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Alles dies war ohne Vorwissen Scipios geschehen. Stanislaus fuhr auch nicht zuerst nach Brüggen mit seiner eroberten Braut, sondern geradenwegs nach der Düna hinüber, wo ihm bei dem Gute Born ein befreundeter und ergebener Prediger wohnte, der ihm das Recht eines kurischen Edelmannes ungeschmälert angedeihen ließ, das Recht nämlich, ohne Aufgebot getraut zu werden.
Nachdem die Trauung vollbracht war, schrieb Hedwig einen Brief an ihre Mutter, bat darin um Verzeihung und Segen und – so praktisch ist auch die jüngste Frau! – um ihre Kleider. Die Predigersfrau half ihr aus der Verlegenheit, nicht auch in Brüggen bloß mit dem weißseidenen Staatskleide ankommen zu müssen. Übrigens war Hedwig bei dieser außerordentlichen Wendung ihres Schicksals so unbefangen wie möglich; von dem Augenblicke an, da sie Stanislaus' Arm in der Kirche zu Nerft umfangen, war sie nur eine Empfindung, ein Gedanke, Hingebung an ihn, an den mächtigen, geliebten Mann. Wie Meereswogen schlugen Wünsche, Gefühle, Freuden über ihr zusammen; es war etwas von jenem slawischen Leichtsinn und Feuer in ihr, welche eine geniale Rücksichtslosigkeit und ein völliges Genießen des Augenblicks erlauben.
Sie fuhren, von Born kommend, an Kummeln vorüber, ohne bei Scipio einzusprechen; und einige Tage später erst, nachdem sich das Gerücht des Vorfalls im Oberlande verbreitet hatte, kam ein Brief Scipios an Stanislaus:
»Von fremden Leuten, geliebter Bruder, erfahre ich die wichtige Nachricht. Ich weiß es, daß Du mich übergehst, weil Du meine entschiedene Opposition gegen eine Verbindung mit Hedwig von Knorre kennst. Um sie, koste es was es wolle, ins Werk zu setzen, handeltest Du allerdings richtig, ganz ohne mein Wissen zu verfahren; – ich hätte mich bis zum Äußersten widersetzt. Ob Du wohl gehandelt hast, das mag Gott wissen, alles mag Gott lenken. Daß es nichts Geringes war, um wes willen ich dagegen, daß meine Gegenwirkung aus einer tief liegenden Ursache entsprang, kannst Du, meine Liebe für Dich, meine Wünsche für Dein Glück kennend, ermessen. Du hast niemals näher nachgefragt, Du hast, wenn ich sprechen wollte, Dein Ohr immer abgewendet, Du hast alles übersprungen, jede Rückkehr unmöglich gemacht, und so sei denn nun alles begraben. Ich will nun glauben, Gott selbst habe gegen mein Bedenken, gegen das unsers seligen Vaters und Oheims entschieden; ich will nun glauben, es sei aus einer zu großen Peinlichkeit und Delikatesse entsprungen. Jeder Mensch, glaubst Du, handle für sich am Angemessensten, wenn er nach Maßgabe seiner natürlichen Anlage und unverwirrt von äußerem Einspruch handle. Gott hat Dir so gewaltige Mittel gegeben, Du verfährst mutig und geradeausgehend damit, mögest Du recht haben gegen mich, der ich, schwächeren Kornes denn Du, die Handlung des Menschen vorsichtiger, Bildungsgesetzen entsprossen, Bildungsgesetzen wenigstens unterworfen sehen will. Das Glück sei mit Dir, der Du größere Ansprüche machst und zu machen hast als ich! Verwirf deshalb meine Ratschläge nicht. Bin ich auch auf schwächere Hilfsmittel gestellt, so bin ich doch für Umsicht um so geübter. Und mein Rat geht dahin, daß Du auf der Stelle mit Deiner Frau Kurland verlassest. Mögen auch einige junge Leute die Entführung aus der Nerfter Kirche einen fixen Streich nennen, die allgemeine Stimmung ist gegen Dich. Du kennst den auf seine Rechte pochenden Adel dieses Landes! Wenn ein Pfandbesitzer gegen den Kurländer so etwas sich erlaubt, sagen sie, was bleibt da dem Indigena übrig? Sogar der Schloßberger, der uns sonst wohlwollte, und der mit Recht ein großes moralisches Ansehen genießt, hat es ein freches Attentat genannt, welches alle Strenge der Gesetze gegen sich herausfordere. Roop, der Dir so günstig, hat gemeint, es werde Dir schlecht bekommen, und es würde niemand wagen, Dir beizustehen. Plater, der Kaltenbrunnsche, hat gestern öffentlich in Dünaburg erklärt, wer im Gotteshause ungestraft ein Attentat begehen dürfe, von dem müsse man sich noch größerer Unbilde versehen; es erheische des Landes Wohl, an Bandomir ein Exempel zu statuieren, und es sei hier mit aller Strenge durchzufahren, da es glücklicherweise einen bloßen Pfandbesitzer, einen Fremdling betreffe. Hoffe nicht auf die Unordnung alles Rechtsganges, auf das schlaffe Regierungswesen in diesem Lande! Bei diesem Falle hat kein Kurländer ein Interesse, daß dem Rechte nicht voller Lauf werde; die mächtigen Familien Knorre und Thorhacken werden Himmel und Erde in Bewegung setzen, Chabelskys werden die moralische Unterstützung der politischen Lehensherrschaft mit Leichtigkeit beschaffen, und Herzog Ferdinand, dem Du ins Antlitz getrotzet, wird als legitimer Landesherr auch seine volle Stimme gegen Dich in die Wagschale werfen. Wenn sie auch sonst kein Gewicht hat, hier, wo sie der Ritterschaft erwünscht kommt, wird sie vollwichtig sein und die Gerichte gegen Dich in vollen Eifer setzen. Kurz, Du hast auf ganz rechtlichem Wege das Schlimmste zu erwarten, denn sie werden, da unser Name hier nicht anerkannt ist, als gegen einen Nichtadeligen wider Dich verfahren, und die entsetzliche Stelle der kurischen Statuten: › Si ignobilis nobilem stupraverit, gladio feriatur!‹ gegen Dich aufrufen; sie werden unter diesem blutroten Scheine des Rechtes auch über das Recht hinaus Dich anfallen, Du wirst keine ruhige Stunde haben, Tag und Nacht an Leib und Leben gefährdet sein, und über kurz oder lang schmählich unterliegen. Darum folge mir, Stanislaus, folge mir sogleich, und mache Dich auf unter voller Bedeckung der Deinen bis an die Grenze, gehe über Berlin nach Dresden, und entscheide Dich dort, wo Du Dich niederlassen willst. Graf Moritz von Sachsen denkt, Dich in kurzem dort einzuholen, und Dir mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Auch er ist flüchtig, suchte am Sonnabend abends Schutz bei Dir in Brüggen, fand Dich nicht und kam zu mir hierher nach Kummeln. Er verläßt ebenfalls das Land und versichert Dich seiner Wohlgewogenheit.
Sowie Du mir sagen läßt, daß Du aufbrechest, komme ich flugs mit meinen Leuten, Dir in einiger Entfernung das Geleit zu geben und Dir den Rücken zu decken. Eile, Stanislaus! Jede Stunde Verzug kann Unheil bringen.
Dein Scipio.«
Ferber brachte diesen Brief nach Brüggen, aber Stanislaus, in den Freuden der Liebe berauscht und von tollkühn unerschrockenem Charakter nahm all die drohenden Verhältnisse viel leichter als Scipio und hielt es beinah für eine Schmach, jetzt das Land zu verlassen. »Nach einiger Zeit,« meinte er, »werde ich dies vielleicht tun, jetzt aber um keinen Preis. Urban hat die Befestigung von Brüggen, soweit sie nötig sein dürfte, vollendet. Sie sollen nur kommen, ich will sie mit blutigen Köpfen heimschicken; und kommen sie in gar zu großer Zahl, nun Ferber, so schick' ich zu euch nach Kummeln, ihr fallt den Angreifern in den Rücken, während wir einen Ausfall machen, und es müßte wunderlich zugehen, wenn mir unter solchen Umständen ganz Kurland und Semgallen was anhaben sollte. In Summa: Scipio überstudiert alles und übertreibt die Dinge. Diese kurischen Edelleute bringen nichts Gemeinschaftliches zustande; es wird denn auch gegen mich ein paar Neckereien geben, sie werden mich zitieren lassen durch den Mannrichter, ich werde mich nicht stellen; man wird hin und her schicken, es wird Zeit vergehen, man wird der Sache müde werden und sie am Ende bei jenem bergehohen Stoße liegen lassen, der aus unerledigten Gerichtssachen besteht – so wird es kommen!«
»Das glaub' ich nicht, Herr von Bandomir!« erwiderte Ferber, ein nüchterner, praktischer Mann, auf dessen Meinung Stanislaus viel zu geben pflegte, und der in dieser Angelegenheit Scipios Ansichten teilte. Mit überzeugender Rede entwickelte er sie, Hedwig vereinigte sich mit ihm, und Stanislaus war im Begriff nachzugeben, da erschien ein Besuch, der alles änderte. Es war gegen Abend, und man erkannte nicht sogleich den sporenklirrend eintretenden Herrn, es war Graf Moritz, der von Kummeln herüberkam, um sein Asyl einige Tage bei Stanislaus aufzuschlagen. »Ich bin schon zu lange in Kummeln,« sagte er, »und Biron hat mich ausgespürt. Auf Brüggen, welches die kurischen Edelleute belagern werden, wenn sie nach einigen Jahren darüber einig geworden sind, sucht mich jetzt kein Mensch, denn Brüggen ist ohne mich von krimineller Untersuchung bedroht; ich aber habe außerdem dem Brüggenschen Herrn ein leichtsinnig Wort abzubitten, welches er mir übel genommen hat, und ich weiß dafür keine passendere Form, als wenn ich auf einige Tage sein Haus als Asyl in Anspruch nehme.«
Hiermit war's für Stanislaus entschieden, daß er zunächst in Brüggen blieb. Graf Moritz wollte noch den Erfolg einiger Schritte abwarten, die er in Petersburg veranlaßt hatte; fielen sie für seine kurische Prätendentschaft nicht günstig aus, dann wollte er das Land verlassen, und für den Fall verabredete er mit Stanislaus einen gemeinschaftlichen Reiseplan, dessen Ziel Frankreich und französische Kriegsdienste sein sollten. Gewann die Prätendentschaft aber wieder Boden, was bei dem damals oft eintretenden Personenwechsel in Petersburg möglich, und bei dem prophezeiten Sturze Menschikoffs wahrscheinlich war, nun dann war mit Leichtigkeit zu beseitigen, was sich von kurischer Seite Drohendes gegen Bandomir erheben wollte.
So ward man in Brüggen heiterer Dinge, die jungen Eheleute waren in seliger Liebe, der vornehme Gast, ein vollendeter Kavalier, erheiterte die junge schöne Frau durch eine graziöse Galanterie, belebte die Unterhaltung durch Schilderungen aus seinem bunten und interessanten Leben, durch Schilderungen französischen Lebens, welches er innerhalb aller hohen und innerhalb aller pikanten Kreise genossen hatte, ja, nach einiger Zeit trugen die beiden gefährdeten Männer kein Bedenken mehr, sich auf die Jagd hinauszuwagen, da sich von außen nichts Bedrohliches gegen sie regte und Urbans Sicherheitsmaßregeln das Brüggensche Haus gegen jeden Überfall sicherzustellen schienen.
Aber draußen bewegte sich alles ganz anders und viel drohender gegen sie, als sie verhofften. Als sie eines Tages vergnügt an der Tafel saßen, erschien ein einzelner Reiter an dem von Urban angelegten Brückentore, welches jetzt den einzigen Eingang zu dem mit Graben und Wall umzogenen Brüggenschen Herrenhause bildete. Urban machte Bedienung bei Tafel, und der Wächter am Tore, eingeschüchtert durch das Amt und die feierliche Anrede des Reiters öffnete ihm das Tor, zumal er keine Gefahr darin sah, einen einzelnen Mann einzulassen. Dieser Mann war aber Ministerial der Seelburgschen Oberhauptmannschaft und trat unangemeldet in das Speisezimmer, mit lauter Stimme Stanislaus Bandomir vor den Richterstuhl des Seelburgschen Oberhauptmanns und des Mannrichters fordernd.
Die Knorres hatten ihre Zeit außerordentlich benutzt und in der Tat jene Gesetzesstelle, deren Scipio gedacht, zur Begründung und schleunigen Inswerksetzung einer Kriminalklage untergelegt. Selbst die unparteiischen Kurländer, sonst einer gerichtlichen Prozedur nicht eben geneigt, waren in diesem Falle eifrig zur Hand gegangen, und in ungewöhnlich kurzer Zeit ward die entschlossenste Exekution vorbereitet. Voraussehend, daß Bandomir die Richter perhorreszieren und sich weigern werde, vor dem Richterstuhle zu erscheinen, hatten sie auch für diesen Fall rasche Maßregeln vorbereitet. Wenn auch in Kurland der Widerstand einzelner gegen Beschlüsse der Gesamtheit oder gegen Sentenzen eines Gerichts nichts Ungewöhnliches war, so blieb dieser Widerstand doch ungesetzlich. Man vergab ihn dem Indigena, aber der Pfandbesitzer durfte auf keine Nachsicht rechnen, am wenigsten dann, wenn so angesehene Kurländer wie hier Interesse nahmen an der Vollziehung des Gesetzes. Bandomir wurde also sogleich, nachdem der Ministerial dessen perhorreszierende Antwort überbracht hatte, in contumaciam verurteilt, mit bewaffneter Hand, armata manu, vor die Richter gebracht zu werden, und eine Anklage auf Leben und Tod zu bestehen.
Dem Mannrichter, als der dafür kompetenten Person, wurde die Vollziehung dieser Sentenz aufgetragen. Er konnte nicht allein gegen Bandomir ziehen, und eine bewaffnete Macht, die seinem richterlichen Ansehen Macht und Nachdruck gegeben hätte, war weder im Oberlande, noch in ganz Kurland vorhanden. Die im Lande liegenden russischen Truppen, welche soeben teilweis nach dem Grafen Moritz fahndend umherzogen, dafür in Anspruch zu nehmen, erschien gar zu mißlich, weil man gerade in jener Zeit mit dem Petersburger Hofe in Unterhandlung darüber begriffen war, diese Truppen entfernt zu sehen. Sie gegen einen kurischen Pfandbesitzer, von dem der heftigste Widerstand zu befürchten war, zur bewaffneten Einschreitung auffordern, hieß die eigene Schwäche darlegen, hieß die Anwesenheit fremder Truppen als notwendig darstellen. Die Debatte hierüber schloß von Knorre mit dem Erbieten, dem Mannrichter eine bewaffnete Schar zuzuführen, welche den Pfandherrn Bandomir tot oder lebend vor den Richter bringen und den kurischen Gesetzen Achtung verschaffen werde. Er hatte von den Chabelskys die Zusicherung, daß sie ihm nicht nur einen verwegenen Haufen Litauer, sondern auch, wenn es nötig sei, eine Anzahl verkleideter polnischer Soldaten stellen würden, sobald er sie forderte.
Der Mannrichter konnte und wollte Knorres Anerbieten nicht von der Hand weisen; er bedang sich nur aus, daß der Exekutionstermin auf einen Zeitpunkt verlegt würde, da Scipio Bandomir von Brüggen und Kummeln abwesend sei. Gegen beide vereinigte Brüder hielt er den größten Exekutionstrupp für unzureichend, und jedenfalls würden alsdann unverhältnismäßig viele Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Diese Bedenklichkeiten wurden indes von den Knorres nicht gebilligt, sie bewiesen, daß ein kühner, rascher, unerwarteter Angriff am leichtesten und wohlfeilsten zum Ziele führen würde. Der Mannrichter fügte sich ungern, aber er fügte sich, und die Knorres jagten noch in derselbigen Stunde den ihnen dienstwilligen Jakut zu den Chabelskys nach Braslaw hinüber, mit allen nötigen Anweisungen.
Dies alles folgte einander mit einer in Kurland unerhörten Schnelligkeit, und obwohl man in Brüggen durch die Erscheinung des Ministerials aufgeschreckt worden war, so dachte man doch nicht im entferntesten daran, daß ein Ausbruch eines von gerichtlichem Ansehen verstärkten Sturmes so nahe und so mächtig sein könne. Graf Moritz, auferzogen in großen Verhältnissen, und gewohnt, alle gesetzliche Form von oben herab zu betrachten, war nur geeignet, Stanislaus in der Geringschätzung richterlichen Einschreitens zu bestärken. Scipio ließ sich zu aller Verwunderung auf Brüggen nicht sehen. Stanislaus schob dies auf die Nichtachtung, welche er gegen alle Ratschläge Scipios dargetan hatte, und hoffte sicherlich, den Bruder auszusöhnen, sobald der Graf abgereist und Muße zum Besuche in Kummeln eingetreten sei. Damit tröstete er Hedwig, welche sich ungewöhnlich bekümmert zeigte um die Zurückhaltung des Schwagers; aber er entbehrte deshalb nicht minder denjenigen, welcher ihm am richtigsten raten und helfen konnte. Unglücklicherweise konnte Graf Moritz das Brüggensche Paar auch auf seine Vermittelung mit der Ellernschen Familie vertrösten, eine Aussicht, die jedenfalls für Hedwig von großer Wichtigkeit war, die aber ebenfalls alle Gedanken in Brüggen von äußersten Schritten abwendete. Weil der Ministerial den Grafen im Bandomirschen Hause angetroffen hatte, weil also dessen Aufenthalt hierdurch gar zu gewiß verraten war, und weil sich, vielleicht infolge davon, russische Truppen um Lautzen gezeigt haben sollten, so wollte der Graf seinen Aufenthalt ändern und auf eine Zeitlang nach Ellern verlegen. Von Knorre hatte ja doch früher zu seinen eifrigsten Anhängern gehört, es stand zu erwarten, daß er den Prätendenten gastfreundlich aufnehmen und ihm auch ein geneigtes Ohr zur Versöhnung mit den Brüggenschen leihen würde. »Wenn ich zurückkehre, Frau von Bandomir,« setzte der Graf hinzu, »bring' ich freundliche Wünsche Ihrer Frau Mutter und auch ein mildes Wort von Vater und Bruder!«
Es war ein nebliger Novembermorgen, als er sich nach diesen Worten aufs Pferd schwang und zum Brückentor hinausritt. Stanislaus gab ihm das Geleit, um ihn durch die Wälder nach dem Swentensee hinüberzubringen, damit er die für unsicher geltende Lautzensche Straße vermiede.
Der Nebel verzog sich nicht während des kurzen Tages, und als Stanislaus nachmittags zurückkehrte, konnte er es schon nicht mehr erkennen, daß ein menschliches Wesen hinter dem großen Steine am Seeufer verborgen war. Pascha entdeckte es zwar, schlug aber nicht an, und als sich die Gestalt erhob und vortrat, prallte der Tatar einige Schritte zur Seite.
Es war Petruschka. Sie brachte ihm Kunde, daß von Lautzen her eine große Anzahl bewaffneter Reiter im Anzuge sei. »Das sind Russen!« sagte Bandomir, »und sie kommen zu spät!«
»Russen sind's nicht, gnädiger Herr, und vor einer Viertelstunde bin ich einem von unserer Familie begegnet, der von der litauischen Grenze herkommt. Er hat bei Feldhof eine noch größere Reiterschar gesehen, die dort im Walde gelegen, mit den Köpfen nach Norden, die Chabelskys sind dabei gewesen, Herr!«
»So bleibe wach, Petruschka und schick' Eure Jungen umher, und bring' mir Nachricht ins Haus, wenn die Reiter wirklich von beiden Seiten auf Brüggen anziehen! Aber erschreck' meine Frau nicht!«
Damit eilte er über die Brücke hinein und unterrichtete Urban, daß er alle Sicherheitsmaßregeln treffe. Eine von gerichtlichem Ansehen unterstützte Exekution besorgte er nicht, weil die Nacht hereinbrach, und eine solche, selbst mit gewaffneter Hand, nach kurischen Gesetzen nur vollzogen werden kann, solange die Sonne am Himmel scheint. Einem Überfalle von seiten der Knorre und Chabelsky aber glaubte er sich gewachsen. Er trat also, als es völlig dunkel geworden, ohne weitere Besorgnis ins Haus und ging zu seiner Frau ins Wohnzimmer, nichts gegen diese erwähnend, und mit ihr schwatzend und kosend, als ob sie in völliger Sicherheit wären.
»Was haben denn die Hunde heut abend?« – unterbrach sie das Gespräch, »sie machen ja einen erschrecklichen Lärm!«
»Es werden Wölfe in der Lautzenschen Heide sein, und der Wind steht von daher.«
Da öffnete sich die Tür, Pascha stürzte herein und gebärdete sich sehr unruhig; Petruschka, als Bube gekleidet, folgte ihm.
»Was willst du?«
»Meine Mutter, gnädigster Herr, aus dem Walde schickt mich und läßt Euch sagen, der Adler sei ausgeflogen nach seinen Jungen, er sitze mit aufgespreizten Krallen in Lautzen und hebe die Flügel!«
»Um's Himmels willen, Stanislaus! was heißt das?«
»Jagd, liebe Hedwig, Jagd! Diese Leute sprechen immer kauderwelsch. Sage mir, Bursche, sind die Wölfe zahlreich?«
»Viele Tuchte, Herr, hat man ziehen sehen, und vor allen scheinen die bösen litauischen Wölfe, die von Feldhof heraufkommen, sehr hungrig und mordgierig.«
»Da müssen wir eine große Jagd veranstalten, um das Ungeziefer zu verscheuchen. Komm' mit, Kleiner!«
Er beruhigte Hedwig und ging mit Petruschka auf sein Zimmer. »Du mußt gleich zu Pferde, nach Kummeln, Petruschka, zu meinem Bruder.«
»Der ist verreist, Herr!«
»So? Nun dann zum Verwalter Ferber. Er soll mir alle Mannschaft schleunigst hersenden; warte, ich will dir zwei Worte zur Beglaubigung schreiben! – So! Wenn man dich kriegt, verschluck' das Papier.«
»Man kriegt mich nicht, es kommt niemand von der Kummelnschen Seite.«
»Sind's die Knorres, die von Lautzen kommen?«
»Ja, Herr, aber sie sind nicht allein, und es ist auch ein vornehmer Mann dabei, den wir nicht kennen.«
»Oho! es wird doch nicht der – Graf Moritz, kennst du?«
»Ja, Herr!«
»Es wird doch nicht der Mannrichter sein! Gleichviel, es ist Nacht; aber eile um so mehr nach Kummeln!«
Petruschka eilte hinweg, und während Stanislaus seine Gewehre lud, hörte man sie über die Brücke sprengen. Es trat ein Jäger zu ihm ein und berichtete, daß sich auf der Lautzenschen Straße eine verdächtige Bewegung zeige, und daß die Hunde nicht mehr zu beschwichtigen seien.
»Geh' und passe auf! Ich bin sogleich unten.«
Er umgürtete sich mit dem Säbel, hing die Schießtasche über, nahm die Gewehre und stieg hinab in den Hof. Hier fand er all seine Leute versammelt, gegen dreißig an der Zahl, kühnen Jägermuts und voll Vertrauen auf den mächtigen, tapferen Herrn blickend. »Wenn wir angegriffen werden, Kinder, schlagt euch besonnen, mutig werdet ihr's ohnedies tun; verschießt keine Kugel umsonst, der Graben ist breit, der Wall ist hoch, Ernst werden sie des Nachts nicht machen, und am Tage trifft von uns jede Kugel. Bis dahin sind auch die Kummelnschen herüber, und beider Bandomire Macht vereinigt nimmt es mit ganz Kurland auf!«
Kaum hatte er diese Worte beendet, als die Hunde ein furchtbares Gebell und Geheul erhoben, und man aus der Ferne deutlich das Getrampel von Pferden unterschied. »Sie kommen!«
»Auf eure Posten! Niemand schieße eher, als bis ich's befehle.«
Damals reichte noch der Wald von allen Seiten um Brüggen zusammen, und wo jetzt überall freies Feld ist, da war rings nur ein offener Raum von einigen tausend Schritten. Es war die Zeit des ersten Mondviertels, aber bei dem umwölkten Himmel und der nebligen Atmosphäre sah man, selbst auf fünfzig Schritt, die Gegenstände unsicher und schattenhaft. Dadurch wurde der Vorfall gespenstisch und unheimlich; man hörte Tumult und Waffengeklirr einer großen Masse; man hörte, daß drei rasch aufeinander losgefeuerte Schüsse ebenso im Süden von Brüggen nach Engelhardsdorf zu beantwortet wurden, und doch sah man niemand. Endlich schwieg das Stimmengewirr, und ein einzelner Reiter erschien am Brückentor. Er klopfte mit dem Pistol ans Tor und rief mit lauter Stimme, so daß es wunderbar durch die Nacht in den Wald hineinschallte:
»Ich, der Ministerial, fordere Euch auf im Namen des Herzogs und der Obrigkeit, die Pforte zu öffnen dem Mannrichter und seinem Gefolge, welche zur Exekution erschienen sind vor Brüggen!«
Nur das Echo des Waldes antwortete, sonst blieb es totenstill auf die Worte des Ministerials.
Da schlug dieser von neuem mit seinem Pistol an das Tor und rief noch einmal seine Aufforderung in die schweigende Nacht hinaus.
»Du lügst!« rief jetzt eine starke Stimme zur Antwort, »du bist kein Ministerial; der, den du anmeldest, ist kein Mannrichter; der Herzog, auf welchen du dich berufst, hat dich nicht bevollmächtigt!«
»Du irrst, Bandomir, oder Bandomirs Sprecher: Herzog Ferdinand hat durch ein Schreiben aus Danzig dich ohne Vorbehalt dem Gerichte überlassen, und der Mannrichter ist hundert Schritte vom Brüggenschen Tor, und ich bin der Ministerial!«
»Seit wann begehrt in Kurland der Mannrichter in finsterer Nacht gerichtlichen Einlaß? Räuber seid Ihr! Mach', daß du fortkommst, sonst laß ich dich niederschießen wie einen Wolf! Fort!«
»Wenn Ihr nicht gutwillig die Pforte öffnet, so müssen wir sie uns gewaltsam sprengen!«
Mit diesen Worten wendete er sein Pferd und eilte zur Angriffsschar zurück. Als er dem Mannrichter die Antwort Bandomirs wiederholt hatte, bestand dieser darauf, nach Lautzen zurückzukehren und erst den folgenden Tag zu gesetzlicher Zeit die Exekution zu vollziehen. Aber die Knorres und Chabelsky bekämpften diesen Entschluß auf das lebhafteste. »Um eine gesetzliche Spitzfindigkeit zu erfüllen,« sagten sie, »werdet Ihr das Gesetz und das Gericht als unmächtig an den Pranger stellen und eine große Menge Menschenleben unnützerweise opfern. Denn am Tage fehlt von diesen Bandomirschen Schützen kein einziger Schuß seinen Mann, während jetzt in der Dunkelheit alles Schießen ein unsicher Ding ist. Bis zum Tage ferner bietet er all seine Leibeigenen auf und verschafft sich Verstärkung aus Kummeln; so wird die Expedition in ein blutiges Schlachten verwandelt, und der Zweck derselben am Ende doch verfehlt.«
Nach langem Hin- und Herreden gab der Mannrichter nach, und der sofortige Angriff ward beschlossen. Er sollte auf allen Seiten zugleich geschehen; von dem breiten Graben und hohen Wall, welche Urban angelegt, unterrichtet, hatte man sich mit Leitern versehen, die Chabelskysche Schar, noch viel zahlreicher als die kurländische, erschien soeben auch auf dem Schauplatze, man ordnete sich und rückte nun rasch bis an den Graben vor, um die Leitern geräuschlos hinabzulassen. Da erschien Bandomir auf dem gegenüberliegenden Walle und rief mit donnernder Stimme: »Zurück, ihr Unsinnigen! Glaubt ihr denn, ich stehe ungerüstet eurem ungesetzlichen Überfalle gegenüber? Bei der ersten verdächtigen Bewegung gebe ich Befehl zum Feuern, und ihr füllt mit euren Leibern diesen Graben!«
»Ergebt Euch, Bandomir!« rief darauf eine Stimme; »ich, der Mannrichter, verspreche bei allem, was mir heilig, Euch ungefährdet an Leib und Ehre nach Mitau zu bringen vors herzogliche Hofgericht, wenn Ihr Eure Vergehungen nicht durch nutzlosen Widerstand vergrößert.«
Chabelsky, welchem an dem Wege friedlicher Unterhandlung wenig gelegen, und dem alles darum zu tun war, daß Bandomir vernichtet, Hedwig erobert würde, benützte diesen Augenblick, da Bandomir in ziemlicher Nähe frei über den Wall herausragte, schlug sein Gewehr auf ihn an und schoß. Bandomir verschwand sogleich hinter dem Walle, aber man hörte seine Stimme fürchterlicher als je: »Verräterische Schurken, die ihr Gericht und Unterhandlung vorschützt, um meuchlings zu morden, wahrt euch!«
Darauf sah man einen Säbel in dem nebeligen Dämmerlichte blitzen und hörte von derselben Stimme das Kommando: »Feuer!« Ein Feuerstrom sprühte über den Wall, und viele der Angreifer stürzten getroffen teils zu Boden, teils in den Graben hinab. Aber die Hauptführer schienen unverletzt, man hörte Knorres und Chabelskys Stimmen: »Auf! die Leitern angelegt!«
Bandomirs Schützen indes, kriegsmäßig von Urban eingeübt, hatten keineswegs alle zugleich geschossen, und eine zweite Salve prasselte jetzt auf den Feind, und schlug wiederum mörderisch ein. Von dieser Salve verstummte Knorres Stimme, und sämtliche Angreifer wichen in die Dunkelheit zurück.
Der alte Knorre war verwundet, der Mannrichter war außer sich über das ungesetzliche und doch erfolglose Gemetzel; alle waren einig, daß auf diese Weise nichts auszurichten sei. Chabelsky schlug einen neuen Angriffsplan vor. Nur ein Teil sollte mit aller Heftigkeit Brücke und Tor bestürmen, ein anderer Teil aber sollte von der andern Seite bäuchlings bis an den Graben kriechen, die Leitern ohne Geräusch hinablassen, und während alle Verteidigung auf Tor und Brücke gelockt werde, den Wall ersteigen. Chabelsky übernahm mit seinen Litauern diese letztere Aufgabe, Julius von Knorre wollte mit den verkleideten polnischen Soldaten Brücke und Tor stürmen.
So geschah's. Der Angriff ward rasch und lebhaft ins Werk gesetzt, das Schießen ward nun auch von den Angreifern gut unterhalten, die Brücke ward wirklich erzwungen, die Äxte donnerten bereits ans Tor, und Bandomir, der einen verdeckten Angriff befürchtet, und die Runde um den Wall gemacht hatte, eilte jetzt, als er die Schläge ans Tor hörte, an diese Stelle herbei, dem heranschleichenden Chabelsky freieres Spiel lassend. Der für ihn unglücklich entscheidende Moment trat ein, da drangen plötzlich durch die Schüsse und Axtschläge langgezogene Hörnertöne. Sie kamen von der Kummelnschen Seite, von der Seite, auf welcher Chabelsky eben in den Graben hinabgestiegen war. Alles, Angriff und Verteidigung schwieg einen Augenblick, um zu horchen, was dies zu bedeuten habe. Da hörte man deutlich eine schwache Stimme im Rücken der Angreifer – Bandomir erkannte der kleinen Petruschka Stimme – »Zurück, zurück! rettet euch! Scipio Bandomir kommt mit seinen Kummelnschen Schützen und Buschwächtern über euch!« – In der Tat hörte man auf dem schon gefrorenen Erdboden die pochenden Hufschläge eines heranjagenden Reitergeschwaders! Chabelsky, ihm zunächst, war eiligst aus dem Graben heraus und rief gellend in polnischer Sprache: »Zurück nach dem Walde! Man fällt uns in den Rücken!« – Ein panischer Schreck ergriff Polen und Litauer, alles löste sich in wilder Flucht und eilte nach dem Walde.
Der Verwalter Ferber aus Kummeln war's, welcher mit seiner rasch herbeieilenden Hilfe diesen Exekutionssturm vereitelte.
Der ganze drohende Horizont schien sich aber auch mit diesem Wetter entladen zu haben! Das Oberland ringsum schrie über Ungerechtigkeit und Gewalttat und nahm jetzt Bandomir in Schutz. Es ist etwas überaus Liebenswürdiges am Kurländer, etwas echt Ritterliches, daß er dem Unterdrückten seine ganze Teilnahme zuwendet: gelang es dieser kurländischen Aristokratie auch selten, streng und unparteiisch das Recht durchzusetzen, so war sie doch darin fast immer einig, jede freche Ungerechtigkeit abzuwehren. Die natürliche Folge solcher kurländischen Eigenschaft war, daß ein selbständiger Staat nicht fortbestehen konnte, während doch alle einzelnen Kurländer in adeliger und ritterlicher Gesinnung fortbestanden und heute noch fortbestehen.
Das Benehmen Bandomirs nach diesem Überfalle war auch vortrefflich geeignet, ihm die Kurländer zu gewinnen. Er hatte mit bewundernswerter Tapferkeit Weib und Hof beschützt; er lebte mit Hedwig, alle Welt erzählte davon, wie die Engel im Paradiese leben sollen, und er verklagte keinen Kurländer, nein den Litauern schob er alles zu, gegen Chabelsky klagte er über gebrochenen Landfrieden. Die Chabelskys, Edelleute eines Nachbarstaates, mit welchem Kurland nicht nur im tiefsten Frieden, sondern auch im innigsten Verbande stehe, hätten es gewagt, mit gewaffneten Leuten, ja, mit verkleideten Soldaten in Kurland einzubrechen und nächtlings mit allem Mitteln des Krieges ein Gehöfte zu überfallen. Ja, die Chabelskys hätten sich nicht entblödet, den Namen der Obrigkeit und des Herzogs mißbrauchend, ihren Raubzug eine gerichtliche Exekution zu nennen und die Namen kurischer Indigenas hineinzumischen. Er weise solche Insinuation mit Unwillen zurück; kein kurischer Indigena entferne sich so weit vom Pfade der Ehre, daß er gemeinschaftliche Sache mit Straßenräubern machen könnte, als welche diese Chabelskys, von jeher räuberisch in Kurland einfallend, sich erwiesen hätten. –
Nach dieser Erklärung, und bei der wohlwollenden Aufnahme, welche sie überall fand, war es für die Knorres durchaus nicht mehr rätlich, die gerichtliche Klage weiter gegen Bandomir zu betreiben. – Der Mannrichter, seines eigenen Unrechts sich bewußt, erlangte es jetzt von ihnen, daß sie völlig schwiegen. Der Chabelskysche Überfall wurde Gegenstand einer Landtagsverhandlung, und kein Kurländer mochte teil an diesem Überfall genommen haben.
Ja, es erschien bald darauf ein Brief des Grafen Moritz in Brüggen, worin dieser triumphierend verkündigte, es neige sich in Ellern alles zum besten für Bandomir, und wenn Hedwig von neuem schreibe, so werde man ihren Brief jetzt sicherlich nicht mehr unbeantwortet lassen wie früher, da man ihr auf einem Ochsenkarren ihre Habseligkeiten durch einen stummen Leibeigenen übersandt habe.
Hedwig schrieb sogleich, und in wenig Tagen schon antwortete ihr Julius, daß er die Stunde ganz nahe glaube, in welcher man sich sehen und sprechen und die Zwistigkeiten für immer schlichten werde.
So ließ sich der Winter versöhnlich an, Stanislaus hatte kein Arg mehr und sandte seine Jäger nach Born, wo die Wölfe herdenweise eingefallen waren. Er lebte in glücklichster Gemeinschaft mit Hedwig, deren Liebenswürdigkeit und Liebe ihm täglich zu wachsen schien, und als sie an einem stürmischen Winterabende kosend nebeneinander am flackernden Kaminfeuer saßen und ihr heiter werdendes Schicksal besprachen, da schien es ihnen zunächst an der Zeit, den noch immer zurückhaltenden Scipio auszusöhnen. Sie verabredeten auf den nächsten Tag eine Schlittenfahrt nach Kummeln. »Wenn du ihn selbst,« meinte Stanislaus, »mit dem Besuche überraschest, den er uns vorenthält, so wird der brave Pedant schon nachgeben.« Es ward für ein gutes Zeichen angesehen, daß der eintretende Urban einen Brief von Scipio überreichte. Der Brief enthielt ohne weiteren Zusatz zweierlei Nachrichten: erstens, daß Ferber den Jakob Chabelsky wieder im Oberlaude gesehen habe, und zweitens, daß Graf Moritz von Sachsen, aufs äußerste von den russischen Truppen bedrängt, durch die Wälder der Abau auf eine Insel des Usmaitischen Sees sich geflüchtet habe. Die Ufer des Sees seien besetzt, und man sähe keine Möglichkeit, wie er entkommen könne.
»Und ich sehe keine Möglichkeit,« setzte Stanislaus hinzu, »ihm beizustehen. Wir wollen Urban fragen, er kennt die dortigen Gegenden.«
Während Urban gerufen wurde, meinte Hedwig, es sei doch gut, daß sie ihr Schicksal nicht an das dieses verfolgten Mannes geknüpft hätten.
Die Besprechung mit Urban dauerte lang, und es war gegen neun Uhr, als der alte Diener das Zimmer verließ. Stanislaus, über eine mögliche Befreiung des Grafen nachdenkend, stand mitten im Zimmer, den Rücken nach den Fenstern gekehrt, und sah in die verglimmenden Kohlen des Kamins. Hedwig, klagend, daß es kalt im Zimmer werde, trat zu ihm, schlang ihre Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf nieder, um ihn zu küssen – plötzlich machte sie eine schreckhafte Bewegung gegen das Fenster und drückte krampfhaft ihres Gatten Hand.
»Was ist?«
»Ich habe Jakob Chabelskys Gesicht am Fenster gesehen!«
»Der Unverschämte!«
Während Bandomir nach der Tür eilte, hörte er, wie Pascha grimmig anschlug und gleich darauf in ein klägliches Heulen und Winseln ausbrach. Ehe er die Tür erreichte, ward sie aufgerissen, und Urban, bleich und verstört, erschien mit den Worten auf der Schwelle: »Wir sind verraten! Rettet Euch, gnädiger Herr, rettet Euch und die Frau durch den Gang! Der ganze Hof ist voll Bewaffneter! Ach, mit Euch über den Grafen sprechend, hab' ich mein Wächteramt verabsäumt.«
Da kroch winselnd Pascha durch die halb offene Tür und sank vor seinem Herrn nieder, den sterbenden Blick mit einem fast menschlichen Ausdrucke zu ihm aufrichtend. Ein Säbelhieb hatte ihn zum Tode getroffen!
»Pascha, mein Pascha, armer, getreuer, dein Blick schneidet mir durchs Herz!«
Da versuchte Pascha noch zu wedeln, und das Auge brach ihm.
»O mein Gott! Pascha, nun ist es aus mit allem Glück!« klagte Stanislaus mit einem Tone, den man nie von ihm gehört hatte, und eilte zu Hedwig, die, mehr tot als lebendig, unter Tränen auf den sterbenden Hund blickend, an die Wand gelehnt stand. Urban löschte gleichzeitig die Lichter. Schon hörte man im Vorzimmer Sporen und Säbel – Stanislaus ermannte sich, führte Hedwig ins Nebenzimmer, öffnete in einem Winkel des Fußbodens eine verborgene Tür, leitete die zitternde Frau einige Stufen zu einem Gange hinab, den Urban für den äußersten Notfall angelegt hatte, hieß sie ruhig bleiben, bis er wieder käme, schritt dann ins Wohnzimmer, dessen Flurtüre Urban verriegelt hatte, zurück, nahm Pistolen, Flinten, Schießtasche, Säbel, und gab's zur Hälfte an Urban.
»Öffne, Pfandherr! Du bist verloren!« schrie Chabelskys Stimme, und während Schläge an die Tür donnerten, klirrten auch die Fenster, welche man von außen einstieß. Denn das Zimmer lag, wenn auch etwas hoch, zu ebener Erde.
Bandomir eilte mit Urban in den unterirdischen Gang. Sie schlossen ihn hinter sich, und hörten währenddem schon den Lärm der ins Zimmer Eindringenden. Urban, am besten mit seinem Werke bekannt, ging nun voraus, seinen Herrn hinter sich an der Hand haltend. Dieser hielt ebenso Hedwig, und dergestalt schritten sie vor in dem dunklen engen Raume. Das Getümmel im Hause wich immer weiter von ihnen zurück und verhallte am Ende ganz. »Hier kommt eine Wendung nach rechts!« flüsterte Urban, »und nun sind wir gleich am Ausgange! Wenn wir den Wald gewonnen haben, wenden wir uns nach Marussas Hütte zu und dann nach Kummeln!«
Der alte Diener horchte vorsichtig an der schweren Falltür, ob draußen kein verdächtig Geräusch zu hören sei, und murmelte unzufrieden vor sich hin: »Wenn ich mein Handwerk verstanden hätte, so wäre mir doch wahrhaftig die Arbeit durch den nassen Lehmboden bis an den Wald nicht zuviel geworden, und ich hätte den Ausgang nicht hier ins Freie gelegt – es wird gewiß hier irgendwo ein Pikett Wache halten, damit niemand aus dem Hofe entweiche.«
»Vorwärts, Urban!« rief Stanislaus und stieß die schwere Tür auf, die in ihren verrosteten Angeln knarrte. Vor seinen Blicken lag die dunkle Winterlandschaft, aber das Geräusch der Tür hatte auch, wie Urban gefürchtet, einen Wachtrupp herbeigezogen, und ehe er die Tür wieder schließen konnte, hatte sich dieser darauf geworfen. Mit wie ungeheurer Kraft er auch zog, er konnte den Gegendruck sovieler Hände nicht überwältigen, und mußte weichen. Er gab nach; die Ziehenden stürzten zwar unter der plötzlich freigewordenen Tür nieder, aber es waren sogleich andere zur Hand. Da ergriff er, zurücktretend, ein Pistol, und feuerte es aus der Öffnung. Es hatte die Wirkung, daß alle vor dem dunklen Schlunde zurückwichen und er Zeit gewann, die Tür ins Schloß zu werfen.
»Aber verloren sind wir nun doch!« sprach er fast atemlos; »fasse dich, Hedwig! sei mein tapferes Weib!« Hedwig, in voller Liebe zu ihrem Gatten, suchte im Dunklen dessen Hand, drückte sie und faßte den festen Entschluß, mit ihm zu kämpfen, mit ihm zu sterben. Der Tumult an der Falltür vergrößerte sich, und donnernde Axtschläge fielen darauf nieder. »Eile zurück, Urban! Diesen Schlägen kann die Tür nicht lange widerstehen, sieh', horche, ob sie vielleicht das Haus entblößt haben, um uns hier zu fangen, und ob wir vielleicht bester tun, zurückzueilen!«
Urban eilte. Stanislaus und Hedwig hatten sich bis an die Wendung des Ganges zurückgezogen, weil von da mit völliger Sicherheit die Verteidigung eine Zeitlang möglich war. Die Situation war entsetzlich; völlige Finsternis in dem engen feuchten Gange um sie her, und die dröhnenden Schläge des unvermeidlichen Unterganges vor ihnen. Eine Planke der Tür war schon durchbrochen, und ein roter Schimmer von den brennenden Kienspänen drang bis zu ihnen. Stanislaus sah in das bleiche Antlitz seiner Frau. »Arme Hedwig! So früh ins Verderben gerissen durch mich!« »Klage lieber, daß die Freude so kurz war, groß war sie doch!«
»O mein Weib!« stammelte er, seit seiner Knabenzeit zum erstenmal wieder mit schluchzender Stimme, und drückte Hedwig krampfhaft an sein Herz. »Aber nein!« setzte er nach einer Pause hinzu, »dein junges schönes Leben soll noch nicht untergehen! Du wirst als Witwe dich vor aller Zudringlichkeit zu wahren wissen, du wirst Brüggen bewohnen, und Scipio wird dein Schutz sein – wenn sie eindringen in den Gang, so zieh dich zurück! Man wird dich später finden, aber du wirst leben.«
»Stanislaus!«
Da kam Urban mit der Nachricht zurück, daß Julius von Knorre die Zimmer besetzt halte – in diesem Augenblick brach auch die Tür; im roten Kienschimmer sah man den bewaffneten Trupp am Eingange stehen und zögern. Man hörte Chabelskys Stimme Freiheit und Geld denjenigen versprechen, welche sich zuerst hineinwagten. So wagte es denn ein Haufe nach dem andern, und dreimal wurde jeder getroffen und zurückgeworfen von den Kugeln Bandomirs und Urbans. Der Ausgang war fast versperrt von Verwundeten und Toten, nun war aber auch die Munition der beiden Männer erschöpft; dies bemerkend räumten die Angreifenden, welche bisher wegen der Gangwendung immer erfolglos hineingeschossen hatten, den Menschenhaufen hinweg und drangen nun tiefer ein. Urban mit einem Jagdspieß, Bandomir mit seinem Säbel, hielten den Zudrang, niederstoßend, noch eine Weile auf, bis ein neuer Pistolenschuß der Angreifer jetzt, da der Winkel des Ganges Kampfplatz geworden, Urban zu Boden warf. Stanislaus riß dem Fallenden den Jagdspieß aus der Hand und drang mit einem Ungestüm, einer Wut und einem Mute vor, daß alles stürzte oder wich, daß er bis an die Tür vordrang und einen Augenblick daran denken konnte hinauszuspringen und sich bis an den Wald durchzuschlagen – da strauchelte er über den Körper eines Gefallenen und fiel. Ehe er sich aufraffen konnte, stürzte man über ihn und band ihn mit Säbelgurten. Chabelsky stieß ein Freudengeschrei aus und näherte sich ihm, den Säbel hebend, zu ihm niederkniend, ihm frech und hohnlachend ins Antlitz blickend. Totenstille herrschte, Chabelsky zögerte wohl eine Minute lang, als wollte er ihn mit aller Todesangst peinigen, da hörte er einen raschen Schritt, den Gang heraufkommend, schon dicht in seiner Nähe, und stieß dem gehaßten Bandomir rasch den Degen in die Brust. In demselben Augenblicke aber drang ihm unter dem aufgehobenen Arme ein Schwert in den Leib, er fiel rücklings und sah Hedwig wie einen Racheengel starr, mit entstellten Zügen über sich stehen. Sie ließ das Schwert in seiner Brust, wie das seinige in Bandomirs geblieben war – kein Wort ward gesprochen, kein Mensch regte sich und die Kienspäne zitterten in den Händen der rohen Litauer.
Die Übeltäter waren entflohen mit der Leiche Chabelskys, und der spät anbrechende Tag, da Urban von der Betäubung seines Streifschusses erwachte, fand auf der Stätte nur Leichname. Das Schwert steckte noch wie ein Malzeichen in der Brust seines Herrn; er zog es heraus und erkannte den Säbel des Oberstwachtmeisters, welchen dieser einst im Schönhaider Walde verloren. Der Leichnam, über welchem Stanislaus lag, war Jakuts.
Die Knorres, welche die Rache Scipios fürchteten und vom rollenden Rade des Verbrechens fortgerissen wurden, fahndeten an demselben Morgen auch den letzten Bandomir, der über Demmen nach Kurzum geritten sein und desselbigen Weges zurückkommen sollte. Sie hatten Hedwig, welche in Wahnsinn verfallen war, einstweilen in Demmen beim Prediger untergebracht. Seltsam und schauerlich war es anzuhören, daß sie mit herzzerreißender Stimme von Zeit zu Zeit nichts weiter ausrief, als: »O Scipio! mein Scipio!« Es schien dem Prediger besonders schrecklich, daß sie den Namen ihres Gemahls vergessen hatte.
Scipio kam wirklich gegen Mittag des Weges daher, wo am Lautzebache in der Nähe des Demmenschen Kirchenkruges hinter Kieferngebüsch die Knorreschen Leute ihm auflauerten. Er hatte keine Ahnung vom Schicksale seines Bruders, aber seine Seele war traurig, daß Stanislaus so wenig Rücksicht genommen auf die Stimme des Vaters, des Oheims und des Bruders, daß er überall seinen Neigungen blindlings und jählings folge. – »Ach! was tadle ich ihn!« setzte er, sein Pferd anhaltend, hinzu, »ist er nicht am Ende in besserem Rechte als wir? Bin ich nicht vielleicht so empfindlich in diesem Punkte, weil es eben Hedwig ist, die er trotz aller Warnungen an sich gerissen? Was wissen wir denn von Recht und Natur? Ist nicht am Ende die unmittelbare Stimme jedes gesunden Menschen eine reinere Aussage der Gottheit, als all die Kunde, welche wir mühsam zusammentragen aus Überlieferungen, Merkmalen, Folgerungen, reiner als all das, was wir Bildung nennen? Jahrtausende lang trachten die Menschen, und kommen nirgends über einen gewissen Punkt einzelner und gemeinschaftlicher Wohlfahrt hinaus, ja fallen immer wieder zurück, wenn sie ihn erreicht haben! Dieser Boden um mich her, mit Felssteinen einer ganz andern Erde bedeckt, was ist mit ihm vorgegangen? Hat die Meeresflut diese fremdartigen Steinblöcke herbeigespült, hat Erdfeuer den Erdboden verwandelt? Ist die Wandlung vor fünf oder vor zwanzig Jahrtausenden geschehen? Ist der Mensch von Anbeginn dieses Planeten da gewesen, oder nicht? Sind es geringere Rassen, diese Letten und Wenden, die im Regiment und im ganzen Wesen den deutschen Herrn so untergeordnet werden konnten? Wird diese deutsche Kolonie, die sich nicht in neue Bedingungen zusammenzufassen versteht, wird sie ein Staatssamenkorn bilden in der Zukunft, oder wird sie einverleibt werden einem Ganzen dieser zahlreichen slawischen Stämme, wie die Geschichte schon so oft ihre Mischungen erneuert hat mit mäßigen noch unversuchten Völkerschaften, die wiederum von neuem überdeckt werden, wenn sie ihre eigentümlichen Eigenschaften dem großen Ackerboden Menschheit eingepflanzt haben? Ach, all die Verhältnisse, welche der Menschengeist ahnt, sind so groß und weit, daß an ein Wissen und Beherrschen nicht zu denken ist, und unser Leben ist so kurz, ›siebzig Jahre und wenn's hoch kommt, achtzig,‹ sagt die Schrift. Man soll doch niemand stören, den ein unzweifelhafter Instinkt treibt, man soll ihn nicht stören mit Einschränkungen einer Bildung, welche ihrer selbst so wenig sicher ist. So will auch ich dich nicht stören, Stanislaus, mit Grillen menschlicher Sitte, welche dein Glück zerstören könnten. Ich will zu dir gehen und dich lieben nach wie vor und schweigen von des Vaters Jugend und über Anastasia; das Schicksal, wie es dein rascher Sinn dir bereitet, sei mir ein Gottesurteil; wenn es dir wohlgelingt, so will ich gern die Ansicht der Welt und meine eigene Ansicht Unrecht schelten. Wieviel ist's denn auch, wenn es Glück ist! ›Und wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen!‹ mußte schon der Psalmist sagen.«
Die hinter den Büschen Lauernden fürchteten, da Scipio so lange still hielt, er habe einen Hinterhalt bemerkt und werde umkehren. Ach! seine Seele war auf Pfaden, welchen die Seelen dieser Mörder nie nahe gekommen waren. Er ritt dann auch harmlos auf sie zu über den gefrorenen Bach, die Büchsen knallten – lautlos, zum Tode getroffen, sank er vom Rosse. Das Roß – es war der Tatar, welchen Ferber nach dem letzten Überfalle zu einer Kur mit nach Kummeln genommen hatte – lief, ebenfalls verwundet, wie ein gejagter Hirsch nach Brüggen, und brach dort vor dem Herrenhause zusammen, ein Bote neuen Schreckens für Urban, der von der Bandomirschen Familie allein noch übrig und eben beschäftigt war, den Leichnam seines Herrn ins Haus zu bringen.
Diese Mordtaten brachten eine allgemeine Entrüstung in Kurland hervor. Besonders Herr von Sieberg und Herr von Roop erhoben ihre Stimme um Bestrafung; der Herzog Ferdinand, dem man einst um den Tod des Herrn von Firks so nahe getreten war, wendete nach diesem Ausgange den Bandomiren wieder seine Gnade zu und verlangte strenges Gericht; Graf Moritz, der wunderbar von seiner Insel entkommen, schrieb von Danzig aus an die Großfürstin in eben dem Sinne, die Bandomire als die ritterlichsten, artigsten Kavaliere beklagend. So hielten es denn die Knorre für geraten, eine Zeitlang nach Litauen auszuwandern. Solcherweise vertrödelte sich der Prozeß und verfiel. Das Schicksal hielt strenger Gericht; der jüngere Knorre starb, ehe er sich vermählt, der alte Knorre, an der Brüggenschen Schußwunde fortkrankend, folgte bald, und so erlosch der Stamm. Frau von Knorre mit ihrer unheilbar zerrütteten Tochter lebte noch ein langes tränenreiches Leben. Sie war nach Ellern zurückgekehrt und fuhr zuweilen mit Hedwig nach der Demmenschen Kirche, wo Scipio beigesetzt war, verhoffend, es werde aus diesem Grabe Genesung für ihre Tochter steigen. Das Gewölbe dieser Kirche hat eine wunderbar austrocknende Kraft, so daß Scipios Leib noch nach hundert Jahren mumienartig erhalten war. Vor kurzem ist es, weil die hölzerne Kirche einzustürzen drohte, verschüttet worden, und mit ihm das letzte äußere Andenken an den Ausgang des Bandomirschen Geschlechts und Namens. Das Gut Ellern wurde später von dem Herzoge gekauft und kam sonach in die Reihe der Krongüter.
Druck von Hesse & Becker, Leipzig.