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1.

Es war ein Wetter, dem man die Jahreszeit nicht genau hätte ansehen können, wenn man aus einem zeit- und wetterlosen Aufenthalte, zum Beispiele einem unterirdischen Gefängnisse, plötzlich hineinversetzt worden wäre. Zuweilen glitzerte wohl eine Stunde lang die Sonne warm und wohltuend durch die Kieferbäume, diese immergrünen Tröster magerer nordischer Erde. Die Luft war dann still und behaglich, und man verwunderte sich über die breiten Schneestreifen, die noch überall zu sehen waren. Vergelbt und verwittert sahen sie allerdings aus, und ein Erd- und Wetterkundiger hätte daran und an einzeln kommenden, lauen Luftströmungen die Frühlingsnähe erraten mögen. Bald aber brach ein eiskalter Sturm über die Waldblößen daher, die Sonnenstrahlen flogen auf Augenblicke mit grellem, weißgelbem Scheine vom Himmel herab durch die Bäume hin, um alsobald in aschgraues Dunkel gehüllt zu werden, in Schneewolken, die gar nicht von der Wolkenhöhe, sondern von den Baumkronen herabzukommen schienen. So schnell, so ungestüm waren sie da und entwickelten ein dichtes, erschreckliches Gestöber, ein heulendes Lärmen und eine eisige Kälte.

Zwei Reiter, welche vom Süden her durch den Forst heraufgeritten kamen, sahen sich genötigt, stillzuhalten, weil man nicht drei Schritte vor sich sah, an die Baumstämme anprallte und jedenfalls die Richtung verlor. Letzteres schien von Wichtigkeit, da die Reiter keiner Straße folgten und die Pferde ermüdet waren. In diesem Unwetter war nicht leicht zu ersehen, welch Geistes Kinder diese Reiter seien, der Schneewirbel machte alles unkenntlich. Ohne ein Wort, ja ohne einen Fluch auszusprechen, hatten sie beim Ausbruche des Wetters angehalten, ohne ein Wort zu sprechen, hielten sie dicht nebeneinander fast eine Stunde lang. Bei Beginn des Wetters mochte man sehen, daß sie braune Mäntel von einem filzartigen groben Tuche trugen und braune Pelzmützen. Aus dem zusammengezogenen Halskragen hing dem einen ein langer, kohlschwarzer, dem andern ein schneeweißer Knebelbart herab. Bald war alles weißgraue Masse, hinter welcher ein Vorübergehender nichts Lebendiges vermutet hätte, wäre ihm nicht der Dampf aus den Nüstern der Pferde aufgefallen. Dicht vor den Pferden, vielleicht um von der Wärme dieses Dampfes Vorteil zu ziehen, stand ebenso unbeweglich ein kolossaler Wolfshund, von der Größe eines vierteljährigen Rindskalbes. Gegen seine Bequemlichkeit, aber seinem sichernden und spürenden Naturell gemäß, stand er mit dem Kopfe gegen den Wind, und als das Stürmen allmählich in strichhaltiges Wehen ausgetobt war, hob er mehrmals die Nase höher in die Luft und sog, die saffianartigen Nasenflüglein bewegend, die Luft ein. Sie mußte ihm etwas verraten haben, denn er wendete dann jedesmal das Auge auf den rechts haltenden Reiter, ohne deshalb den Kopf selbst zu wenden.

Der Reiter mit dem schwarzen Barte, welcher von hinten aus gesehen auf der rechten Seite hielt, schien dies auch bemerkt zu haben; er brach das lange Schweigen und sagte, ohne daß er deshalb den Kopf gewendet hätte, zu seinem Begleiter: »Die Pferde müssen vor dem Wetter doch etwas links getreten sein und uns aus der Richtung gebracht haben, Urban, Pascha wittert Jakuts Rauch rechts drüben.« – Dabei schüttelte er mit zwei kräftigen Handgriffen den Schnee von seinem Mantel, blies ihn auch vom Barte, nahm die Zügel an und setzte sein Pferd nach rechts hin in Bewegung.

»Gnädiger Herr!« erwiderte Urban, augenblicklich folgend – »Pascha wird einen Wolf in der Nase haben, Jakuts Haus kann noch nicht so nahe sein, und die Pferde sind keinen Zoll seitwärts gewichen.«

Der gnädige Herr erwiderte nichts, ließ sich aber in der eingeschlagenen Richtung nicht stören. Erst als Urban seine Behauptung mit andern Worten wiederholte, sagte jener: »Schwatz nicht so unwissend! Wenn du noch einmal siebzig Jahr alt würdest, so bliebst du doch ein schlesischer Bauer, der die geheimen Wahrzeichen in Jagd und Krieg nicht lernte. Reitest nun vierzig Jahre mit mir in der ganzen Welt umher durch Feld und Wald und Sumpf, und weißt noch nicht, wie Pascha mit gesträubtem Haare einen Wolf anzeigt.«

Pascha, der Hund, hatte sich unterdes auch den Schnee von seinem schwarzgestriemten, graubraunen, langen Haare geschüttelt und trabte in schnurgerader Linie voraus, zuweilen stillstehend, um den Schritt reitenden Reitern nicht zu weit vorauszukommen. Er hob dann jedesmal seinen langen, wie eine Fuchs- oder Wolfsrute dicht behaarten Schweif und wedelte damit ein wenig, den schmalen schwarzen Kopf nach seinem Herrn zurückwendend. Dieser schien dadurch vergewissert zu werden, und da die Luft endlich wieder ganz frei geworden, und sie aus dem Stangenholze auf eine lichte Heide gekommen waren, rief er munter: »Vorwärts, Pascha!« gab seinem Pferde die Sporen, und mit fliegenden Mänteln, den sich lang streckenden Pascha voraus, flogen sie durch die graue Luft über die schneeige Heide dahin, bis der Hund plötzlich stehen blieb. Die Reiter parierten ihre Pferde und näherten sich langsam der Stelle, wo der Hund stand. Urban griff in die Pistolenhalfter, um sich schußfertig zu machen, der Herr aber machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und brummte wiederum etwas von Unkunde Urbans in den Bart.

Als sie Pascha erreichten, standen sie mit ihm an einem gerölligen Abhange, an dessen Fuße ein kleiner See, halb gefroren, halb offen. Jenseits des Sees stieg eine Berglehne auf, deren Verzäunung Äcker andeutete; weiter aufwärts kam ein dichter Fichtenhag, aus welchem Rauch hervordrang. »Ach, Jakut!« rief Urban. Sie suchten auf einem kleinen Umwege das Tal und die gegenüberliegende Höhe zu gewinnen, und als Pascha zu wiederholten Malen stehen blieb, starr auf den See hinuntersehend, rief ihm der Herr zu: »Komm, komm, 's ist keine Zeit dafür.« Von diesen Worten ging denn auch sogleich ein Flug wilder Enten vom See in die Höhe und strich über ihren Häuptern hin. »Sie streichen rechter Hand ab, gnädiger Herr!« rief Urban, »ein schlimmes Zeichen! Jakut wird nicht daheim sein, und unsere hungrigen Pferde und wir werden keine Labung finden!« Ohne darauf zu achten, jagte der Herr in vollem Rosseslaufe die Berglehne hinauf, in den Fichtenhag hinein, welcher Jakuts Haus verbarg. Drei Hunde stürzten ihm wütend entgegen, schwiegen aber sogleich, als sie ihn und den zähnefletschenden Pascha erblickten oder erkannten.


Diese martialisch aussehenden Reiter waren ein paar alte Knaben, wie man trotz des Rauches in Jakuts Behausung deutlich genug sehen konnte, nachdem sie ihre Filzmäntel abgelegt und über den dürftigen Imbiß sich hergemacht hatten, den Jakut, ein hier angesiedelter Roskolnike, äußerst behende und unterwürfig herbeischaffte. Der Herr mit dem gebieterisch dräuenden schwarzen Barte war hoch und schlank gewachsen, trug sich auch trotz vorgerückten Alters noch sehr stolz und gerade. Wäre nicht die runzlige Haut des sonnenbraunen Antlitzes, besonders um die Schläfe tief eingefaltet, wäre nicht das ganz kurz geschorene graue Haupthaar zum Verräter geworden, man hätte ihn dem scharfen schwarzen Auge, dem fest geschlossenen Munde und den bestimmten energischen Bewegungen nach für einen Vierziger gehalten. Dem sonst noch jugendlichen Ansehen des wohlgebildeten länglichen Kopfes mochte es in diesem Augenblicke besondern Eintrag tun, daß der alte Herr offenbar mehrere Tage hintereinander im Freien ohne alle Hilfsmittel der Toilette verbracht hatte. Die schmalen Backen und das starke Kinn waren bedeckt mit grauem Stoppelbarte, der vielleicht sonst, unter scharfem Messer gehalten, seinen grellen Kontrast mit dem schwarzen Schnurrbarte nicht geltend machen durfte. Es war aber auch in der Tat eine anstrengende Tour, auf welcher sich der alte Herr und sein alter Diener befanden. Sie kamen an der kurländisch-litauischen Grenze herauf von Westen nach Osten zu reitend, als wollten sie geraden Weges nach den Ufern der Düna, welche gegen Osten hin Kurland von Livland scheidet. Und diese Tour an den litauischen Seen her war gefahrvoll, da sie eine Kundschaftung halbfeindlicher Einfälle seitens der Litauer zum Zweck hatte, und da der Kundschafter selbst, unser alter Herr, von den Litauern sehr wohl gekannt war als ein kurischer Kriegsmann, den man nicht halb, sondern ganz feindlich, das heißt mit Kugel und Schwert begrüßt hätte, wenn man ihm begegnet wäre. Heute kam er mit seinem Urban von dem Flecken Esoros über Jurka und Kruki bis gegen Braslaw herauf durch den gefährlichsten Grenzstrich Litauens, und war nun wieder ins Kurische eingeschwenkt, da, wo neben einem großen und mehreren kleineren Seen ein breiter Wald die kurische Grenze bildet und sich bis gegen den Edelhof Schönhaiden hinzieht. Dieser Wald war eine gewöhnliche Passage der litauischen Edelleute, wenn sie mit ihren Reitern ins kurische Oberland einfielen. Eine halbe Stunde, nachdem unsere Reiter in diesen Wald eingeritten, hatte sie das obige Wetter aufgehalten, und da es schon Nachmittag und der Tag noch nicht lang war, so war ihnen große Eile nötig, wenn mit einbrechender Nacht Schönhaiden erreicht werden sollte.

Dieser südwestliche Zipfel Kurlands, um den es sich hier handelt, das sogenannte Oberland Semgallens, ist vielfach verschieden von dem übrigen nach der Ostsee sich hinausbreitenden Kurland. Wer etwa auf der Heerstraße von Memel nach Petersburg gereist ist, und über Mitau kommend, das kurische Land solchergestalt durchschnitten hat, der schließe von jenem einförmigen Landstriche ja nicht auf das ganze Herzogtum Kurland und Semgallen. Dies Oberland ist mannigfaltiger und interessanter, und hat in seinem Gemisch von weich gebogenen Hügeln, breiten Tälern, langen Wäldern und Seen ein ganz anmutiges Aussehen. Ja, der südliche Teil der Seelburgschen Oberhauptmannschaft, die Illuxtsche Hauptmannschaft, unser Schauplatz, die sich an der Düna stromaufwärts zieht bis an das Gouvernement von Minsk, gegenüber dem Witepsker Lande von Weißrußland, kann die kurische Schweiz genannt werden, wenn solch ein übertreibender und immer schief bezeichnender Ausdruck gebraucht sein sollte. Ein langer Höhenzug mit Verzweigungen ins Semgallner Land herüber begleitet die Düna und bildet an diesem Zipfel Semgallens, wo Kurland einen Keil hineindrängt zwischen Livland, Witepsk und Litauen, das kurische Oberland. Und nicht bloß im Äußeren unterscheidet sich dieser Landstrich vom übrigen Kurland, er hat auch die gemischteste Bevölkerung. Im übrigen Kurland ist neben der deutschen Sprache, welche der Herr, der Eroberer, der Edelmann, kurzweg der Kurländer redet, die lettische Sprache die Grundsprache. Die wenigen Worte, mit denen unser alter Herr den beflissenen Jakut anredete, waren aber nicht lettische, sondern russische. Polnisch, Litauisch und hie und da Russisch gehen seit Jahrhunderten im Oberlande zwischen und unter dem Deutschen einher. Jakut war ein roskolnikischer, das heißt ein altgläubiger Russe, deren sich viele im Oberlande angesiedelt haben. Sie waren von jeher frei, leben größtenteils als Zinsner auf den Gütern, in Gesinden zerstreut, oder unter derselben Eigenschaft in Dörfern beisammen. Fleißig und nüchtern, betriebsam und anstellig, ja schlau und klug erfreuen sie sich alle einer gewissen Wohlhabenheit, im Vergleich mit den stumpferen Letten selbst eines gewissen Reichtums. Aber weil sie eben nicht gedankenlos wie diese sind, muß man im Verkehr mit ihnen vorsichtig sein; sie trachten, spekulativ in ihrer Weise, Tag und Nacht auf Erwerb, und in dem damaligen aufgelösten Zustande von Parteiungen, für welche sie keinerlei inneren Anteil hegten, suchten sie, gleichgültig über Farbe und Zweck des einen oder des anderen, links und rechts ihren Vorteil. Der Litauer, wenn er sich ihnen durch Geld oder sonstwie mächtig erwies, konnte ihre Dienste ebenso haben wie der Kurländer, der sie zu behandeln verstand; schmiegsam, auf alles merkend, die Schwächen anderer leicht erspähend, mutig und erforderlichenfalls tollkühn und jede Gefahr verachtend, zu alledem mit einer tüchtigen Gesundheit und ungewöhnlichen Körperkräften ausgestattet, waren sie jener Zeit ein wichtiger, wenn auch kleiner Teil der oberländischen Bevölkerung. Insbesondere verstanden sie sich meisterhaft auf das hauptsächlichste Hilfsmittel jener Gegenden, auf das Pferd, denn rasch vom Flecke zu kommen, war dort an der Grenze von Reitervölkern, wo der Ärmste nicht gern zu Fuße geht, eine Hauptsache. Um ein gutes, versuchtes Pferd zu kaufen, wendete man sich am liebsten an einen Roskolniken, und eins, das man besaß, zu hüten, sicherte man am meisten vor der schnellen Hand dieser Zinsner, welche wie der Blitz damit verschwunden waren nach den entlegensten Pferdemärkten Weißrußlands oder Litauens.

Unter solchen Umständen war Jakut auf seinem einsamen Grenzzinse ein wichtiger Posten, und es mußte auffallen, daß ihn der alte Herr kurz und barsch behandelte, ja ihn unsanft anfuhr, als sich der Roskolnike beim Ausliefern des Hafers an Urban teilnehmend mit dem Grauschimmel des Herrn zu schaffen machte, ihm die Kehle befühlen und nach den Zähnen sehen wollte. »Er beißt und schlägt, Jakut!« setzte indessen der alte Herr wie begütigend hinzu, als er ihn gröblich weggescheucht hatte. Der Herr General, wie ihn Jakut nannte, ein offenbar erfahrener und gewiegter Lebemann jener Gegenden, kannte doch gewiß sein Terrain und seine Leute, denn es ergab sich, daß er nur eine kleine Strecke hinter Schönhaiden, also in demselben Grenzteile des Oberlandes auf den Höfen Kummeln und Brüggen zu Hause war und schon lange mitten unter dieser gemischten Bevölkerung lebte.

Um von Kurland im ganzen eine deutliche Vorstellung zu gewinnen, verbildliche man sich zuerst dessen äußere, sehr einfache Figur, und teile sich selbige sodann in drei Abteilungen, welche durch drei fast parallel nebeneinander nach Norden hinabfallende Flüsse: Windau, Aa und Düna, äußerst anschaulich gebildet werden. Die Figur dieses an fünfhundert Meilenquadrate umfassenden Landes ist ein Dreieck, dessen Basis im Süden auf Litauen steht, dessen Spitze nach Norden in die Ostsee hinausläuft. Der linke, westliche Schenkel, das Land der Windau, geht von Polangen abwärts an der offenen Ostsee hinab. An dieser uns Deutschen zuliegenden Seite hat es zur Zeit Herzog Jakobs um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts lebhafte Versuche gemacht, sich durch die Seeplätze Libau und Windau mit deutscher und skandinavischer Welt in unmittelbare Verbindung zu setzen. Auf dieser Seite also ist die meiste Ähnlichkeit mit unserer westlichen Verkehrsweise zu suchen. Der rechte, der östliche Schenkel, das Land der Düna, steigt von der Nordspitze, der Leuchtturmspitze Domesnes, nach Süden hinauf erst am Rigaischen Meerbusen, dann die Düna selbst aufwärts bis in die Gegend des weißrussischen Städtchens Drissa. Wo der Rigaische Meerbusen aufhört, ist die Düna Landesgrenze, auf dieser östlichen Seite also wiederum lauter Wassergrenze, aber, weil größtenteils ein leicht überschreitbarer Fluß, von ganz anderer Einwirkung als die offene See im Westen. Der wichtigste Grenzpunkt auf dieser Seite war die alte Hansestadt Riga, welche einige Meilen oberhalb der Dünamündung liegt, und nach welcher hin aller Absatz aus dem innern Kurland gerichtet war, weil die Seeplätze Libau und Windau nur kurze Zeit eine lebensvolle Bedeutung hatten, weil der deutsche Grundstock Rigas lebhafte Anziehungskraft besaß für die aus Deutschland stammenden Gutsbesitzer Kurlands, und weil von Zeiten des Deutschen Ordens her, welcher die deutschen Kurländer hergeführt und begründet hat, eine tiefere historische Gemeinschaft bestand zwischen Kurländern und der Hauptstadt Livlands, da Livland ebenfalls Ordensland war. Die nördliche Hälfte der Dünagrenze entlang gab es also für die Kurländer ein verwandtes Gegenüber. Die südliche Hälfte aber hatte jenseits der Düna die witepskische Landschaft von Weißrußland zum Gegenüber, russische Welt. Und zwar betraf dies unser ganzes Oberland, welches überall ostwärts an die Düna stößt und jenseits derselben in die witepskischen Ebenen sieht. Ebenso grenzt dasselbe und im Verlauf nach Westen hin das ganze südliche Kurland südwärts mit slawischer Völkerschaft, denn die südliche Basis des kurländischen Dreiecks hängt seiner ganzen Breite nach mit dem offenen Litauen zusammen. War also alles übrige Kurland seefrei und dadurch für sich abgeschlossen oder aufgetan von Polangen abwärts bis zur Nordspitze, und bis Dünamünde in den Rigaischen Meerbusen hereinwärts, war es ferner an der nördlichen Düna von der verwandten livländischen Herrschaft begrenzt, so wurde dies doch an der obern Düna und im ganzen Süden anders. An dieser östlichen und südlichen Grenze also mußte sich das mannigfaltigste, weil verschiedenartigste Leben entwickeln. Solch Leben ist nicht immer dem Landesgedeihen das förderlichste, wohl aber dem Romangedeihen.

Unser alter Herr in Jakuts räucheriger Stube ohne Schornstein schien das Land auf und nieder zu kennen, von den Leuchttürmen unten an der See bis Polangen, und vom gedrängten Ausflusse der Windau bis zu den Moorniederungen der nördlichen Aa, des Flusses der Mitte. Jakut schwatzte von seinem Pferdehandel, der ihn im ganzen Lande umherführte, und der alte Herr berichtigte oft mit einem Worte den ungenauen Erzähler, den er allem Anscheine nach viel lieber über die litauische Grenze reden gehört hätte. Sowie aber hierauf die Rede kam, strich Jakut seinen schwarzbraunen Bart, welcher breit und schön sein ganzes Untergesicht bedeckte, drückte die Augenlider halb über die lichtblauen Augen und sprach bloß seufzend: »Dort sind schlimme Herren, gnädiger Herr General, dorthin seh' ich nicht!«

»Lüge nicht, Jakut! Der Braslawsche Ökonomus Chabelsky ist erst vorgestern mit seinem ganzen Aufgebote durch dein Tal gezogen und hat sicherlich bei dir gefüttert.«

»Vorgestern, gnädiger Herr General, war ich blind und taub, denn ich war drüben in Dünaburg und habe die rote Stute gekauft, die draußen im Stalle nach Eurem Hengste wiehert, für schweres, sehr schweres Geld, meine letzten Silberstücke.«

»Und du hast ihn nicht gesehen? Nimm dich in acht, Jakut!«

»Wie konnt' ich, da ich in Dünaburg!«

»Und du bist ihm heimkehrend nicht begegnet?«

»Nicht mit einem Auge.«

»Jakut! In ein paar Stunden bin ich beim Schönhaidner, von dem du zu Zins sitzest; er trachtet wie ich diesen räuberischen Einfällen Chabelskys nach, die Chabelskyschen haben ihm erst in voriger Woche eine Herde Rinder und fünf Leute weggetrieben. Wenn du nicht behilflich bist, jagt er dich aus deinem Zinse, wenn du verhehlst, kitzelt er dich unter dem Barte und auf dem Rücken, wenn du gar mit den Litauern schmuggelst, macht er dir den Bart starr und den Rücken steif! Besinne dich!«

Da fiel Jakut nieder und küßte dem Herrn General den Stiefel, sich hoch und teuer verschwörend, er sei über alles unkundig, und wollte ja gern helfen, wo er könne.

»So sattle deine Stute und führe mich nach Schönhaiden so, daß wir den Chabelskyschen, die noch hüben sind im Oberlande, nicht begegnen.«

»Gnädiger Herr General, meine Stute und Euer Grauschimmel würden immer lüstern nebeneinander schreien und unsern Ritt verraten.«

»Die Litauer sind also so nahe, daß sie unsere Pferde schreien hören?«

»Das weiß ich nicht, aber wenn sie drüben sind, so ist's doch möglich, und da es heute Sonnabend ist, und sie gerne Sonntags in ihrem Kruge sitzen, so ist's wahrscheinlich, daß sie heute heimkehren.«

»Und durch deinen Wald nehmen sie also ihren Weg?«

»Das weiß ich nicht, gnädiger Herr General; aber da sie wissen, daß Ihr und andere ihnen ringsum nachspüren, so nehmen sie am liebsten den Wald an wie die Elen und die Füchse.«

»Woher weißt du denn, daß sie's wissen? Jakut, tu gut, wenn dir dein Bart lieb ist! Dein Kantschu wird deine Stute, mein Schenkel wird meinen Hengst still machen, mach' fort und zäume dein Pferd, die Sonne geht zu Rande!«

Sie brach in diesem Augenblicke den Schleier, welcher seit dem Schneesturme den Tag eingehüllt hatte, und drängte sich durch die Rauchwolken des Jakutschen Gemaches, mit derselben goldigen Schönheit die dürftigen Geräte des Roskolniken schmückend, mit der sie die Spiegelwände und vergoldeten Möbel eines Palastes schmückt. Ist's zu verwundern, daß soviele Menschen schon gesagt haben: Die Sonne ist Gott, und Gott ist die Sonne! Findet nicht auch die Liebe im Auge des anderen den ganzen Menschen? Urban schien ein solcher Sonnenanbeter zu sein; er stand mit gefalteten Händen am Rauchloche, welches ins Freie führt, und sah ohne mit der Wimper zu zucken in die blendende Feuergarbe hinein. Er hatte ein grobgeschnittenes, von tiefen Furchen durchgrabenes Bauerngesicht, das man zu jeder Zeit altmodisch nennen konnte, dem aber breite Schmarren einen wohltuenden Ausdruck von Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit gaben.

Er wendete sich plötzlich nach seinem Herrn, der mit untergeschlagenen Armen auf der hölzernen Bank saß, auch die mit hohen, weichfaltigen Reiterstiefeln bewehrten Beine übereinandergelegt und das Haupt wie müde an die Balkenwand gelehnt hatte. »Ich wollte, gnädiger Herr« – sagte er inbrünstig – »wir hätten's diesmal überstanden und Schönhaiden erreicht; Jakut ist für die Litauer, und die Chabelskyschen sind ganz gewiß in der Nähe. Sie machen auch sicherlich kein Federlesen mit Euer Gnaden, wenn sie eine Kugel oder einen Säbelhieb anbringen können, denn sie halten uns für ihre gefährlichsten Feinde, weil wir den Krieg verstehen, und sie glauben gewonnen Spiel mit dem Oberlande zu haben, wenn in Brüggen und Kummeln kein Bandomir mehr Hof und Wache hält.«

Der alte Herr sah ihn gutmütig, fast lächelnd und schweigend eine Weile an, und ohne das Haupt von der Balkenlehne zu entfernen, sagte er dann: »Wenn sie auch uns beide totschlagen, Urban, unsere Jungen wachsen in jeder Nacht; 's wird länger Bandomire geben als Litauer. Zwischen Pultawa und Bender waren wir noch schlimmer dran als hier, und 's ist gut zu End' gegangen – bist du denn mit den Pferden fertig, daß du zum Schwatzen Zeit hast, und sind die Pulverpfannen alle versehen?«

»Alles zu Befehl, Herr Oberstwachtmeister!«

Nach diesen Worten erhob sich der alte Herr rasch wie ein Jüngling, die niedrige Holzdecke fast berührend mit seinem Scheitel, schnallte den Degen fest um den Pelzrock und schritt hinaus. Den Mantel warf er sich selbst um, griff auch selbst nach seinem Pferde, ganz wie ein Mann, der vom Diener keine Nebensache verlangt, wo die Zeit kostbar, und der Diener ebenso gefährdet ist wie der Herr. Schon den Fuß im Bügel stutzte er und hielt inne vor einem, dem Anscheine nach geringfügigsten Dinge, vor einem Häuflein Pferdemist. Er stieß mit dem Stiefel in den gefrornen Haufen, um etwas abzubröckeln, und sagte zu Jakut, der sich eben auf seine nach dem Hengste ausschlagende und quiekende Stute schwingen wollte, mit sehr herbem Nachdruck folgendes: »Dein Mund ist nicht rein, Jakut, hier sehe ich an den Gerstenhülsen im Dünger, daß die Litauer bei dir gewesen sind, sie füttern diesen Winter alle gesamt Gerste, weil der letzte Hafer mißraten ist – führ' dein Pferd zurück in den Stall und komm' zu Fuß mit mir, und sobald du in bedenklicher Absicht strauchelst, schieß' ich dich über den Haufen. Schweig, marsch!«


Die Sonne war eben untergegangen und der letzte Tagesschein lag rot über den Wäldern, als die beiden Reiter und der zu Fuß nebenherlaufende Jakut auf eine Höhe kamen, von welcher man den Wald weithin übersehen konnte, weil er sich nach Westen gegen Schönhaiden hin wohl eine halbe Stunde lang abwärts zog und nur aus niedrigem Unterwuchse bestand, der, schlecht angesät oder angeflogen, überall breite leere Stellen zwischen dem dichten Kiefergebüsche zur Durchsicht bot. Pascha bildete wie immer den Vortrab, und als er plötzlich hochgeringelten Schwanzes und den Kopf hoch nach dem nordwestlich herkommenden Luftzuge haltend stehen blieb, tat der alte Herr ein Gleiches und winkte in demselben Sinne seinen Begleitern. Urban stieg sogleich ab und legte seinen Kopf an die Erde, nachdem er ein kleines Fleckchen von der schwachen Schneelage befreit hatte. Jakut mochte es für angemessen halten, dem schweigsamen, ihm mißtrauenden alten Herrn seine Bereitwilligkeit zu zeigen, und kletterte eiligst an einem vereinzelt stehenden Kieferbaume in die Höhe, wahrscheinlich um noch weitere Umsicht zu gewinnen. Aber auch diese Dienstfertigkeit mochte dem alten Herrn unpassend dünken, wenigstens machte er mißbilligende Handbewegungen. Jakut aber sah sie nicht und kletterte bis in die Krone des Baumes, ein mündliches Verbot schien dem alten Herrn um des Geräusches halber nicht ratsam, er ließ jenen also gewähren und ritt mitten in den nahen Unterwuchsbusch hinein, der sein Pferd deckte, und auch ihn, wenn er sich nach dem Halse desselben vorbeugte, bei dem allmählich hereinbrechenden Zwielichte leidlich barg. So harrten sie alle regungslos, Jakut in der Baumkrone zusammengekrümmt, einem Raubvogelneste nicht unähnlich. Es war nichts zu vernehmen als das Seufzen und Knarren der einzelnen hohen Kiefern, gegen welche der scharfe Luftzug sich stemmte. Der Abendstern fing an, Glanz zu gewinnen, und die Eule erhob einige Male hinter ihnen im hohen Holze ihren wie Unglückskunde hohlklingenden Ruf, die ewige Walduhr, welche die hereinbrechende Nacht ausruft. Dennoch ward Paschas Stellung immer fester und straffer, auch der alte Herr neigte das Ohr nach einer ganz bestimmten Richtung, als folge er einem Geräusche, und Urban war aufgestanden und brachte sein Pferd ebenfalls herein in die Dickung, leise zu seinem Herrn sagend: »Es sind Hunde dabei, und sie kommen scharf geritten.« Dieser nickte mit dem Kopfe. In diesem Augenblick fletschte Pascha die Zähne; und in einer Entfernung von nur hundert Schritten trabten zwei Wölfe in scharfem Paß vorüber. Pascha sah ihnen indes nicht nach und blieb unbeweglich. Nun entwickelte sich leise auch für den Unkundigen ein Geräusch von Norden her, neue Tiere des Waldes, diesmal in lauter, polternder Flucht, bezeugten, daß Menschen und zwar zahlreich im Hintergrunde seien. Ein Trupp Elentiere nämlich kam in raschester Gangart über die Lichtung und prallte mit großem Geräusche seitwärts, als er auf die Fährte der Wölfe geriet. Man unterschied nun deutlich Pferdetrab, Menschenstimmen, Hundegebell, und mit einem leisen Pfiff lockte der alte Herr seinen Pascha zu sich herein in das Gebüsch. – Man unterschied jetzt einzelne Worte aus dem wüsten Geräusch, und Urban wendete sich vergnügt und nicht mehr ganz leise zu seinem Herrn mit den Worten: »Es sind Kurländer!« – »St!« flüsterte dieser, »aber was für welche! Knorres und Thorhackens fliegende Jagd ist's, die's mit Chabelsky halten, und die uns ebenso hassen wie die Litauer. Sie schweifen mit der Jagd bis hierher, weil sie mit jenen unter einer Decke spielen.«

Unterdes waren die Heranreitenden, deren Zug hinter unserer Gruppe vorüber seine Richtung zu nehmen schien, auf ungefähr zweihundert Schritte von Jakuts Baume gegenüber angekommen, da fiel ein Schuß, man hörte die Kugel in die Baumkrone Jakuts knackend einschlagen, Jakut selbst kam wie ein losgeschnittener Ballen am Stamme heruntergerutscht und verschwand an der Erde, die schon mit tieferer Dunkelheit bedeckt war.

»Was war's?« schrien mehrere Stimmen zugleich, und der Trupp, welcher trabend vorübergeritten war, hielt still. Der Schütz, welcher zurückgeblieben, um zu schießen, weil er die schwarze Masse in der Baumkrone gegen den oben noch lichten Abendschein entdeckt hatte, rief zurück: »Ein Raubvogel auf der Kiefer, der aber herunter kam wie ein Luchs!«

Hunde und Reiter kamen sogleich herzu, und da man am Stamme nichts fand, schrie ein älterer Herr: »Kreist ein, kreist ein! Aber rasch, daß wir Jakuts Haus noch finden, eh' es stockfinster wird. Der Mond kommt erst um zehn!«

Der Befehl, einzukreisen, war von größter Gefahr für unsere Reiter, da ihre Dickung in die Nachsuchung mit inbegriffen sein konnte, und die Entdeckung durch Hunde und Jäger alsdann unvermeidlich war.

Sah dies nun Jakut voraus, und war er wirklich sorgsam für den alten Herrn, oder hatte ihn ein Hund ausgestöbert, der dem auf der Erde Fortkriechenden eiligst nachgekommen war bis ins nächste Gebüsch, und der jetzt laut anschlug, kurz, alles stürzte dahin, Jakut war, wie das durcheinander lärmende Geschrei kund gab, in den Händen der Jäger, und die unmittelbare Gefahr war von den beiden Reitern abgewendet. Geschrei und Gelächter waren indessen so groß und so dicht durcheinander, daß sie nicht unterscheiden konnten, ob Jakut verwundet sei, was er vorbringe, und ob er gutwillig oder protestierend mit ihnen abziehe. Letzteres freilich, daß nämlich ihr Führer wieder heimwärts nach seiner Wohnung steuere oder gesteuert werde, und daß die Weiterreise durch Nacht und Wald ihren Kräften und Kenntnissen allein obliege, das erkannten sie deutlich, und sie machten sich denn auch ohne Verzug auf den Weg, da sie sich vor Jakuts Verräterei, also auch vor einer Rückkehr des lärmend in Ferne und Nacht hinziehenden Trupps nicht sicher glaubten.


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