel kennen Sie nicht; ich meine das zwischen Rammler und Häsin. Nein, das kennen Sie nicht, Fräulein Lottchen. Unmöglich, gar nicht auszudenken die Sache.«
»Aber ich bitte Ihnen, Mynheer!« sagte sie schüchtern und barg ihr heißes Gesicht an seine klopfende Brust. »Herr Remmelmann, ich bin doch nicht von heute und gestern.«
»Alles schon richtig, alles schon richtig!« stammelte er in das sinnige Scherzando des Kanarienvogels hinein, »aber Sie müssen mich besser verstehen, Fräulein Charlotte. Ich meine das Spiel ihrer Seele: die Sehnsucht zwischen Rammler und Häsin, das Neckische, das sie in ihre Schwänzchen und in ihre Löffel hineinlegen, das Wunder der Offenbarung zwischen den Angorakaninchen ...«
Er atmete tief auf.
»Ach Sie, Sie Schlimmer, Sie Lieber, Sie Guter!« hauchte sie ganz benommen und aufgelöst und pfropfte ihm einen saftigen Kuß auf die Lippen. »Aber offen gestanden, ich bin mehr fürs Praktische, Herr Remmelmann. Ach, wenn Sie wüßten!«
Sie wurde schwer in seinen Armen, lehnte sich an ihn, kam ganz außer Fassung. Sie hatte die ›Gabe der Tränen‹, das heißt, sie konnte weinen, wenn sie nur wollte. So auch jetzt. Dabei klingelte die Symphonie einer halcyonischen Zeit über sie hin, brachte sie den Gefilden der Seligen näher. Ihre Zunge leckte wie die einer Miezekatze. Sie glaubte auf einer Kirmes zu sein. Da waren Buden mit Klever Spekulatius und Nymwegener Moppen, Drehbretter und Karussells mit blitzenden Spiegeln. Wie das funkelte und flimmerte! und mit unwiderstehlicher, aber liebevoller Gewalt fühlte sie sich auf zwei ledige Knie gezogen, und die Worte klangen ihr zu: »Fräulein Charlotte, was so zwischen zwei Angorakarnickeln passiert, warum sollte das nicht auch zwischen uns beiden passieren ...«
Sie küßte ihm das Wort von den Lippen.
»Hören Sie auf, Sie Schlimmer, Sie Schlimmerich, Sie Ausbund aller Junggesellen meiner Bekanntschaft.«
Sie kam rein aus dem Häuschen. Die Kirmes wurde lauter und wirrer. Immer lebhafter drehte sich das Karussell um sie her, immer emsiger kreisten die Spiegel, und jeder strahlte ihr neue Hoffnungen und neue Aussichten entgegen. Warum sollte sie nicht ... warum sollte sie nicht die Gelegenheit wahrnehmen, sich verbessern, sich auch wie die vornehmen Damen benehmen? Warum sollte sie nicht zugreifen und den Herrn Besitzer der Einhornapotheke mit 'nem ganzen Stall voll kleiner Remmelmännchen beglücken? Das war doch so einfach und lag in der Bestimmung des Weibes und der Natur der Dinge begründet. Sie hatte doch ein Anrecht darauf, die Dinge zu wechseln, vornehmlich jetzt, wo er sich über sie beugte, ihre Taille fester umgriff und seinen Mund feurig auf den ihrigen legte.
»Herr Remmelmann,« stöhnte sie auf, »diese Gefühle, diese Andeutungen, das mit die beiden Angorakarnickels ...! Ach, du mein Göttchen ...! – Nöllecke, bedeutet das vielleicht, um es einfach zu sagen ... Ja, das bedeutet ... Das ist doch nicht anders ... Das ist so gut, als wenn das Kopulierbuch zugeklappt würde ... Nöllecke, Nöllecke ...!« Ihre Stimme versagte, ihre Arme erschlafften, die Dünung ihres Busens ebbte zurück, ihre Maronenaugen schlossen sich langsam, und ein schmerzlicher Zug legte sich um ihre Mundecken ... und das alles in der Überfülle des Glückes.
Herr Remmelmann erbleichte, er konnte nicht irren: seine Dulcinea von Toboso war wirklich und wahrhaft und in vollem Ernst in eine richtige Ohnmacht gefallen. Was tun? Wenn jemand jetzt käme, wenn die Hausklingel jetzt anschlagen sollte. Wenn irgendein Bekannter, der Herr Baron vielleicht oder gar der Herr Dechant ... Teufel, Teufel! diese fatale Situation! Das durfte nicht sein, und daher ein kurzer Entschluß ...
So gut, wie es ging, bettete er die Ohnmächtige in den breitlehnigen Sessel, drehte sich fix der Apotheke zu, tat ein Viertelpfund Pomeranzen in eine weiße Papiertüte, entnahm der Anrichte ein Fläschchen mit Riechsalz, eilte zurück, praktizierte die Tüte in den Seelenwärmer hinein und wölkte der Ärmsten eine Portion Ammoniak unter die Nase.
Das wirkte.
Mit einem langen und verzückten Seufzer erwachte sie aus ihrer Betäubung und ihrem übersinnlichen Zustand.
»Nöllecke, Nöllecke, ach, wenn du wüßtest ...!«
Ja, Herr Remmelmann wußte genug und hörte mit einem gewissen Behagen auf das erlösende Tinken der niedlichen Stutzuhr, die mit ihrem silberdrähtigen Stimmchen die achte Abendstunde anrief.
»Gott, schon so spät!« erschreckte sich Stina, um gleich darauf wieder in ihre gehobene Stimmung zu gleiten.
»Nöllecke, Nöllecke ...!«
Noch ein letztes Umarmen ...
»Ja, um es einfach zu sagen, es bleibt wohl dabei für allewige Tage. Gott nicht, Nöllecke, die beiden niedlichen Angorakarnickels ...!« und damit schwebte sie ab, über die Schwelle, über den Hausflur, über die Treppe, in den Abend hinaus, den Klotzschen Penaten entgegen, um sich eine eisige, schneeige Frostwelt und über sich den gestirnten Himmel, wo die Sternchen umhertrippelten, als wenn sie noch immer ihre unruhigen Silberfüßchen warm machen müßten, während Herr Remmelmann es sich wieder in seinem Sessel bequem gemacht hatte und eine neue Wolke von raren Spezereien um sich her apothekerte.
Aber seltsamerweise – unliebsame Visionen bedrängten ihn plötzlich; in seine Stirne gruben sich bedenkliche Falten; denn immer und immer wieder und mit der Hartnäckigkeit von Pferdebremsen traten ihm die Worte in den Sinn, die Stina aufgeseufzt hatte: »Das ist ebenso gut, als wenn das Kopulierbuch zugeklappt würde ... Nöllecke, Nöllecke ...!«
Die tat ja so, als sei bereits alles abgemacht und entschieden.
Und war doch nur so ein ganz kleines Intermezzo gewesen, wenigstens für ihn, ohne Verpflichtung und nur für die Stunde berechnet. Stina hingegen schien hierüber anders zu denken. Ihre Zukunftspläne lagen nicht mehr in den Windeln, hatten sich bereits stattlich herausgemustert und wollten in die Hosen hinein.
Nöllecke, Vorsicht!
Er konnte des heutigen Abends so recht nicht mehr froh werden.
*
In dieser Nacht, also in der Nacht vom neunten zum zehnten November, schlug zu wiederholten Malen der kleine Rattenpinscher an, der das Douwermannsche Haus zu bewachen hatte.
Das laute Gekläff weckte Jungfer Therese, die sich notdürftig ankleidete und sich hinter der Gardine auf Posten stellte. Von hier aus konnte sie einen großen Teil des Gartens genau übersehen. Er lag in taghellem Mondlicht.
Sie hörte den harten Pulsschlag ihres eigenen Herzens.
Kein Licht mehr im Hause; nur aus dem Zimmer, das Fräulein Johanna bewohnte, drängelte sich ein heller Schein und legte sich safrangelb über die Schneedecke.
Aber nichts regte und rührte sich in der weiten Umgebung. Nur die Bäume froren im Mondlicht und klingelten ab und zu mit ihren Kristallen. Sonst atemlose, friedliche Stille.
Plötzlich horchte sie auf.
Sie glaubte, leise Schritte zu hören und einen flüchtigen Schatten zu sehen.
Jungfer Therese schauderte ängstlich zusammen.
Sie täuschte sich scheinbar.
»Nichts, nichts!« sagte sie fröstelnd, »aber es ist alles so seltsam, und ich kann mir nicht helfen: der junge Mensch ...«
Sie verschluckte die letzten Worte.
Hierauf betete sie drei ›Vater unser‹ und drei ›Gegrüßt seist du, Maria‹ und legte sich wieder.
Über das kleine Anwesen zog die Nacht mit ihren goldenen Bienenschwärmen.