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9.

Von alle den Eindrücken jenes Zusammentreffens in Esoros blieb für Bandomir nur einer lebendig; es war der Kuß Hedwigs; es war das warme Leben ihres Hauchs und Leibes, welches er unvertilgbar, ja wie eine über alles hinaushebende Lebensseligkeit in Blut und Nerven und Seele mit sich herumtrug. Nach etwas anderem als nach dem Besitz seines geliebten Mädchens zu trachten, war ihm abgeschmackt, ja unmöglich. Er bemerkte es kaum, daß der Verkehr mit dem sonst so geliebten Bruder beinahe aufhörte, weil dieser ein unwandelbarer Widersacher dieses Verhältnisses blieb; er achtete es nicht, daß vom Herzoge Ferdinand ein ungewöhnlich gnädiges, aber ernstlichst abmahnendes Schreiben in betreff der Knorreschen Verbindung in Brüggen ankam. Der Herzog wußte das Zusammentreffen und die rasch geschlossene Verbindung mit dem Grafen Moritz, und er verzieh sie wie eine Jugendwallung, die ebensowenig Dauer haben werde wie die kurländische Rolle des abenteuernden Grafen selber. Aber er erklärte es für Torheit und Untreue aller Art, unverzeihlicher Art, wenn ein Bandomir auf der Freite um eine Knorre bestehen wolle. Diese Familie sei von jeher den Kettlers entgegen, dem polnischen Anarchismus ergeben gewesen; gäbe sie der Werbung nach, so habe Bandomir alle politische Zukunft verloren, denn Kurland gehe auf dem einen oder dem andern Wege einer festen monarchischen Ordnung der Dinge entgegen, und allem Knorreschen Wesen stünde der Untergang bevor. Widersetzte sie sich aber und ließe sich Bandomir von Leidenschaftlichkeit zu Gewaltschritten fortreißen, so wäre ihm Leben und Ruhe immerwährend bedroht; denn gegen den einzelnen sei der Knorresche Anhang, die Partei des Faustrechts, noch übermächtig, und irgend eine gesetzliche bürgerliche Rücksicht sei von dieser Partei nimmermehr zu erwarten. Triebe es Bandomir bis zu solchem Äußersten, so habe er bei ihm, dem Herzoge Ferdinand, nicht nur keinerlei Vorschub, sondern strengste gesetzliche Ahndung des Landesherrn, des Vertreters der gesetzlichen Ordnung zu gewärtigen.

Das waren für Stanislaus bedeutungslose Worte; denn er war in Liebe, er war im Zauber eines Mädchenkusses, und er war im Grunde von demselben aristokratischen Stamme, welcher Staat und Recht nur im Kreise seiner persönlichen Wünsche und Forderungen anerkennt; er gehörte zu jener Aristokratie, welche eine tausendfache Despotie zuwege bringt, welche gewaltige Kräfte in abenteuerlicher Einzelnheit zersplitternd aller Bildung großer Formen feindlich ist, weil sie der Gemeinschaftlichkeit, der Seele des Staates, nichts opfern kann. Nichts beschäftigte ihn als ein Entführungsplan um den andern, nichts interessierte ihn als Urbans Befestigung des Brüggenschen Hauses, weil diese allein für seine erwartete nächste Zukunft Wichtigkeit hatte.

So vergingen einige Wochen, und noch immer war es ihm nicht gelungen, einen brieflichen Verkehr mit Hedwig ins Werk zu setzen. Dieser war aber unerläßlich, wenn eine Entführung zustande gebracht werden sollte. Petruschka, offenbar am geschicktesten zur Zwischenträgerin, erschien zwar oft des Abends am See und brachte ihm Nachrichten, weigerte sich aber so entschieden wie Jakut, Bestellungen an Hedwig zu unternehmen; sich mit der strengen Absperrung des Ellernschen Hofes und mit der Allgewalt des Herrn von Knorre entschuldigend, welcher ohne weiteres ihre ganze Horde vernichten würde, sobald er ein Glied derselben in dieser Angelegenheit tätig vermute. »Meidet diesen Hof, gnädiger Herr!« setzte sie jedesmal hinzu, »dort wohnt Euer Unglück; meine Mutter sagt es auch. Seit dem Esorosschen Markte hat der Ellernsche all seinen Jägern aufgetragen, auf Euch zu schießen, wenn Ihr Euch auf Ellernschem Gebiete sehen laßt.«

Trotzdem ließ Stanislaus an einem regnerischen Septembertage seinen Tatar satteln, um gegen Ellern hinzureiten, und Hedwig auf irgend eine Weise zu benachrichtigen und um Nachricht zu bitten. Auf das Pferd wartend, sah er aus dem Fenster und erblickte einen Reiter, der von der Lautzenschen Seite her auf einem magern Klepper aus dem Walde geritten kam. Stanislaus erkannte sogleich Herrn von Haudring, einen sogenannten Krippenreiter, wie man die armen Edelleute nennt, welche im Lande umherziehend von der kurischen Gastfreiheit der Begüterten leben. Solch ein Mann, überall Zutritt findend, konnte ihm ein trefflicher Bote werden. Er mußte nur nicht gerade in Ellern gewesen sein, denn es wäre auffallend gewesen, wenn ein Krippenreiter innerhalb weniger Tage zweimal auf demselben Hofe eingekehrt wäre. »Woher? Wohin?« war also Bandomirs erste Frage. Haudring kam heute von Kalkunen, war den Tag vorher in Schloßberg und Grünwald, zwei Tage vorher in Ellern eingekehrt. »In Ellern! Und gerade dahin solltest du mir was bestellen!«

»Das hieße mein Leben wagen, Bandomir! Dort sieht's gar verdächtig aus, und was von dir kommt, wär's der Großmogul selber, wird mit Flintenkugeln empfangen. Schlag' dir das aus dem Sinn, dort ist alles vorbei! Das arme Mädchen, welcher die Mutter oder der Bruder nicht von der Seite weichen, ist wie gefangen und darf nur heraus, wenn Sonntags in militärisch bedecktem Wagen zur Kirche gefahren wird; sie ist ganz blaß geworden. Na, sie ist jung, – und die Hochzeit wird sie wohl ermuntern.« –

»Was?«

»Auf den nächsten Sonntag, also übermorgen über acht Tage, hat sie der alte Knorre angesetzt. Man schlachtet schon darauf los, und wie gern ich das sehe, und was für 'ne stattliche Tafel der Ellernsche auch servieren wird, ich mocht's nicht abwarten, 's sieht unheimlich in dem Hause aus; der Bräutigam schleicht noch blaß, hustend, verbunden und verpflastert umher; die Mutter weint, die Tochter desgleichen; Julius ist auch noch nicht gesund; der Alte ist mürrisch.« –

»Wer ist der Bräutigam?«

»Nun Jakob Chabelsky, den du so fürchterlich zugerichtet hast, und der in den ersten vier Wochen ein schlechter Ehemann sein wird.«

»Und du willst nicht einen Auftrag für mich nach Ellern übernehmen, Haudring?«

»Nicht, wenn du mir Brüggen verschriebst!«

Stanislaus eilte in der höchsten Aufregung an den Schreibtisch, schrieb ein paar Worte, faltete sie zusammen, entschuldigte sich bei Haudring, daß er durch ein dringendes Geschäft fortgetrieben würde, empfahl ihm, sich in Brüggen zu pflegen und eilte hinaus. Nach Verlauf von einer Minute flog er auf dem Tatar in den Wald hinein auf der Lautzenschen Straße; Pascha mußte sich ebenfalls in Galopp setzen, um zu folgen.


Besserer Rat kommt mit der Tat! Stanislaus sah ein, daß er so offen als Stanislaus von Bandomir um Ellern her nichts erreiche als etwa die Flintenkugel eines Jägers; er kehrte um, kleidete sich in die unscheinbare Tracht eines Letten, in den Rock aus grauer Leinwand, der hinten in Falten gelegt und von einer ledernen Binde zusammengehalten ist. In dieser Binde steckt das Messer zur Notwehr. Der Tatar ward mit Jakuts Stute vertauscht, Pascha, überall im Oberlande bekannt, ward zurückgewiesen. So angetan erreichte er mit einbrechender Nacht Oknist, brachte sein Pferd unter und ging nun zu Fuße gen Ellern hin. In der Tat sah er sich in immerwährender Gefahr; denn Knorres Jäger streiften in Patrouillen rings um die Grenze des Gebiets. Knorre schien einen offenen Überfall von seiten der Bandomire zu fürchten. Ward nun Stanislaus in seiner Verkleidung auch nicht sogleich erkannt, so ward er doch als Fremder angehalten; und es war nur zu wahrscheinlich, daß er über kurz oder lang auf einen Jäger stieß, der ihn schon gesehen hatte. Unter diesen Umständen war eine Benachrichtigung Hedwigs nicht möglich; er war genötigt, sich von einem Kruge in den andern zu schleichen, da er außen in den Gebüschen von den Hunden der Jäger ausgespürt wurde, und doch waren auch die Krüge nur gar zu unsicher, denn die zechlustigen Patrouillen kehrten da fleißig ein, um sich zu stärken. So verging der Sonnabend. Stanislaus kam spät in der Nacht nach dem Baldankruge, den er zu seinem Hauptquartier gemacht hatte; vergeblich war er dicht um den Ellernschen Edelhof herumgeschlichen, die Fenster von Hedwigs Zimmer waren und blieben geschlossen. Die einzige Hoffnung, die er nun hegte, war auf die morgende Kirchfahrt gerichtet, und doch war auch diese Hoffnung nur gar zu gebrechlich. Konnte er sich denn erblicken lassen, um die Vorübergehenden zu sehen und von Hedwig gesehen und erkannt zu werden? Der Haß sieht ja so scharf wie die Liebe, und Vater und Mutter würden ihn auch erkennen! Auf die Kirche selbst hoffte er, dort sollte sich Gelegenheit finden, ihr den Brief zuzustecken.

Am andern Morgen bei guter Zeit machte er sich hinüber nach Nerft, schlich sich in die Kirche, besah sich das herrschaftliche Gestühl, und wie da anzukommen sei. – Hätte er nur wenigstens gewußt, welches Hedwigs Stuhl zu sein pflegte! Der Küster legte die Gesangbücher auf den Platz jedes Herrschaftsmitgliedes. Sollte er es wagen, den Mann anzureden, auszuforschen, und sobald er die Stelle kennte, den Brief in das für Hedwig bestimmte Buch zu legen? – Er wagte es, und es gelang. Aber es ward ihm bald wieder leid, denn er setzte seine letzte Hoffnung dadurch aufs Spiel. Der Brief enthielt ganz bestimmte Vorschläge zur Entführung; kam er in andere Hände als Hedwigs, oder fiel er heraus, sobald sie das Buch öffnete, oder wurde gesehen, sobald sie das Buch aufschlug, dann war auch die letzte Möglichkeit vernichtet! Er eilte in die Kirche zurück, um ihn wieder herauszunehmen. Aber die Kirche füllte sich schon; er konnte nicht mehr ohne Aufsehen in das Gestühl eindringen, und der Küster warf ohnedies schon forschende Blicke auf ihn, er mußte das Geschick walten lassen. Sich so tief als möglich unter die lettischen Wandkittel stellend, um das Herrengestühl zu übersehen, und doch nicht gesehen zu werden, erwartete er den Beginn des Gottesdienstes und die Ankunft der Ellernschen. Sie kamen, Hedwig war nicht dabei, und Frau von Knorre setzte sich auf Hedwigs Platz. Sein Blut stockte, als sie jetzt nach dem Gesangbuche griff, sie sah sehr blaß und leidend aus, nahm das Buch nicht vom Platze, sondern schlug es nur auf, wie ihm schien, gedankenlos und ohne darauf zu blicken. Sie sang nicht mit; schmerzlichst wünschte Bandomir das Ende des Liedes, den Anfang der Predigt herbei; sowie der Prediger auf der Kanzel erschien, schmiegte er sich rückwärts durch die Letten nach der Tür und verließ die Kirche. Er hoffte später nachforschen zu können, ob der Brief unentdeckt geblieben sei; jetzt wollte er die Abwesenheit der Eltern benützen, um bis unter Hedwigs Fenster zu dringen. Julius und Chabelsky waren zwar nicht in der Kirche, und beide hielten sich in Ellern auf, aber in Abwesenheit der Eltern und zur Kirchstunde, wo alles ruht auf dem Lande, und Weg, Hof und Garten verödet sind, hoffte er doch am ersten eindringen zu können. Weit und breit war niemand auf dem Felde zu sehen, er eilte rasch dahin, am Salatkruge vorüber, am Ellernskruge desgleichen; nichts störte ihn, nichts hielt ihn auf; schon sah er den Kalnischkrug am kleinen See, wo er damals Hedwig erblickt hatte – wer ist das? Vor dem Kalnischkruge saß ein Mann. Bandomirs scharfes Auge erkannte bald in demselben einen Juden, wie deren trotz des Verbots Hunderte im Lande umherzogen. Vielleicht ist der zu gebrauchen! dachte Bandomir, eilte hinzu, und setzte sich neben ihn auf die Bank. Der Hausierer kam direkt von Ellern und erzählte, daß er dort einige Seidenwaren verkauft, leider aber nicht genug von guten Stoffen bei sich gehabt habe, es werde da eine Hochzeit gerüstet, und es wäre ein Geschäft zu machen gewesen, da das Fräulein Braut nicht eben feilsche; »aber meiner Mutter Sohn,« setzte er hinzu, »hat kein Glück, hat in seiner Torheit die besten Sachen in Dünaburg gelassen.«

Bandomir zeigte ihm ein Goldstück mit der Frage, ob er's rasch verdienen wolle? Sie wurden handelseinig, und Stanislaus, diesmal die Brieftasche mit sich führend, schrieb mit der Bleifeder ein neues Billett, worin er Hedwig bat, getrosten Mutes zu sein und künftigen Sonntag in der Kirche nicht zu fehlen. Sie möge es so einrichten, daß sie im Patronatsgestühle dicht am Gange säße. – Der Jude übernahm's, auf der Stelle nach Ellern zurückzukehren, unter dem Vorwande, etwas vergessen zu haben, unmittelbar in des Fräuleins Zimmer vorzudringen, das Billett abzugeben und eine Antwort zu erwarten. – »Bringst du die Antwort,« flüsterte Bandomir, »so erhältst du noch ein Goldstück –.« »Ich will's wagen!« – »Noch eins! Gib den Zettel noch einmal her!« Der Brief im Gesangbuche ängstigte ihn über alles, und er unterrichtete Hedwig davon mit dem Bemerken, daß sie sich dessen, wenn irgend möglich, bemächtigen möge, wäre es nicht eher tunlich, nächsten Sonntag, sobald sie ins Gestühl träte, denn es sei alles verloren, wenn er gefunden werde.

»Nun eile, daß sie dir nicht aus der Kirche über den Hals kommen, hier im Kruge erwarte ich dich!«

Der Jude marschierte hastig nach dem Gebüsche zu, wo Bandomir damals so glücklich gewesen, und dieser forschte um den Krug herum nach einem Versteck, weil er es nicht wagen durfte, im Kruge selbst die Vorüberfahrt der Ellernschen abzuwarten. Wie leicht hat solch ein Jäger Durst und tritt ins Wirtshaus!

Der Gedanke an den Brief peinigte ihn ununterbrochen. Sollte er nach der Kirche zurück und am Schlusse des Gottesdienstes in das Gestühl dringen, ihn wegzunehmen? Aber es wurde zu spät; eh' er hinkam, war die Kirche aus, und dann begegnete er den Heimfahrenden, und sein Jude verfehlte ihn im Kruge! – Ach! warum war er so voreilig gewesen! Nach der Predigt wurde noch ein Lied gesungen, und wenn auch die Herrschaft dies nicht mitzusingen pflegte, so war's doch möglich, daß die Ellernsche das zu tun gewohnt war, daß Frau von Knorre nachholen wollte, was sie vor der Predigt unterlassen – da klang die Vaterunser-Glocke von Nerft herüber, die Kirche war zu Ende – jetzt war's entschieden! Nein! Wenn's auch bis jetzt verborgen geblieben war, nun räumte der Küster auf, und solch ein Mann ist zu ordentlich und zu neugierig, jetzt solltest du da sein! – Da kommt der Wagen und Reiter kommen hinterher, und mein Jude ist noch nicht zurück! Sie werden ihm begegnen, werden ihn zur Rede stellen, untersuchen –!

Stanislaus hatte sich in einen Schuppen untergebracht, und übersah durch ein Loch des Fachwerks die Straße. Sie war vom Regen gerade in der Nähe des Kruges schadhaft geworden, und der Wagen mußte hier langsam fahren. So konnte er die darin Sitzenden genau beobachten und in ihrem Benehmen lesen, ob sich was Ungewöhnliches ereignet habe. Frau von Knorre saß allein im Wagen, ihr Antlitz sah leidend, unbewegt aus, wie in der Kirche. Herr von Knorre war mit zwei Jägern dahinter zu Pferde. – Der Zug ging vorüber. Eine peinliche, lange halbe Stunde verging, und der Jude kam noch immer nicht; Stanislaus ertrug's nicht mehr zu warten, und wagte sich auf die Straße, obwohl sie von Kirchgängern bedeckt war. Bis an den Busch nur wollte er gehen! Lieblicher Aberglaube, der sich immer einstellt, wenn wir lebhaft wünschen oder fürchten, flüsterte ihm zu: An dem Busche hast du Glück! Wirklich erschien da der Jude, bat ums Goldstück, und griff in die Tasche. Er brachte Antwort von Hedwig! »Gott sei Dank!« schrieb sie, »daß ich ein Lebenszeichen von Dir habe! Allein und ohne Dich kann ich nicht widerstehen – dem Vater wohl, aber der Mutter nicht. Was soll aus mir werden? Ich bin bewacht wie eine Gefangene. Wage ja nichts, es sind fürchterliche Befehle gegeben, und Dein Leben stünde auf dem Spiele. Ich fürchte, daß man am nächsten Sonntag nach dem Gottesdienste mich plötzlich vor den Altar führen und dem Chabelsky, der bis dahin leidlich hergestellt zu sein denkt, antrauen wird! Stanislaus! wir sind verloren – ich höre die Glocke von Nerft und schließe.

PS. Zu dem Gesangbuche kann ich nicht eher als nächsten Sonntag. In die Kirche komme ich bestimmt, ach, nur zu bestimmt!«

Stanislaus fragte den Juden, ob er ihm aus der Nerfter Kirche was holen könne. – »Für keine Million!« rief der Jude. »Wer mich in der Kirche betrifft, tötet mich, laßt mich sein, Herr, und meinen Weg fortgehen!« Damit eilte er ins Gebüsch von dannen.

Stanislaus wagte sich noch einmal nach Nerft hinein, er fand aber die Kirche verschlossen. Ja, er war so dreist, nach dem Küster zu fragen. Der Herr Pfarrer, hieß es, ist nach Ellern zu Tisch geladen, und der Küster ist heute mitgegangen.


Der entscheidende Sonntag war ein so milder Septembertag, daß ein Gewitter in großer weißer Wolke leicht blitzend und donnernd schon um die neunte Stunde über den Himmel zog, als die Hochzeitsgesellschaft in Ellern die Wagen bestieg, um nach Nerft zur Kirche und Trauung zu fahren. Der alte Herr von Knorre zeigte große Heiterkeit, daß endlich alles ohne weitere Störung bis dahin gediehen war, daß Julius und Chabelsky bereits wiederhergestellt erschienen, und daß sein innerer Schauer vor Bandomir und dessen Schwur doch in nichts Übles ausgegangen sei. Obwohl ein gehärteter Mann, war er von böser Ahnung gequält worden und hatte zu dem Ende so strenge Sicherheitsmaßregeln ergriffen, ja bis zu diesem Morgen hatte er sich eines bewaffneten Überfalls von seiten der Bandomire versehen. In der Freude, daß er sich geirrt, ließ er dem Pferdehirten die Freiheit wieder geben und begrüßte die eintreffenden Hochzeitsgäste, unter ihnen den Grünwalder und den Schloßberger, mit einer freudigen Herzlichkeit, wie sie ihm sonst gar nicht eigen war. Den gutmütigen, zurückgesetzten Puttkammer, der sich eingestellt hatte, um nicht durch seine Abwesenheit aufzufallen, faßte Knorre unter den Arm und führte ihn mit den Worten zur Seite: »Ich danke Euch, Puttkammer, Ihr seid ein wahrer Edelmann! Daß Ihr kommt, beweist der Welt, wie Ihr unser wahrer Hausfreund seid und bleibt, und meiner Tochter nur als solcher den Hof gemacht habt. Wie gern ich sie Euch gegeben, Puttkammer, wißt Ihr am besten; daß ich sie dem Chabelsky gebe, geschieht um unser beider Wohl und Ruhe willen – warum? Ihr seid kein Raufbold, und hättet vom heutigen Tage an die Bandomire auf dem Halse gehabt, ja, wär't Eures Lebens keine Stunde sicher gewesen. Chabelsky dagegen führt Hedwig nach Litauen hinüber, sie kommt diesem Abenteurer aus Auge und Sinn und ist in Braslaw jedenfalls von einer zahlreichen, kriegerischen Familie gegen alles geschützt.«

Der Grünwalder, zu Herrn von Sieberg in den Wagen steigend, drückte diesem seine Verwunderung aus, daß von seiten Bandomirs nichts passiert sei. »Ich habe mich doch in ihm geirrt, denn ich habe ihn für unternehmender gehalten, und nach der Szene, welche ich ihn hier erleben sah, war ich des wildesten Attentats gewärtig.«

»Es ist mir dies ein gutes Zeichen,« erwiderte darauf der Schloßberger, »daß diese leidenschaftlichen jungen Männer doch mehr Erziehung und Maß besitzen, als man ihnen gern zutrauen mochte. Man sagt, Graf Moritz, der vor den russischen Truppen flüchtet, sei bei ihnen in Brüggen verborgen.«

Als der Wagen, worin Frau von Knorre und Hedwig saßen, an der Kirche still hielt, wurden die Pferde von einem plötzlichen Donnerschlage scheu und prallten auf die Seite. Der Kutscher wurde ihrer indessen Herr, und Hedwig, welche dessen gar nicht gewahr wurde, hatte dadurch längere Zeit, sich unter den umherstehenden Letten nach Bandomir umzusehen. Sie sah ihn nirgends! Nirgends war ein Anzeichen, daß sich was Ungewöhnliches bereite; – wie jener Donnerschlag überfiel sie plötzlich die Gewißheit, nach Verlauf von zwei Stunden ihm für immer verloren und einem andern angetraut zu sein. Romantisch, wie Mädchen sind, welche dem Geliebten alle mögliche Wunderkraft zutrauen, hatte sie seit Bandomirs letztem Schreiben zuversichtlich darauf gerechnet, er werde die Trauung vereiteln, und in dieser Zuversicht hatte sie sich gleichgültig das weißseidene Brautgewand antun, den Myrtenzweig ins Haar flechten lassen. Jetzt, aufgerichtet im Wagen stehend und umhersuchend mit dem Blicke, überfiel sie auf einmal völlige Verzweiflung, sie zitterte und schwankte, und die erschreckte Mutter mußte sie halten.

Sobald sich ein junges Mädchen wieder faßt, ist sie auch augenblicks all ihrer kleinen Pläne wieder mächtig. Dies gilt vielleicht nicht nur von einem jungen Mädchen, sondern von jeder Frau, und ist vielleicht dadurch erklärlich, daß die Frauen als das schwächere Geschlecht jederzeit mehr als die Männer auf augenblickliche Sicherstellung bedacht sind. In einem engeren Kreise von Wünschen und Ideen sich bewegend ist ihnen auch darum das eben Passende rascher gegenwärtig. Als Hedwig an der Mutter Arm in die Kirche und an den Eingang des Patronatgestühles trat, war sie ihres trostlosen Zustandes bereits so weit Herrin, daß sie die Mutter bitten konnte, die Herren vorausgehen zu lassen in das Gestühl. Es sei ihr so eng und beklommen zumute, daß es ihr Erleichterung dünke, nicht in das enge Gestühl hinein zu müssen, sondern hier nahe dem freien Gange sitzen zu dürfen. Die Mutter gewährte das dem offenbar tief erschütterten Kinde gern, und als Herr von Knorre es unpassend finden und verweigern wollte, schickte sie ihn mit ein paar bestimmten Worten samt den übrigen Herren in das Innere des Gestühls.

Auch die Sorge um den Brief hatte Hedwig nicht vergessen, sie ließ sich nur nicht mit der Wahl ihres Sitzes vereinigen. Als sie nach ihrem sonstigen Kirchenplatz aufblickte, bemerkte sie, daß Herr von Roop ihn eingenommen, und soeben ihr Gesangbuch ergriffen hatte. Nach einer Weile wendete er wirklich den Kopf nach ihr zurück, als wollte er von weitem ein Zeichen geben oder eine Frage an sie richten. Hedwig, welche wußte, daß Roop ihrem Stanislaus wohl gesinnt, und welche richtig vermutete, daß ihm soeben dessen Brief in die Hände gefallen sei, schüttelte kaum merklich das Haupt, und der Grünwalder schien das wohl verstanden zu haben. Aber Puttkammer, der neben ihm saß, hatte wohl den Brief ebenfalls bemerkt, und ihm mochte es nicht ungelegen sein, wenn sich vermittelst desselben etwas Störendes ereignete. Hedwig sah, wie er sich zu Roop hinneigte, und als dieser eine ablehnende Bewegung machte, zu Julius, und wie Julius zum Vater sprach, und eine auffallende Unruhe unter den Herren entstand. In diesem Augenblicke erschien der Prediger auf der Kanzel; Julius, der aufgestanden war, setzte sich nieder – zunächst schien der Fund auf sich beruhen zu dürfen. Aber als die Gemeinde eben die letzte Strophe des letzten Verses anhub, kam Jakut eiligst den Gang her ans Gestühl und wollte hinein – er war so erhitzt, daß der Schweiß dicht über sein gebräuntes Antlitz herab in den Bart lief und daß ihm die sonst glatt gekämmten langen Haare naß und verwildert über die Backen hingen. Hedwig, die nichts Gutes ahnte bei seinem Anblick und bei seiner Bitte, zum Herrn von Knorre gelassen zu werden, winkte ihm gebieterisch Stillschweigen zu, nach dem Prediger auf der Kanzel hinzeigend. Die Männer, den Rücken nach dem Eingange kehrend, sahen ihn nicht, und selber die Mutter wurde den Roskolniken nicht gewahr, welchen der Hinweis auf den heiligen Moment und Ort wirklich gelähmt hatte. Die für Andacht so wirksame Stille, welche am Schluß des Gesanges und unmittelbar vor Beginn der Predigt eintritt, fesselte magnetisch den altgläubigen Russen, den offenbar eine wichtige, schleunigst auszurichtende Botschaft hergeführt hatte, und der nun dicht am Ziele unverrichteter Sache stehen bleiben mußte.

Guter Gott! dachte Hedwig, was nützt es noch, dieses oder jenes abzuwenden! Nach einer Stunde ist alles gleichgültig! – Dann versank sie in sich, und es mochte weh und schmerzlich in ihr sein, denn große Tränen glitten ihr über die bald erblassenden, bald errötenden Wangen. Leises Knarren der Kirchtüre, die während der Predigt geschlossen ist, ein durch den Gang daher kommender leiser, aber rascher Schritt weckte sie; sie blickte seitwärts – allmächtiger Gott! Stanislaus kam den Gang herauf bis dicht in ihre Nähe. Ein Freudenruf entglitt ihrem Munde, und während Jakut, wie von einem Spieß getroffen zusammenfuhr, wendeten sich sämtliche Inhaber des Gestühls nach ihr. So erblickten sie alle den Bandomir, der sich gegen Frau und Fräulein von Knorre, Herrn von Sieberg und von Roop höflich verneigte. Er war in prächtiger Kleidung und glich, wie Hedwig geträumt, dem Bilde eines romanhaften Paladins. Sein sonst so bleiches Antlitz war leicht gerötet; von Waffen trug er nichts als ein breites, zierlich gearbeitetes Jagdmesser, welches an einem goldgestickten Bandeliere niederhing. Ruhig blieb er in der Nähe Hedwigs stehen und sah unverwandt auf den Prediger. Die Knorres waren entsetzt und wußten nicht, was tun. Der Feind verriet zunächst keine feindliche Absicht; die Kirche war für jedermann, und sollte man ohne weitere Veranlassung den Gottesdienst unterbrechen? Der alte Knorre war zudem bleich wie der Tod und zitterte, seiner verspotteten Ahnung gedenkend, nicht bloß vor Wut. – Daß Bandomir als müßiger Zuschauer der Trauung gekommen sei, glaubte niemand, jedermann war auf eine Überraschung gefaßt, und doch verhielt sich alle Aufregung nach außen ruhig, und die Predigt ging, wie ein bannendes unparteiisches Element über alle dem fort. Und wenn er allein war, er hielt die Hauptpersonen, denen der Widerstand zugekommen wäre, in Furcht, so lähmend war in kurzer Zeit der Bandomire Ruf von unwiderstehlicher Tapferkeit geworden, und Julius, wie Chabelsky, die beiden natürlichsten Gegner, wenn etwas vorfiel, fühlten sich noch kraftlos durch kaum verharschte Bandomirsche Wunden; der alte Herr war wie von einem dämonischen Entsetzen ergriffen, von Sieberg, Roop und Puttkammer war keinerlei Einmischung zu erwarten; kurz, das mit Männern gefüllte Patronatsgestühl fühlte sich ohnmächtig neben diesem einzigen regungslos dastehenden Manne. Er schien auch der einzige zu sein, welcher den Worten des Predigers volle Aufmerksamkeit widmete. Sowie aber der Prediger Amen gesagt hatte und die Kanzel verließ, war diese ruhige Bandomirgestalt verwandelt; wie man eine Hand umkehrt, war er dicht am Gestühl, hatte Hedwig mit beiden Armen erhoben, und trug sie, als ob sie leicht wie ein Blumenstrauß wäre, dem Ausgange zu. Polternd, Stühle umwerfend, sprangen die Knorres auf, schrien: »Räuber! Schurke, steh'!« und strebten, in den Gang zu kommen. Das wirksamste Hindernis für Bandomir, weil das nächste, ward Jakut, der zusprang und nach Hedwig griff. Stanislaus, sie mit einem Arme fest umschlingend, griff ihn mit der andern an die Kehle, welche des Roskolniken blanker Hals bloßstellte, und welche Stanislaus mit so furchtbarer Gewalt zusammenpreßte, daß Jakuts Augen weit aus ihren Höhlen traten. Der hierdurch verursachte Aufenthalt wäre aber doch gefährlich geworden, wenn Stanislaus nicht, nach Jakut greifend, mit lauter Stimme: Urban! gerufen und sich auf diesen Ruf die Kirchtür flugs in beiden Flügeln geöffnet und einen furchtbaren Hinterhalt gezeigt hätte. Die Bandomirschen Jäger, zwanzig an der Zahl, standen unter Urbans Anführung aufgepflanzt und streckten ihre Feuerröhre in den Kirchengang. Jakut, bei dieser Verwandlung der Szene losgelassen, fiel platt auf das Pflaster; die Knorres und Chabelsky, aus dem Gestühl herausgedrungen, standen wie vom Donner gerührt, und Stanislaus, sich umwendend, sprach mit starker Stimme: »Ich halte meinen Schwur, und Hedwig wird mein Weib – seht geduldig zu, wenn ihr das Leben lieb habt!«

Dann schritt er durch die Schützen mit seiner schönen Beute hinaus, zu einem Wagen, welcher des jungen Paares harrte. Bis er mit ihr davon gerollt war, hielten die Jäger den Ausgang besetzt, dann zogen sie sich zu je fünf Mann zurück. So bestiegen sie allmählich alle ihre Pferde, ohne daß der Ausgang frei geworden wäre, denn die, welche sich beritten gemacht, lösten zu Pferde die nächsten fünf an der Türe ab, bis alle zwanzig zu Pferde an der Tür hielten. Dann erst kommandierte Urban: »Kehrt!« und unter einem jauchzenden Aufschrei jagte das Pikett in gestrecktem Galopp dem Herrn und der neuen Herrin nach.

Die Kirchtüren blieben offen, und man sah vom Gange aus, daß ein mächtiger Platzregen vom Himmel fiel.


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