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Der Dechant Petrikettenfeier ten Hampel, ein Mann in den siebziger Jahren, stand vor dem Altar der Sieben Schmerzen Maria und sah zu, wie etliche Zimmergesellen dabei waren, die Predella von dem Hauptschrein zu lösen.

Kopfschüttelnd verfolgte der geistliche Herr das geschäftige Treiben, ermahnte zur Vorsicht und schien ängstlich bemüht, jede Störung der Arbeit so fern wie möglich zu halten. Sein Herz blutete. Wie war diese Beschädigung am Stamme Jesse nur möglich gewesen? Jahrhunderte hindurch hatte die barmherzige Hand des Ewigen gesorgt und gewaltet, waren die Greuel und Wirren des spanisch-niederländischen Krieges an diesem Mirakel des Schnitzmessers spurlos vorübergegangen, hatten die Trommeln des Generals Rabenhaupt vergeblich gegen die Pforten der Sankt Nikolaikirche gepoltert, und da mit einem Male und so aus völlig heiterm Himmel herunter war ein Tölpel von Mesner gekommen, hatte zugepackt und einen der schweren, gotischen Messingleuchter, die das Tabernakel flankierten, unbarmherzig gegen das köstliche Maß- und Rankenwerk der Predella gestolpert ... und nun grinste das Unglück aus dem Altarschrein heraus und krampfte das kunstverständige Herz des ehrwürdigen Herrn schmerzlich zusammen. Hilfe tat not, und es bedurfte einer geschickten Hand, den Schaden zu heben und das Werk erneut in seiner jungfräulichen Makellosigkeit erstehen zu lassen. Herrgott, dieses Meistergebilde! – eine Pilgerschaft der Seele, ein Sehnen und Suchen und ein Verkörpern unsagbaren Leids aus spätgotischen Formen heraus ...! – Nie wohl hatte ein Sterblicher Tieferes und Sinnigeres geschaffen. In reizvollen Motiven, umrankt von Drei- und Vierpässen und architektonischem Maßwerk, reihte er die Legenden neben- und übereinander, hatte er es verstanden, seine Kunst in den Dienst der Schmerzensreichen und des Allerhöchsten zu stellen. Wunder neben Wunder! Wie ein weltverlorenes Harfenklingen, wie ein verhaltenes Schluchzen und Weinen tönte es aus dem feingegliederten Aufbau, wie ein Harfenspiel am See Genezareth, wo der Flachs rot blüht und weiße Lilien die sanftgewellten Hügellehnen bedecken, wie ein Jammern und Seufzen auf Golgatha, als der Welterlöser sein Haupt neigte und starb, der Himmel sich verfinsterte und der Vorhang im Tempel mitten entzweiriß.

Und der Dechant Petrikettenfeier ten Hompel, Ehrendomherr an der Kathedralkirche zu Münster, vernahm dieses Klingen und Schluchzen, schüttelte immer wieder den feinen, eisgrauen Kopf und wurde nicht müde, die subtile Arbeit zu fördern und mit seinem goldbeknopften Bambus vielsagende Zeichen zu geben.

Nachdem der schadhafte Untersatz auf die Mensa gerückt war und sich die Gesellen verschnauften, winkte der kleine, lebhafte Herr einen grobknochigen, ganz in tiefstes Schwarz gekleideten Mann herbei, der augenscheinlich die Arbeit geleitet hatte und so würdig und feierlich aussah wie der Tag des Herrn oder wie das Antlitz der heiligen Apollonia aus Alexandrien, wenn sie einen kranken Zahn besprach und durch Auflegung ihrer Hände die Schmerzen hinwegnahm.

Es war der Küster Jakob Bollig, ein Kerl, wie geschaffen, Bäume auszuheben, Dächer abzutragen und Steine zu wälzen. Unter seinen klobigen Fäusten, so schien es, mußten die heiligen Gefäße zerbrechen, und doch arbeiteten sie wie weiche, zierliche Frauenhände, und seine breiten Füße glitten dabei so sacht und geräuschlos über die harten Kirchenfliesen, als wenn sie über Samtdecken und Eiderdaunen gingen. Der Mann war in seiner äußern Erscheinung voller Gegensätze: ungelenk und doch voller Bewegung, ein kolleriger Puter und doch ein sanftmütiger Kapaun, und in dem brutal gesunden, jovialen und glattrasierten Gesicht lagen die verwaschenen Augen ohne Hoffnung und Sehnsucht und muteten an wie die trüben Unschlittlichtchen, die in einer Totenkapelle brennen. Die Stadt der heiligen Dreikönige und in ihr wieder die Gereonswallstraße konnten sich rühmen, ihn als den Erstgeborenen braver Schusterleute gesehen zu haben. Nebenan wohnte Ohm Jakob. Und dieser wurde sein Pate. Ohm Jakob trug gesteinte Ringe an den Weißwurstfingern und über dem soliden Bäuchlein eine schwergoldene Kette, stark genug, ein Mülheimer Bötchen vor Anker zu legen. Er war der Inhaber und Leiter eines vielbesuchten Hauses mit geblendeten Fenstern und einer roten Laterne, eines Hauses mit weißgespreiteten Betten, Marmortischen und hohen Spiegeln. Und in diesem Hause, das ein aufdringlicher Duft nach Heliotrop und Parmaveilchen durchwölkte, passierten eigentümliche Dinge, obgleich Ohm Jakob nie das Hochamt versäumte, klerikal wählte und dem Staate gab, was dem Staate gebührte ... eigentümliche Dinge! – und ein Herr im fettigen, abgelebten Frack, mit einer welken Nelke im Knopfloch, saß am Klavier und machte Musik und Stimmung dazu. Und der kleine Jakob war öfters auf Besuch bei seinem frommen Ohm und den vornehmen Damen, und sah das alles und durchlebte das alles; aber nach Kinderart und in schuldloser Weise. Und wenn er dann nach Hause kam, dann sagte die Mutter: »Jaköbche, nu halt aber freundlichst die Luff an, sons kümmt der Herr Kommissar hinter die fiese Geschichte, un dann könnte et, wie m'r eso sag, zu 'nem kleine Malörunglückelche komme. Un dat will m'r nich habe. Im übrige hat et nix ze bideute.« Und da hielt der kleine Jakob die Luft an, ließ sich von den jungen Damen mit Pralinés füttern und schloß eine schöne Freundschaft mit dem fettigen, abgelebten Frack und der welken Nelke im Knopfloch. Als er aber in die Jahre gekommen, las er in der Handpostille seines Vaters die Stelle: »Und Babel, die Unzucht, reitet auf einem rosinfarbigen Tier und ist lieblich und schön von Leibesgestalt und trägt einen goldenen Ring in der Nase. Von ihrem Munde jedoch geht ein giftiger Hauch aus, und er verpestet alle Geschlechter auf Erden.« Da gedachte Jakob ein Diener und Streiter des Herrn zu werden und mit flammendem Wort gegen das verlockende Weib auf dem rosinfarbenen Tiere zu Felde zu ziehen. Und der kleine Bekenner studierte. Er kam bis Untersekunda. Ohm Jakob hatte ihm bisher diese Wohltat verstattet, hatte gesorgt und gegeben, nachdem er durch seinen regen Betrieb sich ein erkleckliches Vermögen erspart und sich schließlich zur Ruhe gesetzt hatte. In grünen Plüschpantoffeln und einem Schlafrock von braunem Velvet hoffte er einen stillen Gottesfrieden und einen gesegneten Lebensabend zu finden. Er hatte sich redlich geplagt und durfte daher auch gewisse Ansprüche machen. Doch da starb er, nachdem er sein ganzes liegendes und bewegliches Eigen der alleinseligmachenden Kirche und dem Verein ›Zur Hebung der Sittlichkeit‹ vermacht, aber total vergessen hatte, seinen Neffen in die Heerohmestrümpfe und die geistlichen Schnallenschuhe schlüpfen zu lassen. »Siehst du nu, Jaköbche,« sagte die Mutter, »da habe mir der Hummersalat. Et schadet dem Käppesje ja nix, aber wofür der Unsinn! Un deshalb, Jaköbche: er war doch 'ne fiese Möpp, deine Ohm Jakob ...« und da blieb dem Enttäuschten nichts anders übrig, als den geistlichen Herrn schießen zu lassen, sich auf sich selbst zu besinnen und sich anderweitig nützlich zu machen. Aber Weihrauch, Klingelbeutelgezwitscher und Maiandachten, die mußte er haben; ohne sie war ihm das Leben nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle, und so blieb er denn im kirchlichen Fahrwasser, messedienerte sich durch die Jugendjahre hindurch, machte sich mit den Pflichten und Obliegenheiten eines Ministranten und Kerzenziehers vertraut, um schließlich die Würde eines Küsters auf seine frommen Schultern zu laden; erst im Kölner Sprengel, wo die Menschen spitze Gesichter haben und die Glocken nur mit einem mageren Gebimmel ihre Stimmen erheben, und dann am Niederrhein, im Kirchspiel von Sankt Nikolai, in der klevischen Gegend. Hier zwischen Weiden und Dämmen, wo im Juni das Grasmeer sich auf- und niederwellte wie eine mannshohe Dünung und die Glockentöne wie fette Wachteln und Graugänse über die Niederung ruderten, fühlte er sich wie die Ortolane im Weizen, lobte Gott und diente dem Herrn in getragener Einfalt.

Langsam trat er von den Altarstufen herunter. Trotz der empfindlichen Kälte, die die Kirchenhallen durchwehte, schritt er wie durch die Wärme einer behaglichen Sonne oder eines wohligen Herdfeuers, zufrieden und glücklich, und nur die verdämmerten Augen glommen noch immer wie die trüben Unschlittlichtchen in einer Totenkapelle.

»Herr Bollig,« meinte der Dechant, nachdem er zu verschiedenen Malen rückwärts geschaut und seine Blicke auf den Eingang der Kirche gerichtet hatte, »Sie haben doch den Herrn Türlütt verständigt?«

Herr Bollig lächelte.

»Gewiß, Herr Dechant,« sagte er ruhig.

»Und den Herrn Kirchenrendanten?«

»Auch der is bisorg.«

»Dann begreife ich nicht, weshalb sie dem Ansuchen bis jetzt keine Folge gegeben haben.«

»Hab' ich auch als gedach. Aber et jaloppiert sich so schnell nich. Un denn die Kälte; die is Giff für die Herren. Da bleib weiter nix übrig: mir müsse warte, Herr Dechant. Aber ich denken doch: gleich müsse sie komme.«

Herr Jakob Bollig hatte richtig geweissagt.

Die beiden erschienen, und Herr Türlütt, der etwas fuselselig heranpendelte, schmunzelte teils verlegen, teils gütig: »Pardon, Herr Dechant! Man muß die Umstände schon in die richtige Beobachtung nehmen. Beispielsmäßig das Wetter, 'ne gewiße Unpäßlichkeit und dann noch die Arbeit.«

»Stimmt,« pflichtete ihm der Kirchenrendant bei und schliff gleichzeitig mit Mittel- und Zeigefinger zwischen Hals und Vatermörder hindurch, »man hat seine Bequemlichkeit nötig – hat für seinen Hausstand zu sorgen – und gehört auch nicht mehr zu den Jüngsten im Lande. Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Kurz, man hat schon seine täglichen Miesepetereien zu tragen.«

»Auch seine Pflichten,« sagte der geistliche Herr mit etwas gehobener Stimme, »und deshalb bat ich Sie her, meine Herren, um mit mir Rats zu pflegen und die dem Altar zu den Sieben Schmerzen Mariä durch ein unseliges Mißgeschick zugefügten Schäden bald zu beheben.«

»So, so! – bald zu beheben,« meinte der Kirchenrendant und wiegte den Marabukopf bedenklich auf den mageren Schultern. »Unglaublicher Zustand – unglaublich! Hörte bereits davon – aber nur wenig. War für einige Tage in Kleve – hatte Geschäfte – dringlich – sehr dringlich. Und da muß so was vorkommen! Wird Geld kosten – viel Geld... und ich möchte nur wissen: wie konnte eine derartige tiefbeklagenswerte Sache passieren?«

»Wie eben ein Unglück geschieht,« versetzte der Dechant. »Aber ein solches läßt sich nicht rechten und richten. Wir müssen halt die Verhältnisse nehmen, wie sie nun einmal liegen. Eine ungeschickte Hand brachte den Leuchter zu Fall, und damit hat die Predella, leider sei es geklagt, schweren Schaden genommen.«

»Predella, Predella!« ereiferte sich Anatole von Klotz, machte sich lang und streckte die Hand, mit der er den fuchsigen Zylinder hielt, so energisch von sich, daß die Manschette wieder davon fliegen wollte. »Nicht zu begreifen, fast eine Roheit, diesen heiligen Schrein so zu mißhandeln. Herrgott, diese menschliche Dummheit, um mich keines stärkern Wortes zu bedienen! Distanz, meine Herren... ich sehe mit leiblichen Augen und höre mit leiblichen Ohren: das weint und wimmert ja aus dem köstlichen Schnitzwerk. Herr ...!« und bolzengerade und drohend stand er plötzlich dem ahnungslosen Küster gegenüber. Die scharfen Lichter in seinen kreisrunden Augen begannen unheimlich aufzuleuchten. »Wo soll ich das hintun? Da müßte Herr Samson mit seiner Guillotine dahinter.«

»Beispielsmäßig,« konstatierte Herr Türlütt.

»François. ich bitte um Ruhe.«

»Ich meine nur, Schwager.«

»Herr ...!« und wieder nahm er den Küster aufs Korn. »Ich fordere Rechenschaft von Ihnen. Oder« – und seine Stimme nahm einen schartigen Ton an – »sind Sie vielleicht selber das unglückselige Karnickel gewesen?«

Auch Herr Türlütt trat näher.

»Beispielsmäßig. Herr Bollig?«

Die Zimmergesellen grinsten.

Der Küster wäre vor Entsetzen fast auf den Nacken geschlagen. Die Finger des aus seiner Seelenruhe gekommenen Mannes krümmten sich in den schwarzwollenen Handschuhen. Er streifte diese von den Fäusten herunter.

»Herr, diese Bimerkung brauchen ich mir nich gefallen ze lasse! Nur gut, dat ich hier der Küster als Standesperson bin un nich der Herr Bollig, sons ... Wat meinen Sie wohl, wat ich dann täte? hier meine fünf Fingere künnten Ihr Ridaxionspültche verarbeite, dat Sie nich mehr wisse sollte, wo sich Ihr Kamesol noch bifindet.«

»Ich bitte, Herr Bollig...«

Der Dechant legte sich ins Mittel und versuchte, die etwas kritische und außer Kurs geratene Stimmung wieder in stille Wasser zu leiten.

Endlich gelang's ihm.

»Meine Herren, warum diese unnütze Debatte? Sie fördert in keiner Weise und schafft nur Gegensätze. Also lassen wir das. Die Erregung der Herren kann ich begreifen, und es ist schlimm und bitter genug, daß ein derartiges Mißgeschick über uns hereinbrechen konnte. Seien Sie überzeugt, es wäre mir lieber gewesen, Sie in einer freudigen Angelegenheit bei mir zu sehen. Aber ich betone nochmals: keine nachweisbare Verschuldung liegt vor. Nur die unachtsame Hand eines Ministranten tat uns diesen seelischen Schmerz an und verstümmelte ein christliches Kunstwerk in bedenklicher Weise. Bei dieser Gelegenheit möchte ich ferner der Erwägung anheimstellen, ob es nicht angezeigt wäre, das Mittelfeld des Schreines mit einem würdigen Gnadenbilde zu schmücken. Das jetzt vorhandene ist lediglich ein schwacher Ersatz für die in dunkeln und traurigen Zeiten auf unaufgeklärte Weise abhanden gekommene Pieta. Doch dieses nur nebenher, meine Herren. – Vor allen Dingen liegt es uns ob, den unermeßlichen Schaden baldmöglichst zu beheben und die Arbeit eines Meisters aus verklungenen Tagen wieder in alter Glorie und Reinheit erstehen zu lassen.«

»Na denn,« sagte Anatole von Klotz, wandte sich an den noch immer mißgestimmten und schmollenden Küster und hielt ihm die Hand hin. »Nichts für ungut, Herr Bollig.«

»Merci,« versetzte dieser nach einigem Zögern, räusperte sich und legte seine seifenschaumkalten, friseurglitschigen Finger in die des Kirchenrendanten.

Die wechselseitigen Beziehungen schienen wieder hergestellt und alle Mißhelligkeiten behoben zu sein, als Herr Türlütt, noch ganz unter dem Bann der geistlichen Worte stehend und sichtlich von den Geisterlein des genossenen Grogs beeinflußt, in eine seltsame Bewegung geriet. Sie wurde äolsharfenweich und lau und erinnerte an das Säuseln der Trauerweiden, die sinnig und lieb das Grab seiner allzufrüh heimgegangenen Gattin, der ehrsamen Célestine, geborenen von Klotz, umstanden. Erschüttert suchte er in die Nähe der Predella zu kommen. Gott, was sah er nicht alles! Diese Verwüstung! Die Worte des geistlichen Herrn traten ihm erneut vor die Seele. Das waren sinnige Worte, ergreifende Worte, und alle trugen ein Dornenkränzlein um die hämmernden Schläfen. Herr Türlütt fühlte die getragene Weihe der jetzigen Stunde. Rosenfarbige, aromatische Punsch- und Grogdämpfe umgaukelten ihn.

»Nein, dieser Meister aus verklungenen Tagen!« legte er los. »Wenn er das sähe, er müßte sich im Grabe noch umdrehen. Nun steht der Verstorbene vor den Trümmern seiner gemordeten Lebensaufgabe, seines unter Seufzern geschaffenen Werkes. Eitelkeit über Eitelkeit, alles ist eitel! O diese Menschen...!« – Und dann ward er gerührt, zog sein Schnupftuch und weinte still vor sich hin; denn er sah sich vor die Gewissensfrage gestellt, ob er nicht selbst einen großen Teil der Schuld hätte auf sich nehmen müssen. Er war doch der Präsident der Bruderschaft Unserer Lieben Frau und somit auch der Pfleger des Altars zu den Sieben Schmerzen Mariä. Hatte er in dieser Hinsicht überhaupt seine Pflicht getan? Hätte er nicht besser aufpassen müssen? Ja, das hätte er, das wäre er sich selber und dem ›Meister aus verklungenen Tagen‹ schuldig gewesen. Und jetzt stand er hier, gewissermaßen als ein verlorener Mensch, als ein Tempelschänder und ein großer, wenn auch reuiger Sünder.

Immer nachhaltiger flossen die Tränen, immer lustiger griemelten die Zimmer- und Schreinergesellen.

Der Dechant trat auf den Trostlosen zu und führte ihn seitwärts.

»Herr Türlütt,« sagte er schmunzelnd, »darf ich mir eine unverbindliche Frage erlauben?«

Der abgebrochene, aus dem Leim gegangene Riese nickte ihm zu, freundlich und schmerzlich. »Ja, Sie dürfen es, Sie dürfen fragen, Hochwürden. Ich bitte darum. O! – es ist für mich eine auserwählte Bekömmnis.«

Gütig und wohlwollend tastete er nach der Hand des geistlichen Herrn.

»Ja, fragen Sie nur, mein lieber Herr Dechant.«

»Herr Türlütt,« sagte dieser mit einem gewissen schalkhaften Anflug, »draußen herrscht eine barbarische Kälte, und um diese zu bannen, haben Sie vielleicht etwas zu tiefgründig mit dem Gläschen geäugelt? Hand aufs Herz, mein lieber Herr Türlütt!«

»I Gott bewahre, und nichts für ungut, Herr Dechant! Aber wer andern in der Nase herumpopelt, hat selber was drin.«

Das gutmütige Antilopengesicht lächelte selig.

»Gott sei Dank, nein! – bei Ihnen aber, Herr Türlütt ...«

»Keine Spur von Idee! Wie werde ich denn, mein hochverehrter Herr Dechant l Agape, satanas! Alkohol ist Gift für die Menschheit und verdirbt den Charakter. Ich für meine Person genehmige nie einen Tropfen,« und feierlich hob er die Schwurfinger aufwärts, »so wahr mir Gott helfe, so wahr die Mutter Gottes von Kevelaer ... Aber es gibt Ausnahmen, Hochwürden. Beispielsmäßig, um meinem Schwager Gesellschaft zu leisten ...«

»François...!«

Herr Anatole drohte verwarnend mit dem Regenschirm und den verwahrlosten Fischbeinstäben.

»Ich meine nur, Schwager ... beispielsmäßig, um uns für die lange Kirchensitzung zu stärken. Ach Gott, Herr Dechant! – dieser traurige Anblick und dieser ›Meister aus verklungenen Tagen‹! Diese menschliche Seele! Dieser Künstler, um sich so nach seinem gottwohlgefälligen Tode zertöppert zu sehen! Indessen, Herr Dechant,« und der prächtige Mann arbeitete sich wieder aus dem Pomeranzen- und Fuselnebel heraus und machte eine pompöse Handbewegung, »indessen, Herr Dechant, ich bin kein begüterter Mann, habe jedoch ein Herz und eine Seele von Gold und kann auch über etliche Papiere verfügen ... und wenn Sie gestatten,« und seine Stimme wurde schön und voll und tönte wie eine Domorgel am Tag der Verheißung, »im Angedenken an den ›Meister aus verklungenen Tagen‹ – ich trage die Kosten.«

Dabei hatte er die Hände des vor ihm Stehenden ergriffen und schüttelte sie so gönnerhaft und treuherzig, als müsse er hierdurch eine edle Verpflichtung eingehen, eine Verpflichtung für immer, von jetzt an bis in alle Ewigkeit – Amen.

Anatole von Klotz blies sich den Frost von den knochigen Händen und sah seinen Schwager an, als sei dieser wirbelsinnig geworden und unter die Verschwender gegangen. »Mensch, du,« rief er ihn an, »du bist wohl mit den Silbergruben der Kordilleren verschwägert?!« Dann aber, als er ihn so offen und ehrlich dastehn sah, die kleinen Saupostenaugen fromm und glaubensstark auf den geistlichen Herrn gerichtet, da legte auch er alle Bedenken beiseite, gab dem Großmütigen einen fidelen Klaps auf die Schulter und sagte: François, du schwingst dich auf zu höheren Sphären. Edle Anwandlungen – Kavalier – siebenzackige Vornehmheit – über Bürgertum hinaus – weit über Bürgertum ... und wenn auch kein blaues Blut dir den Adel verleiht, die Gesinnung tut es, und selbst mein großer Ahnherr, Anacharsis von Klotz« – dabei hob der Sprecher seinen schäbigen Zylinder langsam in die Höhe und ließ ihn wieder feierlich sinken – »hätte dich für würdig befunden, mit ihm für Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit das Schafott zu besteigen.«

Der Zylinder hob sich wieder: » Vive la république! Vive la montagne! – und Sie, Herr Dechant, was denken Sie über das Weihgeschenk meines vornehmen und sinnigen Schwagers?«

»Wenn Herr Türlütt auch jetzt noch, und zwar aus reiflicher Überlegung heraus, die löbliche Absicht vertritt, dem versprochenen Anerbieten den entsprechenden Rückhalt zu geben, die Kirche würde sich ihm gegenüber für verpflichtet halten und solches in den Annalen dankbar verzeichnen.«

»Herr Dechant« – und der kurzbeinige Gefühlsmensch schluchzte bewegt – »so wahr mir Gott helfe ...«

Helle Tränen kullerten ihm über die kummerseligen und vom Pomeranzenlikör gedunsenen Wangen.

»Denn zur Sache,« meinte Herr Anatole Baron zu Klotz, »und Sie, Hochwürden, haben wohl die Liebenswürdigkeit, uns mit der Materie vertraut zu machen und das Nähere in die Wege zu leiten.«

Gemeinsam traten sie vor den Altarschrein, an dem die Schreinergesellen den Untersatz bereits auseinandergenommen und die Schäden bloßgelegt hatten. Jetzt erst sah man das Wunderwert in seinen einzelnen Teilen, vor denen die Seele erschauern mußte.

»Der Liebenswürdigkeit eines unserer angesehensten Mitbürger haben wir es zu danken,« nahm nun Herr Petrikettenfeier das Wort, »daß die nicht unbeträchtlichen Kosten für die Erneuerungsarbeiten gesichert erscheinen. Die zweite Frage wäre: wem soll die Lösung dieser heiklen Aufgabe anvertraut werden?«

»Sehr richtig.« bestätigte Herr Bollig.

»Ersten Künstlerhänden natürlich,« ergänzte der Dechant. »Aber wo sind diese Künstlerhände zu finden? Unsere Zeit ist nicht reich daran, und dennoch glaube ich, diese Künstlerhände gefunden zu haben.«

»Bravo! – und beispielsmäßig, die wären?«

»Hierzu muß ich ausholen,« sagte der Dechant. »Kein Zweifel besteht: die Meister sämtlicher Altäre konnten einwandfrei aus den Regesten des städtischen Archivs festgestellt werden. Nur dem Schrein zu den Sieben Schmerzen Maria war bis jetzt dieses Los nicht beschieden, obgleich sich der junge Lehrer, Herr Vogels, alle Mühe gab, das mystische Dunkel aufzuhellen und Klarheit zu schaffen. Indessen – alle bis jetzt durchforschten Akten, Rechnungen und Bruderschaftslisten schwiegen darüber. Und dennoch: ich habe meine eigenen Gedanken und stehe nicht an, diese Perle auserwählter Holzbildnerkunst dem Meister Heinrich Douwermann auf sein Konto zu setzen.«

»Das wäre denn doch ...!« ereiferte sich der Kirchenrendant. »Kaum glaublich! Dann hätten wir ja mit der seit Jahren aufgestellten Behauptung unseres braven Arnt Douwermann zu rechnen?«

»Allerdings,« sagte ten Hompel.

»Und Ihre Gründe, Herr Dechant?«

»Ich komme später darauf; leider sind sie bis jetzt aus den Schreinsurkunden und Akten nicht zu ersehen. Aber gedulden wir uns. Der emsigen Forschung wird es schließlich gelingen, meiner Behauptung das Rückgrat zu steifen. Meister Heinrich ging seine eigenen Pfade, ganz unabhängig von der Kalkarschen Schule. Nur noch geringfügige Anlehnungen sind in seinen Werken verkörpert. Er war malerisch bis in die Zehenspitzen hinein, wenn er auch im großen und ganzen in Linien dachte. Beglaubigt von ihm ist der Marienaltar im Dom zu Xanten, und diesen habe ich als Basis meiner Betrachtung genommen.«

»Und Sie folgern hieraus?« fragte der Kirchenrendant, machte den Hals lang und warf sich eine Prise Spaniol in die Nase.

»Vergleicht man diesen mit dem zu den Sieben Schmerzen Maria, so drängen sich Ähnlichkeiten auf, die für meine Zwecke Erfreuliches zeigen. Bei beiden Altären noch der Sinn für spätgotische Formen, nur anders, abgeblaßter und selbständiger wie bei den zeitgenössischen Werken. Eigenes Erleben beginnt schon seine Wurzeln zu schlagen. Die Neuzeit dämmert herauf. Das Malerische offenbart sich in sieghafter Kraft. Der Gedanke wird freier. Hier wie dort die Piastik von Bewegung und Leben, drängen die weiblichen Formen nach Reife, schmiegen sich die Gewänder eng um sie her und kommen die Gegensätze von Licht und Schatten zu einer glücklichen Lösung. In beiden Werken ist der Künstler gewissermaßen der Vermittler zwischen Derick Jeger und dem Schöpfer des Berendonkschen Kreuzwegs in Xanten. Beide Altäre haben ihre persönliche Note. Hier wie dort das ruhige und abgeklärte Gefüge der Körper und die straffe Zucht des Schnitzmessers mit Rücksicht auf die Gestaltung der Massen. Nur dem Kopfe ein und desselben Meisters konnten diese Werke entspringen, und daher bin ich der felsenfesten Überzeugung, obgleich die schriftlichen Beweise noch fehlen: wie er den Marienaltar in Xanten geschaffen, so ist Heinrich Douwermann auch zweifelsohne der Schöpfer des hiesigen Schreines zu den Sieben Schmerzen Maria gewesen, und somit, meine Herren ...«

Eine Bewegung entstand.

Die Zimmer- und Schreinergesellen, die mittlerweile auch die letzten schadhaften Reste beseitigt und das krause und verzwickte Ranken- und Maßwerk der Predella völlig auseinandergelegt hatten, steckten die Köpfe zusammen.

Einer von ihnen hatte etwas gefunden, ein unscheinbares Ding, gewissermaßen ein Garnichts – und trotzdem... Zwischen den Verkröpfungen des Wurzelstockes Jesse, ganz zu hinterst, in einer verlorenen Ecke, bisher jedem menschlichen Auge verborgen – da hatte es gelegen, unscheinbar und mit einem seinen, grauen Mulm überzogen.

»Was gibt's da?«

Herr Bollig packte zu.

Ein Messer ...! – nicht groß und mit hölzernem Handgriff.

Der Küster wischte den Staub von der Klinge, säuberte das Heft und sah eingegrabene Zeichen und Zahlen.

»Da kann m'r ja tirek der Tummeleut schlage for Freud, wo einem eso wat bigegnet. I zum Takerent noch emal! – da soll m'r an 'ne Vorsehung nich glaube?! Ich bitte, Hochwürden.«

Er reichte ihm das Fundstück hin. Der Dechant nahm es, zog die Augenbrauen zusammen und las die verwaschenen Buchstaben, erst flüchtig und fahrig, dann nochmals, aber nachhaltig und schärfer und schließlich mit der sinnigen Ruhe eines Forschers, gewillt, jeden einzelnen auf Herz und Nieren und seine lautere Echtheit zu prüfen. Und als er alles genau überlegt und erwogen hatte, als er sich nicht mehr irren konnte, da wurde er fröhlichen Sinnes, und über seine stillen und versonnenen Züge breitete sich ein seliger Abglanz.

»Es lag bis jetzt ein eigentümliches Dunkeln und Dämmern über diesem Schrein,« sagte er hierauf. »Alle Bemühungen, einen Strahl der Erkenntnis in das mystische Träumen zu bringen, mißlangen. Schließlich aber stand der Tag auf den Bergen. Aber er kam nicht in seiner gewöhnlichen Weise, nicht mit seinen Vorboten und seinem leisen Gesäusel. Nicht mit dem fahlen, langgezogenen Streifen im Osten und dem verworrenen Vogelzwitscher im Heidekraut. Nein, er kam aus vollem Dunkel heraus, so ganz unvermittelt und herrisch, selbstgefällig und hell wie das Licht, und sagte: Hier bin ich. – Ja, meine Herren, nun steht der Tag auf den Bergen, und mit ihm ist das Wissen gekommen. All dieses Tasten und Suchen, all dieses Vermuten und Wiederverwerfen ist nun eitel und nichtig geworden. Wir haben die Wahrheit. Was Jahrhunderte hindurch verschwiegen und stumm war, dem wurde die Zunge gelöst; was scheinbar tot war und nicht zu atmen vermochte, dem wurde Leben und Odem gegeben. Meine Vermutung hat Fundament und Basis erhalten. Ja, es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ein Zufall machte uns sehend. Kein Zweifel mehr« – und die Stimme des Sprechers nahm einen seidenglänzenden und sonnigen Ton an – »der Altar zu den Sieben Schmerzen Maria hat seinen Meister gefunden.«

Er zeigte das Messer.

»Hier auf dem Heft ... ganz deutlich ... Bitte, meine Herren, lesen Sie selber! Ganz einwandfrei ... Heinrich Douwermann, Anno Domini 1520.«

Triumphierend sah sich der kleine, lebhafte Herr um. »Jesus, Maria un Joseph ...!« sagte Herr Bollig.

»Allen Respekt,« pflichtete der Kirchenrendant bei. »Fein gegeben, Herr Dechant! Bewundernswert! Ich stimme zu, man kann sich diesen Argumenten nicht mehr verschließen. Man muß eben glauben – glauben – unbedingt glauben. Kein anderer Ausweg mehr möglich – absolut nicht mehr möglich.«

»Und daher,« stellte der geistliche Herr mit apodiktischer Sicherheit fest, »dürfte sich der zweite und letzte Punkt der Tagesordnung von selber erledigen.«

»Wieso das, Hochwürden?«

Herr Anatole von Klotz ließ die stechenden Äugelchen blinken.

»Die Wiederherstellung der Predella, desgleichen die vorgesehene neue Pieta – alles das muß in der Familie Douwermann bleiben.«

»So?!« fragte der Kirchenrendant, und dieses ›so‹ hatte eine Auslage wie der Busen einer schlampigen Köchin.

»Ja, Herr von Klotz. Urkundlich steht fest, daß die hiesige Familie gleichen Namens identisch ist mit der aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. In unserm hochachtbaren Mitbürger Arnt Douwermann sehen wir einen direkten Nachkommen des gefeierten Meisters und in der Tochter Johanna eine Erbin seiner Kunst, die ihresgleichen sucht bis weit in die Niederlande hinein. Wenn auch das geflügelte Wort, der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, noch immer sein Unwesen treibt, so möchte ich doch meinerseits dieses Unwesen nicht fördern. Alle Gründe sprechen dafür, ihr die Arbeit anzuvertrauen. Ich bitte um Ihre diesbezügliche Ansicht. Herr Türlütt ...?«

Mit einem seinen Lächeln glitt das weißhaarige Männchen über das schwammige Antlitz des fettleibigen Biedermannes, der sich zappelig in den breiten Hüften schaukelte und nicht so recht wußte, was er mit den präzisen Worten des Fragestellers anfangen sollte.

Nachdenklich wiegte er den Antilopenkopf auf den gedrungenen Halswirbeln, von dem Herr Anatole behauptete, selbst ein Meister wie Citoyen Samson hätte seine ganze Kraft aufbieten müssen, ihn dem Besitzer sachlich und regelrecht vor die Füße zu legen.

»Wenn mein Schwager die nämliche Ansicht vertritt,« meinte er schließlich, »so wäre ich beispielsmäßig nicht abgeneigt ... Also ich bitte, Herr Schwager!«

»Hm!« sagte dieser, und zwar mit einem so wichtigen Gesicht und einem so gezwungenen Lippenspiel, als habe er schwer und tiefgründig sein eigenes Ich zu erforschen – alles dazu angetan, das Ansehen seiner Person in die beste Beleuchtung zu setzen. »Ich hörte. Leider neigen die Douwermanns etwas zum Hochmut. Wollen höher hinaus – aus dem bürgerlichen Dunstkreis hinaus. Gott, diese Leutchen! – Unmöglich! – Im übrigen gutes Milieu – stramme Gesinnung – sehr stramm – fast vornehm, Herr Dechant. Besonders die Tochter – ganz passabel – mehr als passabel. Hegt ihrerseits Ambitionen – große – sehr große. Utopisch! – Nicht zu verwirklichen. Indessen jedoch ... Ich ehre die Kunst – bin Gönner – Mäcen ... wenn auch nur theoretisch, Hochwürden. Für die Praxis ist mein Schwager in die Verlängerung gesprungen – hat gezeichnet und ist willens, den Beutel zu ziehen. Nobel, sehr nobel. Maecenas atavis ... Für meine Person habe gar nichts dagegen – ich meine das mit Fräulein Johanna ... und somit: die Arbeit möge in der Familie Douwermann bleiben.«

»So wäre hiermit der Pakt getätigt und die Sitzung geschlossen,« schmunzelte Hochwürden, »und wenn mir die Herren Vollmacht erteilen, bin ich gerne erbötig, die freudige Nachricht in die richtigen Hände zu legen.«

Der Herr Kirchenrendant nickte, ebenso Herr Türlütt, desgleichen Herr Bollig.

Klingend stieß der Dechant das goldbeknopfte Rohr auf den Estrich: »Mit Gott denn!«

Er wandte sich zum Gehen und hüllte sich fester in seinen Düffelmantel.

»Herr Dechant ...!«

»Was soll's noch?«

»Ich erinnere an den zehnten November,« bemerkte Anatole und machte dazu eine getragene Geste, die auf das Bedeutsame des Tages noch besonders hinweisen sollte.

»Der zehnte November ...?«

Herr Petrikettenfeier ten Hompel war so recht nicht im Bilde.

»Aber ich bitte ...!«

Herr Türlütt suchte, ihm das Bild vor die Seele zu stellen.

»Punschbowle und so,« sagte er hastig. Die Wundspitzen machten gleichzeitig eine saugende Bewegung.

»Bist du gefragt?« blitzte ihn Anatole nieder. »Immer diese nebensächlichen Dinge. Keinen Blick für das Große. Hauptsache ist: wie alljährlich will ich am zehnten November das Revolutionsfest begehen und möchte Sie ansprechen, Herr Dechant, die kleine Feier beehren zu wollen.«

Herr Petrikettenfeier ten Hompel wiegte schmunzelnd den Kopf.

»Also noch immer dieser alte Traum, um nicht Marotte zu sagen?«

»Marotte, Marotte?!«

Herr Anatole kreuzte die Arme, steif und hochfahrig, um zu beweisen, was er von dieser Äußerung hielte. »Marotte, Hochwürden?! – wo diese Marotte doch das imposanteste dramatische Spiel aller Zeiten und Völker widerspiegelt und mein großer Vorfahr, Anacharsis von Klotz, dieser Marotte zuliebe den Heldentod starb?! – Distanz, meine Herren! – Samson – Messerchen – blank – sehr blank ... und dann senkte sich der rote Vorhang herunter.«

Der Dechant legte ihm die Hand auf die Schulter: »Nur nicht über den Zaun fort, mein Bester. Alles hat seine Zeit. Steine sammeln und Steine zerstreuen. Auch überlegen hat seine Zeit. Ich muß mich erst in Ihre Ideen wieder hineinfinden. Sie sind krauser Natur und nicht jedermanns Sache. Aber Ihnen zuliebe und wenn Sie jetzt noch wollen ...«

»Aber natürlich! Eingeschlagen, Herr Dechant!« und die Hand mit der vorwitzigen Manschette streckte sich aus.

»Eingeschlagen!« und damit empfahl sich Hochwürden.

»Und du?« wandte sich Anatole an seinen Schwager. »François, was stehst du noch hier? Du gedenkst hier wohl Hütten zu bauen?«

»Ich? – Nee! Ich komme schon mit; habe beispielsmäßig noch mit Madam Kürliß zu sprechen.«

»Ich auch.«

»Aber nur, um dir Gesellschaft zu leisten,« sagte das Antilopengesicht, und sie verließen selbander die Dämmerungen der Kirche.

Herr Bollig sah den beiden nach, knackte mit seinen Fingergelenken und dachte sich das seine.


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