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Es waren einige Jahre vergangen. Stanislaus, dessen Charakter sich, von Leidenschaften getrieben, so frühreif unternehmend angekündigt, war ruhiger geworden, und Scipios Beispiel und Einwirkung, Geist und Wesen in wissenschaftlichen Studien zu erweitern und zu mildern, schien von gutem Einflusse gewesen zu sein, wenn auch Stanislaus nicht zu dem Behagen und der Genüge des Studiums gekommen war wie Scipio. Sie hatten anderthalb Jahre in Königsberg verbracht, und der gegen die Kurländer aufgeregte Zorn schien sich in der studentischen Duellgenugtuung erschöpft zu haben. Manches harmlosen Kurländers Angesicht mußte die den Bandomiren angetane Beleidigung entgelten und die Schärfe des Schwertes empfinden, denn die körperlich so wohl ausgerüsteten Brüder erwarben sich bald eine überlegene Gewandtheit in Führung der Studentenwaffe. Feindschaft gegen den kurischen Adel und Rechtsstudium entwickelten in den Brüdern einen systematischen Widerwillen gegen alle Aristokratie, obwohl es im Grunde keinen aristokratischer gearteten Menschen gab als Stanislaus von Bandomir. Edlere Naturen haben aber das Bedürfnis in sich, eine Abneigung, welche sie treibt, zu einem allgemeinen Prinzip zu erheben, und so stehen sie denn oft mit philosophischer Begründung ihrem eigenen Wesen feindlich gegenüber.
Nachdem die Brüder noch ein Jahr in Heidelberg studiert, bereisten sie Frankreich und verweilten mit besonderer Vorliebe in der Schweiz, weil Stanislaus hier das Ideal eines freien Bauernstandes zu finden glaubte, und weil die Reize des Hochgebirgs, damals noch nicht das Modeziel aller Reisen, große Macht auf die Brüder, besonders auf Scipio, ausübten. Sie strichen wochenlang allein in den Alpen umher, und was heute alle Tage begegnet, war ihnen damals eine seltene Überraschung, als sie in hochgelegener Sennhütte zwei Damen aus der vornehmen Gesellschaft antrafen, die unter Leitung eines Führers auf einer Alpenwanderung begriffen waren. Es war Regenwetter eingetreten, man war an die Hütte gebannt, Anknüpfung und Bekanntschaft gab sich unter solchen Umständen rasch und natürlich, und da beide Teile über Namen und Herkunft zu sprechen vermieden, so suchte man geflissentlich allgemeine Themata, und Stanislaus, mit leichter Mühe eine adelige Dame in der älteren vermutend, erging sich mit aller Widerspruchslust der Jugend in seinem Lieblingsthema, in der Opposition gegen die Vorrechte des Adels. Die Dame schien das mit guter Laune aufzunehmen, vielleicht weil sie in den beiden wohlgebildeten Männern ebenfalls Kavaliere zu erkennen, und in dieser Opposition nur ein Spiel des Verstandes, jedenfalls keine eigennützige Absicht zu sehen glaubte.
»Sie werden doch nicht behaupten wollen,« sagte die Dame, »daß ein Mensch wie der andere ist, daß also alle dieselben Ansprüche machen dürfen?«
»Warum nicht, Madame?«
»Weil das verrückteste Zeug entstünde, wenn man dergleichen durchführen wollte! Die Liebe zum Beispiele zwischen Mann und Frau wäre alsbald etwas ganz Gleichgültiges, denn jeder Mann fände jede Frau, jede Frau fände jeden Mann gleich liebenswürdig oder unliebenswürdig, da ein Mensch wie der andere beschaffen wäre.«
»Sie scherzen, Madame, ich spreche nur von einer Gleichheit vor dem Rechte, nicht vor dem Herzen!«
»Ist das Herz nicht der genialste Richter?«
»Das weiß ich nicht. In meinen Rechtsstudien habe ich nichts davon gehört oder gelesen. Aber ich sollte meinen, ein unverdorbenes Herz müßte schmerzlich berührt werden von den grellen Unterschieden, die in der gesellschaftlichen Welt zwischen den Menschen bestehen.«
»Der liebe Gott selbst hat es an das Schauspiel dieser Unterschiede gewöhnt: man sieht von Jugend auf die verschiedenartigsten Wesen um sich her, schöne und häßliche, begabte und ungeschickte, kluge und dumme, und alle heißen Menschen, alle sind Menschen – die Unterschiede sind also wohl nicht so unnatürlich!«
»Aber Mama,« sprach die jüngere Dame, welche sich bisher vorzugsweise mit Scipio unterhalten, dazwischen, »der Prediger sagt, es sei Gottes Wille, daß die Unterschiede der Natur durch die Menschen ausgeglichen würden.«
»Das soll auch unser Wille sein, aber ausgleichen heißt nicht aufheben. Hieße es nicht Gottes Gabe geringschätzen, wenn man das Geringere auf Kosten des Vorzüglicheren erheben, wenn man den Begabten herunterstellen wollte zum Unbegabten?«
»Aber es liegt wohl im Sinne des Christentums,« nahm Scipio das Wort, »demjenigen, den die Natur ärmlich bedacht hat, vorzugsweise zu Hilfe zu kommen. Der Begabte hilft sich schon selbst, dem Verwahrlosten eben muß die gesellschaftliche Einrichtung helfen.«
»So wäre die Gesellschaft ein Hospital; sie bekümmerte sich nur um Schwache, und die schönen Mittel des Aufschwunges, welche Gott in die Begünstigten gelegt, würden nicht aufwärts zur Erhebung der Menschenfähigkeit benützt, sondern nur niederwärts, der Fittich des Adlers hätte nicht mehr nach der Sonne aufzusteigen, sondern nur als abgelöster Flügel schwachatmigen Menschen Luft zuzuwedeln. Wie können ein paar so glücklich ausgerüstete junge Männer das System der Mittelmäßigkeit zu dem ihrigen machen!«
»Ich glaube, Sie mißverstehen uns, Madame,« antwortete Stanislaus schnell, »und wir werden uns rascher klar werden, wenn wir von einem festen Beispiele ausgehen. Madame sprechen das Deutsche mit jenem reinen, blassen Akzente, wie man es in den Ostseeprovinzen redet, kennen also wahrscheinlich auch die Staatsverfassung jener Gegenden.«
»Warum nennen Sie mir einen Akzent, der etwas Vornehmes in seinem bescheidenen und doch straffen Einhergehen hat, und den Sie offenbar selbst reden, warum nennen Sie ihn blaß?«
»Ich wüßte nicht, daß ich ihn selbst redete, ich bin aus Böhmen. Blaß nenn' ich ihn, weil ihm eben Farbe und Ton mangelt, weil er die Vokale so klanglos wie möglich macht, das laute ei sogar zum halbtönigen eei dämpft, weil er, korrekt und fest, nur eine platte, einförmige Redemelodie, keinen Rhythmus und Schwung zeigt.«
»Das ist ja abscheulich, wie Sie unserm Kurländischen mitspielen.«
»Dem Kurländischen also? Nun, von dem dortigen Adelsregimente zum Beispiel wollte ich für unser Gespräch bestimmtere Fragen entnehmen.«
Dies geschah denn, und zwar in so lebhafter Manier, daß die Dame nach einigen Entgegnungen lachend in die Worte ausbrach: »Hätten Sie mir nicht gesagt, daß Sie aus Böhmen seien, so hätte ich darauf gewettet, es wäre Ihnen in meinem etwas bunt regierten Vaterlande das Indigenatsrecht abgeschlagen worden!« Als Stanislaus bei dieser Äußerung über und über rot wurde, lenkte sie das Gespräch mit großer Behendigkeit auf ein anderes Thema, zog ihre Tochter und Scipio hinein, die sich abgesondert aber teilnahmsvoll miteinander sprechend verhielten, und hatte bald das allgemeine Interesse nach ganz andern Seiten gewendet.
Diese Dame mochte in ihrer Jugend schön gewesen sein; jene gewisse Fülle des Alters hatte zwar die edlen Formen etwas überschwellt, aber die anmutigen, vornehmen Züge des Antlitzes beschützt; das blaue Auge war etwas lichterer Farbe geworden, aber die lichtbraunen Haare waren noch voll, der feingeschnittene Mund war trotz der kleinen Sorgenfältchen an der Seite noch fest, und wenn nicht in der Lippenwendung etwas Schmerzliches und in einer Falte zwischen den Augenbrauen etwas Kummervolles unwandelbar sich eingeprägt hätte, so wäre der vollen, stattlichen Büste noch ein lockender Ausdruck von Frauenschönheit verblieben gewesen. Wunderschöne Hände und Zähne taten hierzu das ihrige. Aber jene Zeichen von Schmerz und Kummer beherrschten doch die Erscheinung dergestalt, daß Stanislaus, den die Dame lebhaft anzog, vorzugsweise von dem Gedanken betroffen und gelockt war, es müsse hier eine interessante Lebensgeschichte zum Grunde liegen. Der Tochter Hedwig sah er neugierig in das eben erblühende Mädchenantlitz, neugierig, wie es schien, ob wohl die Mutter ebenso ausgesehen haben möge. Das schwarzblaue Auge des Mädchens, weit geschlitzt und in einem bläulichen Weiß ruhend, schien ihm ebenfalls in jenem romantischen Schleier zu leben, der ihn aus der Lebensgeschichte der Mutter anmutete, und daß es so neugierig oft auf ihm zu ruhen schien, obwohl das Ohr dem sprechenden Scipio zugeneigt war, das versetzte ihn in die angenehmste Stimmung des Erwartens, des Gespanntseins. Glücklicher Jugendzauber der Romantik, da die Seele noch unbekannten Entzückungen entgegenlauscht, da jedes unerwartete Geräusch uns aufregt, als ob das verhüllte Wunder uns plötzlich erscheinen werde! – Auffallend war es, daß die ältere Dame am nächsten Morgen, da das noch anhaltende Regenwetter ein längeres Verweilen in der Sennhütte nötig machte, in ihrem Benehmen eine unverkennbare Veränderung zeigte. Sie war einsilbig und zog sich mit ihrer Tochter, soweit es die enge Räumlichkeit nur irgend erlaubte, von den Brüdern zurück, nötigte auch ihre Tochter, die sich unbefangen und wie es schien mit Vorliebe der gemachten Bekanntschaft anschließen wollte, streng an ihre Seite und zu demselben Benehmen. Im Lauf des Tages verschwand zwar dieses Zurückhalten, als ob die lebendige Nähe und das lebendige Wort der Brüder ein in der Nacht entsprungenes Vorurteil zerstreute; wiederholte sich aber am nächsten Morgen, da man bei aufgeheitertem Wetter die Wanderung fortsetzte. Die Dame schien geradezu eine Trennung zu wünschen, und doch sprach sie kein entscheidendes Wort dafür aus, vielleicht weil der Bergweg keine doppelte Richtung gestattete, vielleicht weil eben das Vorurteil nicht stark genug war, um eine auffallende Änderung des früher ausgesprochenen Reiseplanes zu veranlassen. So kamen die Wanderer, nachdem an jedem neuen Morgen ihr weiteres Zusammenbleiben zweifelhaft erschienen und an jedem Abende enger und vertraulicher geworden war, bis nach Genf. Von hier wollten die Brüder, welche Frankreich schon durchreist hatten, nach Italien hinübersteigen. Die Dame, welche ihrer Gesundheit halber ebenfalls auf einige Zeit den Süden, und zwar ebenfalls Italien aufsuchen wollte, sprach hier zum ersten Male entschieden davon, daß sie ihre Reiserichtung ändern und zunächst nach dem südlichen Frankreich gehen wollte. Der offenbar mühsam gefaßte Entschluß hätte ihr erspart werden können, denn die Brüder fanden hier einen Brief ihres Oheims, der ihnen alle weitere Reise abschnitt und sie unverzüglich nach der Heimat berief. Solchen Ausgangs gar nicht gewärtig, waren sie vergnügt an die Lesung des langen Briefes gegangen, der mit einer ruhigen Schilderung des Lebens in Brüggen anhub. Ihr Vater, hieß es darin, habe sich nach und nach von der Erkältung, die er sich im Schönhaidner Walde vor drei Jahren zugezogen, erholt, wenn auch sein von jener Nacht her verändertes Wesen nicht mehr ganz von ihm gewichen sei. »Der rasche Oberstwachtmeister, den Ihr bei seiner Heimkunft aus Schweden kennen lerntet, ist eigentlich nicht mehr zum Vorschein gekommen. Aber die Übergänge bildeten sich mit der Zeit immer milder; er wurde, was er früher nie gewesen, gesprächig, mitteilend, gedankenvollen Austausches bedürftig, er schloß sich mir inniger an, als er je getan, verbrachte einen großen Teil des Tages auf meinem Zimmer, erzählte mir sein Leben, schrieb auf meine Veranlassung davon nieder, was für seine Söhne Bedeutung haben könnte, oder veranlaßte mich, es niederzuschreiben, und gestand, von Tage zu Tage heiterer werdend, daß ihm diese Lebensart, dieses innerliche Leben, wie er sich ausdrückte, nachdem er mit dem äußerlichen abgeschlossen, sehr wohltue. Die jeweiligen Besuche des Schloßbergers und des Grünwalders unterrichteten ihn von den Landesangelegenheiten, und belebten ihm die Korrespondenz, welche er mit dem Herzoge Ferdinand angeknüpft hatte. Erschreckt nicht, daß ich fortwährend wie von einer beendigten Vergangenheit spreche, es handelt sich allerdings davon, Euch eine Unterbrechung dieser Lebensweise anzuzeigen, aber auch nur eine Unterbrechung. Vor einigen Wochen nämlich kamen der Schloßberger und Grünwalder rascher als gewöhnlich in den Hof gesprengt, da ich eben dem Vater einen wichtigen Teil seines Jugendlebens, den er mir erzählt, vorgelesen, und ihm durch Anreihung dessen, was sich während seiner Kriegszeit mit den in Rede stehenden Personen weiter begeben, auf den natürlichen Ursprung einer Feindschaft aufmerksam gemacht hatte, die ihm bei seiner Heimkehr entgegengetreten und ihm unerklärlich gewesen war. Es war dies die Feindschaft des Ellernschen. Auffallend genug begannen auch der eintretende Schloßberger und Grünwalder mit Klagen über jenen. Sein freundschaftlicher Verkehr mit den Litauern sei unausstehlich und im jetzigen Augenblicke sogar sträflich, denn – und nun kam die Hauptsache, die auch leider für uns eine Hauptsache geworden ist – der Chabelsky, von seiner damaligen Wunde hergestellt, habe die alten Einfälle nach Läuflingen wieder angefangen, und in diesem Augenblicke durchziehe er mit einer völligen Kriegsmacht das Oberland. Die Kurländer hätten sich in Schloßberg versammelt, um über eine gemeinschaftliche Abhilfe zu beraten; der Ellernsche aber, unlenksamer als je, da seine Frau abwesend, habe mit seinem Schwager Thorhacken jeden gemeinsamen Beschluß hintertrieben. So kämen sie zum alten Oberstwachtmeister, der sie vor drei Jahren so kräftig geschützt, und bäten ihn, sich wieder an die Spitze der Landesverteidigung zu stellen. Da Knorre und Thorhacken, die allein seinem Oberbefehl entgegen sein könnten, doch von aller Teilnahme ausgeschlossen wären, so fände er überall den bereitwilligsten Gehorsam für seine militärischen Befehle; nur unter einem allgemein respektierten einzigen Anführer sei ein Erfolg möglich, und nur ihm, dem berühmten Kriegsmanne, sei ein Unterordnen der Kurländer, von denen jeder zu befehlen, keiner zu gehorchen gewohnt sei, erreichbar. Ich sah, wie der Vater innerlich erschrak, daß er aus seiner Ruhe heraus wieder ins wüste Kriegsgerassel hineintreten sollte. Aber er konnte sich nicht entziehen; die Landesnot war zu drängend, es schmeichelte auch seinem edlen Stolze, die gröbliche Ablehnung des Indigenatsgesuches mit Rettung des Landes zu vergelten, er dachte an Euch, denen dies Opfer zugute kommen werde, er dachte an den Herzog, der in seinen Briefen immer wieder darauf zurückkam, er müsse sich als versuchter Kriegsmann allmählich eine Streitmacht vorbereiten, die gewaffnet auftreten könne, wenn der Augenblick des Einschreitens für den Herzog erschiene, kurz, der Vater stieg seit langer Zeit zum ersten Male wieder zu Pferde, um einen Feldzug zu beginnen. In Schloßberg versammelten sich die Kurländer um ihn, und das kleine Heer ritt sodann unter seiner Anführung über Grünwald und Charlottenhof herauf nach dem Lautzensee zu, wohin sich Chabelsky mit den Litauern zurückgezogen hatte. Denn wie sehr dieser Chabelsky den Vater haßt, es war doch ein Schrecken in ihn und unter die Litauer gefahren, als es hieß, der alte Bandomir sei wieder an die Spitze der Oberländer getreten und ziehe heran. Sie hatten sich eiligst in einen Haufen vereinigt und waren von Steinensee über Frommholdshof eilig nach der Grenze gezogen, um bei Esoros ihr Land zu erreichen. Der Raub aber, den sie mit sich schleppten, verzögerte ihre sonst so rasche Bewegung, und am Lautzensee holte sie der Vater ein. Um nicht im eiligen Vorwärtsgehen seine Beute zu verlieren, vielleicht auch um nicht geradezu wie ein Dieb vor dem verhaßten Bandomir auszureißen, nahm Chabelsky hier, als er den Feind über Egipten und Wilkamest an der östlichen Seite des Lautzensees heraufkommen und sich auf den Fersen sah, eine feste Stellung. Ihr erinnert Euch, daß eine Viertelstunde südlich vom Lautzensee nahe bei dem Flecken Schmelani wieder ein kleiner See sich breitet, und daß dadurch nur ein Landpaß zwischen beiden Wassern den Durchgang nach Litauen hinüber bildet. Auf diesem Passe hatte sich Chabelsky gestellt, sich mit seinem linken Flügel an den Lautzensee, mit seinem Zentrum auf den Flecken Schmelani, der fast inmitten des Passes liegt und mit seinem rechten Flügel an den Wald lehnend, der sumpfig bis zum kleineren See hinübergeht. Während er die Beute hinter sich über die Grenze nach Esoros schickte, erwartete er in dieser günstigen Stellung auf dem Hügel bei Schmelani die Kurländer, wahrscheinlich verhoffend, sie würden ihn in solcher Lage nicht angreifen, und er würde in der Nacht ungestraft durch den Wald, welcher sich nach dem großen See von Esoros hinstreckt, abziehen können. Aber zu seinem, und ach zu unserem Unglücke hatte er es mit dem alten Oberstwachtmeister zu tun! Als dieser die Wachtfeuer hinter Schmelani am Grenzwalde in breiter Linie rauchen sah, erkannte er sogleich des Litauers Plan, übergab dem Schloßberger die Anführung des Hauptkorps, bestimmte ihm die Stunde, Nachmittag fünf Uhr, in welcher er mit allem Nachdruck den Angriff durch Schmelani hindurch gegen Chabelskys Front auf dem Hügel machen sollte, nahm unsere Leute, besonders auf unsere Kummelnschen Schützen rechnend, und marschierte mit ihnen rückwärts um den Lautzensee herum, alsdann über den Lautzenseehof wieder hinauf, um dem Chabelsky vom Grenzwalde in den Rücken zu fallen. Und so geschah auch alles. Als die Unsrigen am Schießen hörten, daß der Schloßberger angriff, waren sie etwa noch ein Viertelstündchen von Ort und Stelle; der Vater, statt sich zu beeilen, kommandierte Halt, hieß die Gewehre schußfertig machen, gab spezielle Befehle, und ließ dann gemessenen Schrittes durch den Wald vorwärts marschieren. So kam er am Waldessaume gerade an, als das Getümmel der Schlacht am lebhaftesten war, und als er nun sein Feuer im Rücken der Litauer eröffnete, ward der Schrecken unter diesen ein panischer. »Der Bandomir! Der Bandomir!« schrie ein Trupp zum anderen, Chabelsky konnte seine den Kurländern an Zahl überlegenen Truppen nicht mehr zum Stehen bringen, ward von der Flucht mit fortgerissen, und da der Vater durch seine Rückenstellung auf dem schmalen Landstriche auch die Flucht insoweit hinderte oder doch erschwerte, als seine schwache Mannschaft dies vermochte, so geschah's, daß der Ökonomus gerade in der Nähe des Vaters sich noch einmal mit einigen seiner Reiter zur Gegenwehr setzte, um den Seinigen Luft zu machen. Dadurch kam der Vater, der bis dahin nur befehligt hatte, ins Handgemenge, mußte den Säbel gebrauchen, und verwundete wiederum, als ob dies ein unvermeidliches Ziel seines Armes sei, den Ökonomus Chabelsky selber. Die Flucht ging indessen eilig weiter, die Schlacht war entschieden, alles, was Litauer hieß, war vom Plane verschwunden, man hörte nur noch fern die Schüsse unserer Jäger, welche auf Befehl des Vaters die Verfolgung durch den Grenzwald betrieben, und der Vater, verwundert und ärgerlich, daß von seiten der Kurländer nicht genug für die Verfolgung geschehe, war eben den Hügel hinab zu den Kurländern geritten, und hatte diese, welche ihn Sieg jubelnd begrüßten, angeredet – da trat für uns die verhängnisvolle, ach, nun darf ich's sagen, gefährliche Wendung ein! Ein einzelner Reiter kommt hinter dem Vater aus dem Walde, sprengt bis auf hundert Schritt an die Kurländer heran, und als diese jetzt ausrufen: ›Jakob Chabelsky!‹ als sie ihre Schußwaffen hervorreißen und als der Vater sich umkehrt, hat Jakob, der Sohn des Ökonomus, sein Pferd schon pariert, sein Gewehr schon angeschlagen, der Schuß blitzt, Euer Vater, arme Kinder, ist getroffen, und schwankt auf dem Pferde!
Nun ist es gesagt. Faßt Euch, und beeilt Euch! Der Schuß ist durch den Unterleib gedrungen, der Vater lebt noch, und wird hoffentlich gerettet werden, aber der Transport hierher hat ihm entsetzliche Schmerzen verursacht, und er liegt schwer danieder, nach seinen Söhnen sehnsüchtigst verlangend. Eilt!«
Die Brüder waren so erschreckt und so nur mit dem einen Gedanken schleunigster Reise beschäftigt, daß sie sich vielleicht bei den Damen gar nicht verabschiedet hätten, wären sie ihnen nicht auf der Straße begegnet. Als sie in größter Hast erzählt, daß ihr Vater gefährlich daniederliege, sprach ihnen die ältere Dame Trost und Mut zu, versichernd, daß ihr eigener Bruder vor zwanzig Jahren eine Schußwunde in den Unterleib erhalten habe, und heute noch in leidlicher Gesundheit lebe. Scipio hatte die Fassung, sie beim Scheiden um ihren Namen zu bitten, damit vielleicht eine glücklichere Zeit ihnen einmal eine Nachfrage möglich mache.
»Ich heiße Anastasia von Knorre – und mit wem habe ich das Vergnügen gehabt –?«
Stanislaus war schon hinweg und hatte nichts mehr gehört; Scipio, erbleichend, als jener Name ausgesprochen wurde, erwiderte kaum hörbar: »Wir heißen von Bandomir.«
»Gott, meine Ahnung! Aus Kurland?«
»Nein, aus Böhmen –«
Damit eilte auch er hinweg, und die Dame sah ihm nach mit einem starren Ausdrucke, halb geöffnetem Munde und jener halb fragenden, halb hoffenden Miene, welche zu sagen scheint: »Hab' ich mich doch geirrt?«