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Es war wie ein Armsündergrab ... so abseits lag es, so wenig fiel es in die Augen. Kein Hügel war da, kein Kränzlein schmückte es, kein Kreuzlein stand darauf. Nur der Wind fuhr darüber hin und verwuscherte alles – nämlich das, was die denkwürdige Sitzung unter dem Vorsitz des geistlichen Herrn erbracht und in salomonischer Weisheit beigelegt hatte.
Der Dechant schwieg; denn er hatte kein Interesse daran, das niedergehaltene Feuerchen aufs neue aus der Asche zu heben. Für ihn waren die Dinge geschlichtet. Für alles Weitere hatten die Beteiligten Sorge zu tragen. Bleibe, wo du stehst, damit du nicht fallest, und wenn einer »Husch!« ruft, sind die Hühner gewarnt. Das beherzigten alle und vermieden es ängstlich, ihr eigenes Leid durch die Zähne zu schleifen.
Herr Nöllecke Remmelmann in erster Linie, weil er sich sagte: »Mit Maulhalten ist der Teufel zu bannen«, hüllte sich mollig in seinen Schlafrock hinein und tat so, als hätte der Seelenwärmer des ›schuldlosen Mädchens‹ jede, aber auch jede Adhäsionskraft verloren.
Herr Türlütt befühlte tagtäglich seinen äußern Körper, ob er noch heil sei, erforschte Herz und Gewissen, erweckte Reu und Leid und ging der Klägerin so scheu aus dem Wege, als wenn sich in ihr die ›preußische Gefahr‹ personifizierte. Sogar den Namen ›Wissel‹ suchte er aus seinem Gedächtnis zu streichen, verzichtete darauf, das Wort ›Kirmes‹ auszusprechen, und wenn ihm der Begriff eines blühenden, wonnig rauschenden Kornfeldes vor die Sinne trat, ward ihm übel zumute; denn er fürchtete allzeit, der leibhaftige Gottseibeiuns träte an seine Seite, um ihm mit diabolischem Grinsen das sündige Fell zu verbleuen. Haben Sie jemals einen toten Esel gesehen? Nein. Auch Herr François Türlütt hatte nie im Leben die Bekanntschaft mit einem solchen gemacht, war niemals auf einer Kirmes gewesen, kannte keine sich wiegenden Saaten und hatte niemals in seinem Dasein ein seliges Schäferstündchen zwischen niedergelegten Halmen und Ähren durchkostet ... und so blieb denn die Wisseler Liebesfeier ein Nonsens für ihn, eine Affäre ohne Inhalt und Namen, ohne Daseinsberechtigung. Er schwieg und hatte vergessen.
Herr Anatole von Klotz hingegen ... wie ein lauernder Panther hätte er auffahren mögen. Ihm solche Verdrießlichkeiten zu machen, ihn so hinters Licht zu führen und ihm seine feinausgeklügelte Anklage- und Verteidigungsrede, seine stolze Replik, so schandbar um die Ohren zu knallen! Drei Tage und drei Nächte hindurch hatte er damit zugebracht, sein Plaidoyer zu entwerfen, es mit attischem Salz zu würzen und stacheldrähtig herauszuputzen – und nun war alles in den Brunnen gefallen. Nein, diese Charlotte! Und dann erst sein Schwager! Gewiß, häufig war ihm dieser als ein heimlicher Schleicher und Schürzenjäger erschienen, wenn er auch gehofft hatte, daß es dem veredelnden Einfluß der verstorbenen Frau gelingen werde, diesen niederrheinischen Hyperboreer noch zu einem leidlichen Menschen zu formen – und jetzt dieses Ende mit Schrecken. Wie ein Heupferd war die lästerliche Sünde aus dem Wisseler Kornfeld gesprungen. Sacré nom de Dieu! Ja, wäre es noch eine Entgleisung mit einem honetten Frauenzimmer gewesen! Aber Stina, ausgerechnet Stina ... Herr Jeses nochmal! hatte er nicht immer behauptet: » Chassez le naturel. il revient au galop.« Dem Mann war eben nicht mehr zu helfen. Am liebsten wäre er dem infamen Kerl an die Kehle gefahren, hätten nicht alle Vernunftgründe dafür gesprochen, den Skandal zu vermeiden. So saß er denn grimm und greis auf einem Pulverfaß, auf einem feuerspeienden Berg, auf der höchsten Kuppe des mexikanischen Popokatepetls, stündlich gewärtig, mit Vatermördern, Schnupftabaksdose und seinem heiligen und gerechten Zorn in die Lüfte zu knallen. Allein er blieb, wo er war, nämlich in seinem Revolutionszimmer, tat sich Gewalt an und schluckte den ihm angetanen Ärger gesinnungstüchtig, wenn auch unter einem illustren Gefolge von himmelstürmenden Flüchen hinunter, von der Voraussetzung ausgehend: Besser ist besser, und Vorsicht ist noch immer die selbstloseste Patronin einer Glasservante gewesen. So schwieg denn auch der Herr Kirchenrendant aller Welt gegenüber, obgleich er nicht umhin konnte, eine fuchsteufelsmäßige Epistel an André zu schreiben, ihm die kategorische Bestellung des geistlichen Herrn brühwarm auf den Teller zu legen und Stina vor Stuhl und Schrein zu zitieren. Irgendwie mußte er sich doch Luft machen und das Herz erleichtern ... aber selbst diese Ventile brachten ihm nicht die erhoffte Erlösung.
André antwortete höflich, wenn auch äußerst kalt und befremdlich, und verfocht seinen eingenommenen Standpunkt mit der zähen Verstocktheit eines souveränen Kunsthistorikers; während Charlotte die ihr zugemessene Philippika stoischen Sinnes hinnahm, die Arme aufstemmte und ihn wie ein treuherziger Pudel anblinzelte. Dabei sagte sie ohne jede Erregung: »Merci, Mynheer, für gütigen Zuspruch, und Sie sollen auch vielmals bedankt sein.« Und dann legte sie los: er, der Herr Baron, habe Nöllecke nicht die nötige Antwort gegeben, habe sich verblüffen und ins Bockshorn jagen lassen, sonst hätte er wohl Mittel und Wege gefunden, die dumme Kirmesgeschichte weniger glaubhaft zu machen. Und wenn sie so alles bedächte, dann wäre es schon besser gewesen, sie hätte sich 'nen richtigen Advokaten genommen, so einen von den Assisen in Kleve, so 'nen dreimal durchgedrehten, einen mit 'nem lutherischen Predigerrock an und 'nem schwarzen Barett auf dem ›Koppe‹, dann ständen ihre eigenen Chancen ganz anders und sie besäße noch ihren Jungfernkranz und ihre reputierliche Ehre. Aber bei seinem Geseire sei alles von vornherein Hals über Kopf und in die Wicken gegangen. Und jetzt käme er noch und mache ihr Vorschriften wegen Herrn Türlütt. Er solle sich einmachen lassen, Herr Remmelmann ginge schließlich noch an, und wenn sie auch die Taube auf dem Dach nicht hätte kriegen können, so wäre sie doch mit 'nem Spatz in der Hand schon zufrieden. Im übrigen täte der Mann ihr leid bis ins Strumpfband hinein; denn er habe nicht den rechten Begriff von der Liebe, obgleich seine Angorakarnickels ihm täglich bewiesen, wie es gemacht werden müsse. Er solle sich schämen. Drum habe sie auch die ›Frau Apothekerin‹ in den Schornstein geschrieben und würde sich schon anderweitig behelfen. Aber die Anrempelei hier im Hause brauche sie sich nicht länger gefallen zu lassen. Das ginge ihr gegen den Strich und kränke sie höchlichst ... und mit einem Hofknicks spreitete sie ihre Rockschöße graziös auseinander und sagte: »Nochmals, Mynheer, ich bedanke mich vielmals, zieh' aber Leine und will mich in vierzehn Tagen verändern. Die rote Mamsell ist mir schon lange über gewesen. Feiern Sie Ihre Feste von jetzt an man proper alleine, und lassen Sie sich Ihre Revolutionsgänse man anderwärts braten. Ich für meine Person mache nach Wissel. Und damit, Herr Baron, will ich mir empfohlen haben für immer.«
Da stand nun der Herr Kirchenrendant mit seiner total aus dem Leim gegangenen Ermahnungsepistel und machte ein Gesicht, als wären Ostern und Pfingsten auf ein und denselben Sonntag gefallen. Aber was sollte er machen? Er konnte nichts ändern. Die Verhältnisse waren zu mächtig und zu delikater Natur, und so blieb ihm nichts weiter übrig, als sich über André zu ärgern, zu schweigen und Stina ziehen zu lassen.
Und Stina zog mit ihrem neuen Foulardkleid wieder nach Wissel, wo sie erzählte, eigentlich müsse sie jetzt in der Einhornapotheke sitzen und Frau Remmelmann heißen. Herr Remmelmann jedoch sei zu bockig gewesen und habe Glück und Gunst und seine ganze Liebe verkegelt. Der Tag des Gerichtes würde noch kommen. – Aber er kam nicht; denn die Menschen vergaßen, und alles, was wie eingangs gesagt, die denkwürdige Sitzung unter dem Vorsitz des geistlichen Herrn erbracht und in salomonischer Weisheit beigelegt hatte, war wie ein Armsündergrab ... so abseits lag es, so wenig in die Augen fiel es. Kein Hügel war da, kein Kränzlein schmückte es, kein Kreuzlein stand darauf. Nur der Wind fuhr darüber hin und verwuscherte alles.
*
Seit etlichen Tagen war Herr Jakob Bollig mit regem Eifer dabei, den neben der Sakristei gelegenen kapellenartigen Raum wohnlich einzurichten. Schränke wurden gerückt, die blinden Fenster gesäubert und die verstaubten Webereien der Spinnen aus den Ecken vertrieben. Vom Douwermannschen Hause kamen allerlei Gerätschaften und Utensilien herein, Gestelle und Arbeitstische, angefeuchteter Ton, Modellierwachs und Spachteln, Bohrer und Schnitzmesser, und als bald darauf ein lustiges Prasselfeuer die altmodischen Kacheln durchwärmte, war auch der beschädigte Schrein zugebracht und sachlich aufgestellt worden.
Fern den Dämmerungen und Schatten der Kirche stand das Altarwerk in heller Tagesbeleuchtung und offenbarte eine Fülle von Schönheit, wie nicht mehr zu schauen. Alle Einzelheiten waren deutlich erkennbar. Das nachgedunkelte Holz lebte, atmete und hatte Blut in seinen Masern und Fasern. Überall geschaute Natur und warmes, religiöses Empfinden! Kein Zuviel und Zuwenig! – Die ganze Skulptur vielmehr erdacht und aufgebaut von einem großzügigen Willen und durchgearbeitet mit der alles bezwingenden Kraft eines gottbegnadeten Künstlers, der es verstanden hatte, in packender Darstellung die Gruppen zu ordnen, in realistischer Treue die zufälligen Brüche und Falten wiederzugeben und die geheimsten Regungen eines tiefangelegten Gemütes schwingen zu lassen. Welche köstliche Naivität im Ausdruck und welche behagliche Breite im Vortrag! und dabei eine Monumentalität der äußern Wirkung, die ihresgleichen suchte unter den zeitgenössischen Plastiken. Zwei Ideen beherrschten das Ganze: die Person und die Würde und das geistige Martyrium der Jungfrau Maria, dargestellt in ergreifenden Szenen: die Weissagung des Simeon, die Flucht nach Ägypten, das Suchen und Finden des zwölfjährigen Knaben im Tempel, der kreuztragende Heiland, die Nagelung, die Kreuzabnahme und endlich die Grablegung des Herrn, alles umrahmt und umgittert von einem spielenden Maßwerk, das aussah, als hätten es Cherubim und Seraphim aus dem Himmelreich zur Erde herabgetragen.
So packend sich auch der Aufsatz in seiner Gesamtwirkung darbot, rein künstlerisch betrachtet, ließen die Einzelheiten der leider arg beschädigten Predella alles hinter sich, was der Meister im Hauptschrein niedergelegt hatte. Hier hatte das Schnitzmesser Wunder neben Wunder geschaffen. Ein krauser Wald von gotischen Stäben und Ästen, von Zweigen und Blättern schachtelte sich bunt durcheinander und entwuchs in einem mächtigen Wurzelstock den Lenden des Stammvaters Jesse, der, das Haupt auf die Linke gestützt, den Engelchören lauschte, die überall im Rankenwerk musizierten und jubilierten und mit den Worten des Evangeliums Matthäi also verkündeten: »Das ist das Buch von der Geburt Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugete Isaak. Isaak zeugete Jakob. Jakob zeugete Juda und seine Brüder.« – Und immer feierlicher hallten die seligen Stimmen und sangen: »Und Salma zeugete Boas von der Rahab. Boas zeugete Obed von der Ruth. Obed zeugete Jesse.« – Und die Zimbeln und Quinternen nahmen an Wohllaut zu, und es waren klingende Harfen dazwischen... und wieder ertönten die Zungen der Engel und riefen: »Und Jesse zeugete David, und David, der König, zeugete Salomo von dem Weib des Uria...« und war des Harfens und Frohlockens kein Ende, bis die Überirdischen zu vollen Akkorden ausholten und ihre verzückte Weise mit den Worten beschlossen: »Eliud zeugete Eleasar, Eleasar zeugete Matthan. Matthan zeugete Jakob. Aber Jakob zeugete Joseph, den Mann Mariä, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Christus ...« Und Jesse lächelte im Traum und freute sich, daß seinen Lenden entsprossen David und Christus, und er hob langsam die Augen und wunderte sich, daß die Dämmerung aufgehört und sich alles verändert hatte.
Herein grüßte ein klarer Tag in die gegurtete Halle, worin von nun an Johanna Douwermann schalten und walten sollte, um das schwer heimgesuchte Bildwerk ihres großen Ahnherrn wieder in alter Glorie erstehen zu lassen, obgleich ihr ums Herz war, als müsse sie niederbrechen unter der Wucht ihrer Ängste und Zweifel.
Es ging stark in den Advent hinein.
Wiederum hatte der Winter sein Regiment angetreten und die letzten mulmigen Novembertage zu Paaren getrieben. Er pfiff wie früher durch alle Schlüssellöcher, pinselte an den Fensterscheiben herum und gebot den armseligen Menschenkindern, sich abermals Stroh in die Holzschuhe zu stopfen und sich die warmen Lammfellmützen über die Ohren zu ziehen.
Sinter Klas war gewesen. Die Fürsorglichen in der kleinen Stadt rüsteten schon auf die kommende Weihnacht, die über dem Walde heraufdämmerte, ernst und feierlich, groß und erhaben wie eine wundersame und stille Legende. Und diese wundersame und stille Legende pilgerte über die einsame Berglehne, die die Gemarkung in weitem Bogen umkreiste, zeichnete die jungen Fichtenstämmchen aus und hing ihnen Eisglöckchen zwischen die dunkelgrünen Zweiglein, auf daß sie jetzt schon den Heiligen Christ einklingeln möchten; setzte sich hierauf hinter den warmen Ofen und legte gottergeben die Hände zusammen. Und da rappelten die Nüsse im Sack und verlangten nach ihrem Goldkamisol, während die Kinder ihre Stupsnäschen an die Scheiben drückten und in den Abend hinaussahen, wo das letzte Sonnenlicht auf den Dächern lag und alles mit einem rosigen Lichtschaum umkleidete. Ja, und sie nahm die niedliche Gesellschaft bei der Hand, schlenderte mit ihr durch die vereinsamten Straßen und zeigte auf die Spekulatius- und Lebkuchenmänner, die mit ihren Gaudaer Pfeifen gar gefährlich taten und dennoch einen so lieblichen Duft von sich gaben, daß die Kleinen wähnten, das ganze Himmelreich fiele über sie her mit Rosinen und Mandeln. Und bei einem Spielwarenhändler standen die Bleisoldaten in Reih und Glied, präsentierten und trommelten den Fahnenmarsch dazu. Dann sangen sie leise: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit ...«
Zwei Tage nach Sinter Klas tat Jakob Bollig einen tiefen Atemzug. Er war mit sich und seiner Leistung zufrieden, konnte es auch sein; denn neben seiner großen Verantwortlichkeit und Mühewaltung hatte er noch Zeit gefunden, seine dienstlichen Obliegenheiten zu versehen, Weihnachtskerzen zu ziehen und die geheimnisvolle Skulptur aus der Douwermannschen Wohnung in die neugeschaffene Arbeitsstätte zu bringen und so aufzustellen, daß das volle Tageslicht sie von allen Seiten umspielen konnte. Allerdings, was unter der Umhüllung sich barg, war für ihn schwer zu ermitteln, regte aber seine Neugierde derartig an, daß er für sein Leben gerne die Siegel erbrochen und die Verschnürung gelöst hätte. Er fühlte nur und tastete mit scheuen Fingern an dem Webwerk herum und kam schließlich zur Ansicht: etwas Hüllenloses stecke darunter und harre seiner Auferstehung entgegen ... eine jungfräuliche Brust – nackte Arme und Schultern – entblößte Hüften – ein Weib – eine heidnische Göttin ... und Herr Bollig fuhr sich über die Augen, glitt nochmals mit glücklicher Hand über den Bildstock und hatte Gedanken, die sich mit denen eines christkatholischen Küsters nur schwer vereinigen ließen. Und da erkannte er auch: der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Wir alle sind wie schwankende Rohre im Wind. Man soll seine Mitbrüder nicht mit Skorpionen züchtigen, wenn diese der Versuchung nicht zu widerstehen vermocht, den Schleier gehoben und mit dem Weibe gesündigt hatten, und wäre es selbst in einem blühenden Kornfeld geschehen. Und da tat er ein übriges und vergab seinen Brüdern, die da hießen Nöllecke Remmelmann und François Türlütt.
Diese Absolution verlieh ihm Tapferkeit und Ruhe, ließ die eigenen Begierden weniger strafbar erscheinen und machte ihn fähig, Johanna Douwermann aufzusuchen und ihr mitzuteilen, das Feld sei bestellt: sie könne ihre Arbeit beginnen.
Eine Viertelstunde später trat sie denn auch mit ihm in den für sie und ihr neues Wirken eigens eingerichteten Raum, im dunkeln Kleid, ein leichtes Tuch über ihre Flechtenkrone geworfen, hochaufgerichtet und mit der ganzen Herbe und Schönheit ihres jungfräulichen Leibes.
Beim Anblick des heiligen Schreines, der sich ihr heute in seiner ganzen Majestät, aber auch mit seinen geschlagenen Gliedern und tiefen Wunden unverhüllt darbot, erschauerte sie wie in Anwesenheit des allmächtigen Gottes und wähnte, durch ewigen Sonnenschein und den Glanz einer hohen Offenbarung zu schreiten, während Herr Bollig das Bildwerk mit seinem Zeigefinger umkreiste und sagte: »Wenn ich dat alles biseh, dann muß ich doch sage: Großartig, Fräulein Johanna! Ich für meine Person stehe wenigstens in schwere Biwunderung vor diese künstlerische Kuraktermasken un Bildcher, un wenn m'r zwei beide der Kölnische Männergesangverein vorstelle täten, da müßte m'r singe, ich der zweite Baß un Sie der erste Tinor: ›Drobe steht die Kapell‹ oder ›Wer hat dich, du schöner Wald‹ oder ›Dat is der Dag des Herrn‹, so bikömmlich is die Sach, so fein ausspikeliert un mit so 'ner seligen Gottesnäh drin, bat m'r bahl auf der Rücke falle künnte vor Freud. So! – un jetzt kommt einmal her, Fräulein Douwermann, un macht so mit die Hand ...« und er rückte seine gekrümmten Finger wie ein Perspektiv vor die Augen ... »denn da, wo die Patentaussich am nobelste scheint, da hat nu so 'ne ungebilte un unbisonnene Hanack von Meßjung en Malörunglückelche angestif, dat et zum Jammere is un 'ne einzige Gimeinheit bideutet. Un da sagen ich, i zum Tackerent sagen ich: Hochverdienten Herr Meister, bischeidenen Herr Meister, Sie könne sich beruhige, denn Fräulein Johanna wird die Sach schon wieder in die richtige Feßstimmung bringe un die Postementche aufs frische vergolde un mit Bildcher bistelle. So wat nennt m'r 'ne Schutzengel habe, un der Schutzengel sind Sie, Fräulein Johanna, un drum sagen ich alla bunnöhr un empfehlen mich gütigs.«
Sie hatte von alledem keine Sterbenssilbe vernommen, blieb in Andacht und Feier versunken und hörte auch nicht, wie sich der Küster auf derben Schuhen und doch wie auf leisen Zehenspitzen empfahl, den Vorhang zur Sakristei geräuschlos öffnete und wieder zurückschob.
Ihre Blicke taten sich auf. Mit einer Art religiöser Scheu betrachtete sie die Geheimnisse der Sieben Schmerzen Maria, versetzte sie sich in die Tage hinein, wo Meister Heinrich dieses Mirakel erdacht, entworfen und ausgeführt hatte. Ein Menschenleben voll heroischer Arbeit! Ein glückliches Schöpfen! – und sie mußte selbst zu ihm gekommen sein, sie, die Mutter des Herrn, die Schmerzensreiche, die Gottesgebärerin – mußte ihm gesagt und erzählt haben: »Das litt und erduldete ich, und das fuhr wie ein siebenfältiges Schwert durch meine geängstigte Seele. O, du Berg des Ärgernisses, o, ihr stillen Gärten von Gethsemane, was saht ihr nicht alles! Und du, Golgatha, Schädelstätte von Jeruschalajim, rot von Blut und umdunkelt von den Floren des Himmels – wie halltest du wider von dem Eintreiben der Nägel, dem Ächzen des Herrn und dem Stampfen des Kreuzes, als sie es in die tiefe Grube hineinstießen! – und dann unter Scherben und zerbrochenen Steinen: ein ewiges Leuchten und glorreiches Auferstehen ...« Das hatte ihm die Mutter Gottes alles erzählt, sie, die Dulderin, die Mittlerin, die Fürsprecherin ... und das hatte er alles mit heißer Seele erfaßt und mit heißer Seele wiedergegeben ... Und sie glaubte, ihn singen zu hören bei seiner Arbeit, ihn, den Giganten, Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut ... Ja, sie hörte ihn singen, hörte ihn singen, hörte ihn singen – die Psalmen Davids, Marienlieder und solche Gesänge, die einen tapfern Schritt unter sich hatten; denn Meister Heinrich war auch Fahnenträger bei der Sankt Lukasgilde gewesen.
Ja, sie hörte ihn singen ... und nun sollte sie in seine Spuren hinein, sollte sein Werk vor dem Verderben retten, sollte in seinem Geiste die Pieta schaffen, die Schmerzensmutter, mit dem Leichnam des Herrn, mit dem Leib ihres göttlichen Sohnes im Schoße ... dort für das Mittelfeld, für die verwaiste Nische des Schreines ...
»Herr, mache mich würdig!«
In tiefster Bedrängnis war sie in die Knie gesunken.
Sie breitete die Arme.
Ihre Stirne berührte den Boden. Ein Beben lief über sie fort. Etwas ganz Neues, Fremdes und doch etwas Ureignes stieg in ihr auf, begnadete sie und machte sie glücklich. Sie fühlte sich eins mit ihm. Seine machtvolle Gestaltungskraft, sein kindliches, schuldloses Denken, seine Seufzer und Freuden – alles das gehörte auch ihr, war ein Vermächtnis von ihm und hatte in dieser Stunde den Weg vom Herzen in die bildenden Hände gefunden. Ja, sie war seiner würdig geworden und sie hungerte danach, das Erbe anzutreten und seiner teilhaftig zu werden. Sie hungerte, hungerte ... und nun ...
»Und nun,« knirschte sie erregt vor sich hin und hob die Stirne vom Boden, »und nun will einer kommen und sagen: Deine Kunst hat nichts mit der Mystik des gotischen Dunkels gemeinsam, hat keine Berührung mit den Meistern, zu denen Heinrich Douwermann zählte. Sie will ihre Opferstätte für sich, eine Opferstätte des Lichts, eine Stätte, die die Renaissancemenschen aufsuchten, um an ihren Stufen zu sündigen ... Menschen, die ein Savonarola verfluchte, heidnische Menschen, die den Grundsatz aufstellten: Das höchste Gut liegt in der ungebundenen Freiheit, und die dafür lebten und starben ... Menschen« – und ihre Stimme wuchs, und ein erregtes Atmen erschütterte ihren Leib – »Menschen, die da verkündeten: Lasset die Toren nur reden und das Fleisch sich kasteien – wir aber, wir flüchten uns in die goldenen Säulengänge von Baalbeck und beten das Weib an und wollen nackt sein in Gedanken und Werken«.
Vom Entsetzen gepackt, stieß sie einen heisern Schrei aus, erhob sich und griff nach dem eisernen Schlegel, der auf der Werkbank bei Spachteln und Schnitzmessern ruhte. Mit ihm und ihn zum Schlage gehoben, trat sie mit ekstatisch glänzenden Augen und mit fliegender Brust vor ihr eigenes Bildwerk.
Sie lachte hell auf, und durch dieses Lachen hindurch rief sie mit lauter Stimme: »Und da steht das Schaustück, das ich formte nach dem Bild dieser Menschen – das Weib, die Istar von Arbela, die Melitta von Babylon, die Venus von Paphos ... herunter mit dir! Werde zu Staub – du!«
Sie beugte sich rücklings. Ihr Leib straffte sich und entwickelte die ganze Schönheit ihrer hehren Formen.
»Im Namen der allerseligsten Jungfrau, der Mutter der Schmerzen ...!«
Ihre Blicke weiteten sich wie unter dem Einfluß eines himmlischen Gesichtes, einer göttlichen Botschaft.
Der Schlag sollte fallen, sollte den heidnischen Bildstock zerschmettern.
Langsam sank der drohende Schlegel herunter, entglitt ihren Händen und klirrte zu Boden.
Sie wandte das Haupt.
Petrikettenfeier ten Hompel nickte ihr zu.
Offenbar war er Zeuge des ganzen Vorgangs gewesen, hatte alles gesehen und alles gehört und war ihrer Wandlung teilhaftig geworden.
Bewegt trat er näher und nahm ihre Hände.
»Johanna, man soll nicht zerstören, was der Geist hohes Mutes ersonnen; denn im Vergleich zu dem, was die christliche Kunst uns gebietet zu tun, wird das Geschaffene uns den Weg zur Wahrheit erleichtern und uns gefügiger machen ...« und mit halbfrohem Lächeln und so, wie er mit ihr gesprochen hatte, als sie noch die Christenlehre besuchte, sagte er weiter: »Der Weg ist hart und dornig, und die Strecke ist weit, die sie zu pilgern hat; aber einmal kommt sie doch – die Erkenntnis, und ich freue mich um deinetwillen und unsertwillen, daß es also geschehen ist. Und was ich ersehnte, hat der Herr uns gesendet. Dir ist es gelungen, dein Herz über die schwerste Stunde deines Lebens zu bringen. Damit ist alles gewonnen. Fröhliche Arbeit, Johanna! und ich hoffe zu Gott: schon morgen wird der selige Heinrich Douwermann bei dir sein und dich leiten und führen. Und dann noch, Johanna ... dein Sinn ist geläutert, und aus seiner Reinheit heraus wird es dir ein leichtes werden, einen andern glücklich zu machen und dir selber ein grünes Kränzlein um die Schläfen zu legen.« Und der geistliche Herr nahm ihr Antlitz zwischen seine reinen, schuldlosen Hände und gab ihr einen Kuß auf die Stirne. –
Als sie bald darauf, ganz ergriffen und durchleuchtet von opferwilliger Liebe, über die Schwelle des elterlichen Hauses trat, fand sie Dirk Vogels bei ihrem Vater.
Sie trat auf ihn zu, gab ihm die Hand und lehnte ihr Haupt an seine hämmernde Brust. Ihre Augenlider hoben sich langsam.
»Dirk ...!« sagte sie leise.
Das war alles so gütig und hoffnungsfreudig dargebracht, als wäre sie nie durch eine endlose Öde von Trübsal und Zweifeln gegangen.
»Jesus ...!« sagte der Alte und breitete segnend die Arme. Denn nun fühlte er: sein Kind hatte ihm den Frieden des Hauses wiedergegeben. – Zwei Stunden später hellten die Fenster am Kirchenarchiv auf.
Der lichte Schein stand bis tief in den Abend hinein über den Häusern, und solche, die den Schlaf nicht finden kannten und in die sternklare Nacht hinaussahen, mochten einen Schatten bemerken, der sich emsig zwischen den hohen Regalen und Schränken bewegte.
Dirk Vogels hatte die Welt, sich selber, die Zeit und alles das, was ihn aufs tiefste beseelte, über seiner Arbeit vergessen. Sogar die kritische und nichtsnutzige Betrachtung des Kunsthistorikers hatte er nur flüchtig gelesen, darüber gelächelt und dann das elende Pamphlet achtlos beiseite geworfen.
Berge von Urkunden, Manuskripten und Akten türmten sich neben ihm auf, wurden gesichtet, registriert und auf die Gestelle gehoben. Andere kamen an die Reihe und nahmen den nämlichen Weg. Die Stunden rannen ihm unter den Händen. Mitternacht war schon lange vorüber. Das Licht der Lampe begann trüber zu brennen und mahnte daran, Ruhe zu geben und das Tagewerk für heute beschließen zu wollen. Da geschah es ...
Zum letzten Male griff er zu und entnahm einer verlorenen Ecke ein Bündel vergilbter Papiere, worunter eine kleine Eichenlade sich barg, deren Deckel, als er sie aufhob, aus seinen Angeln gerissen wurde. Auch hier wieder ein Liber pastoralis unter den Schriften, die die Schublade enthielt, verfaßt und niedergelegt von Matthias Holstegen, Bakkalaurus der Theologie und Pfarrherr dahier. Nichts von Bedeutung ... aber da: ein unscheinbares Bändchen, in Pergament geheftet und mit morscher Kordel umschnürt, entnahm er dem Wust von Provisorenrechnungen und Verzeichnissen Kalkarer Stiftsherren und Wohltäter und fand gleich auf der ersten Seite in steilen Schriftzeichen also geschrieben: »Sothanes Büchlein wurde mir Anno Domini 1598 die Marie Magdalena von dem fürsichtigen, wohlehrbaren und gottesfürchtigen Herrn Joris Douwermann, Magister der freien Künste, Schöffe und Ratsherr hiesiger Stadtgemeinde, zu dem Behuf übergeben, solches vor den drohenden spanisch-niederländischen Wirren wohl zu bergen und in den Schutz der Kirche zu stellen, bis sich die Furie verlaufen und wieder Eintracht im Lande. Dieses bescheinigt: Matthias Holstegen, Pfarrer.«
Und weiter ...
Er glaubte, das Himmelreich käme herunter mit seinen Myriaden von Funken und seinem heiligen Sternenfeuer – so licht war es plötzlich vor seinen trunkenen Blicken, mit einem so gottesfreudigen, himmelheiligen Schall schienen über ihm alle Glocken zu läuten ...
Er hatte gefunden.
Dann noch ein scheues Zögern und ein heimliches Auflachen, und er las mit zerdrückter, aber glücklicher Stimme: » Memento, meine Lebens- und Leidensgeschichte, unter Berücksichtigung meines Erden- und Künstlerwallens, so ich, Heinrich Douwermann, Bildschnitzer und Fähnderich der Sankt Lukasgilde dahier, mit Gottes gnädiger und geduldsamer Fürsorg eigenhändig verfaßte, bis über den schmerzlichen Punkt heraus, wo mir meine einzige und ehelich geborene Tochter Plektrudis dahinstarb und durch des Herrn unerforschlichen Willen ihr junges Leben auf grausame Weise dahingehen mußte. So geschrieben und gewächsnet unter Gottes Zeugschaft im Jahre des Heiles 1523 und kurz nach Vollendung des Schreines zu den Sieben Schmerzen Mariä.«
Und ferner ... diesem war als Geleitwort noch mit nadelfeiner Schrift das Nachstehende beigegeben: »Und siehe: ich trat an den Sand des Meeres und sah ein Tier aus dem Wasser steigen; das hatte sieben Häupter und zehn Hörner; und auf seinen Hörnern zehn Kronen, und auf seinen Häuptern die Namen der Lästerung. Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund; aber seine tödliche Wunde ward heil, und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tieres. Und sie beteten es an und sprachen: Wer ist dem Tiere gleichwertig? Wer kann mit ihm Krieg führen? Und ihm ward gegeben zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden. Und ihm ward Macht über alle Geschlechter verliehen. – Ich aber sage: noch schlimmer denn dieses entsetzliche Tier ist das Weib. Ihr sollt es erfahren. – Der aber dieses niederlegte – wo ist er geblieben? Wo ist er geblieben? – Mortuus est! Mortuus est!«
In den Augen Dirk Vogels war ein träumendes Rückwärtsschauen.
Was da alles noch stand und werden sollte! Er wagte kaum Atem zu holen, so groß und hehr und feierlich war ihm diese Stunde geworden ... und sprach da nicht jemand? Ja, er hörte es deutlich; es war die ruhige und seelenvolle Stimme des Herrn Sybertus von Ryswick, des herzoglich klevischen Rates und Propstes der Kollegiatkirche zu Wissel.
»Ja, ja, mein Lieber,« sagte Herr Sybertus von Ryswick, »so Ihr es lesen wollt, junger Magister, wird es Euch zum Segen gereichen ...« und da barg er den Fund mit zitternden Händen, drehte das Licht ab und ging sinnend nach Hause.