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2.

Der Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zeigte fast durchgängig in Europa nur abenteuerliches Beginnen. Das heißt, alles was im großen vorging, entsprang nicht aus einem tieferen Bedürfnisse; man kämpfte nirgends mit Leib und Seele um Lebensprinzipien, man kämpfte nur um ein Mehr oder Minder des Besitzes. Die beiden Hauptpunkte des beginnenden Jahrhunderts waren zwei Könige; einer, der stolz auf das Grab zuschritt, Ludwig XIV., und der um der Krone Spaniens halber, die er seinem Enkelsohne aufgesetzt hatte und halten wollte, noch in seinem Greisenalter den Krieg mit ganz Europa wagte – der zweite, ein noch bartloser Jüngling, der nicht für Mädchen oder Bücher, sondern nur für den Krieg eine fortreißende Passion empfand, und ungestüm, über allen Zweifel hinaus tapfer, sein kaltes Schwert zog gegen alle Nachbarn, Karl XII. von Schweden. In solcher Zeit konnte ein junger Mann, dem die Brust nach Idealen schwoll, nur unter ganz eigentümlicher Begabung anderswohin geraten als unter die Kriegsheere, anderswohin seine Wünsche richten, seine Fähigkeiten ausbilden als auf die äußerliche Tat. Darin geschickt und tüchtig zu sein war aller Wunsch, darin gar erfinderisch zu sein war höchster Ruhm. Von französischer Seite her war noch eine Geschicklichkeit in den Formen des Umgangs und des Ausdrucks verbreitet worden, soweit der moderne Ritter mit seinesgleichen oder mit Damen in Berührung kam, und diese kleine Formenwelt täuschte vollends über alles tiefere Bedürfnis des geistigen Menschen. Denn niemand, der ihrer mächtig war, konnte vor der Welt oder vor sich selbst für roh oder ungebildet gelten, und in dieser leicht erworbenen Zufriedenheit und Sicherheit verlor mancher begabte Mensch die Eigenschaft der Mannigfaltigkeit aus den Augen, welche in ihm schlummerte.

Ganz dieser Mode seiner Zeit gemäß entwickelte sich Xaver von Bandomir, ein junger Edelmann, der im kurischen Oberlande Güter besaß. Er besaß diese Güter nur als sogenannten Pfandbesitz, nicht als zur Herrenbank gehöriger Kurländer, ein Unterschied, welcher in Kurland von größter Bedeutung war. Nur wer das Indigenat besaß, nur wer der eigentlichen Landesaristokratie einverleibt, nur wer Kurländer war, konnte all jenes Herrenrecht ausüben, welches neben dem vollen Rechte des Mitregierens auf dem Landtage bis zum Rechte über Leben und Tod auf den Edelhöfen hinaufstieg. Der Indigenatsadel war die einzige politische Körperschaft; er bestimmte die Auflagen, welche die übrigen Bewohner zu leisten hatten, denn er selbst als Herr war steuerfrei. Außer Venedig hat es kaum einen so rein aristokratischen Staatsverband gegeben als den kurländischen, und auch die russische Herrschaft hat mit vorsichtiger Hand nur einige zu große Unebenheiten beseitigt, sie hat sich Bestätigung des Budgets vorbehalten, hat die Kronforsten vor den Rücksichtslosigkeiten der fliegenden Jagd, welche noch jedem Kurländer durch das ganze Land zusteht, sicher gestellt, so daß in diesen Forsten Hegezeit und Saatland berücksichtigt werden muß, sonst aber hat sie diese aristokratische Verfassung unberührt gelassen, und auch heute noch ist der russische Adel in Kurland nicht besitzfähig, wenn er nicht ins Indigenat aufgenommen wird. Mit dieser Aufnahme war man nun im Durchschnitte nicht eben ausschließlich und schwierig, eine Gewohnheit, die wie in England von unermeßlicher Wichtigkeit ist, da sie der Körperschaft immer frischen Zusatz vorbehält. Auch der Adelsstolz nach deutschem Begriffe war und ist in Kurland nicht zu suchen, eben weil die Aristokratie so landesgeschlossen auch ein Staat, nicht bloß ein Stand war. Man achtete den, der nicht Kurländer, das heißt nicht von anerkannt kurischem Adel war, man verkehrte mit ihm, aber man vermischte sich in nichts Wesentlichem mit ihm. Dabei war es gleichgültig, ob er in einem andern Lande von Adel war, adelig oder bürgerlich! er gehörte nicht zu den Herren, welche die kurländische Ritterschaft und die Herrschaft des Landes bilden, aus deren Mitte allein alle Landesstellen besetzt werden. Dem ähnlich, wie man heute noch in Frankreich nicht Deputierter werden kann, wenn man nicht naturalisierter Franzose ist. Es gibt auch wirklich einige bürgerliche Lehen in Kurland, obgleich das eigentliche Entstehen der adeligen Landesherrschaft allerdings auf das Prinzip des Ahnenadels gegründet war. Noch im Jahre 1634 wurde ein geschlossenes Verzeichnis der hundertfünfzehn kurländischen Herren abgefaßt, welche ihren Adel durch Ahnentafeln, durch Siegel und Briefe, durch kaiserliche und königliche Privilegien probiert hatten.

Ein Blick auf die Geschichte Kurlands erklärt es, wie das ganze Land hundertfünfzehn Familien gehören konnte, zu Besitz und Herrschaft. Es ist ein erobertes und zwar vom deutschen Adel erobertes Land. Die Geschichte der Eroberung ist sehr dunkel; Preußen und Livland, die beiden vom Orden eroberten Länder, welche Kurland erschlossen, haben ihre damalige Geschichte aufgeklärt, über der genau damit zusammenhängenden kurischen liegt noch tiefe Finsternis. Deutsche aus Bremen haben um 1158 die Mündung der Düna gefunden, haben Handel und alsdann Bekehrung angefangen, sind aber bei den Bewohnern lebhaftem Widerstande begegnet. Fünf Völkerschaften scheinen unter einer patriarchalischen, also tausendfachen Gemeinderegierung das Land bewohnt, von Fischerei, Viehzucht, Ackerbau gelebt und am Met, der aus Honig der Waldbienen gemacht wurde, sich erquickt zu haben. Man nennt sie Wenden – zwischen der Westküste und der Windau – Liven – am nördlichen und östlichen Seeufer – Kuren – in der Mitte des Landes – Semgaller – südlich über diesen und nach dem Oberlande zu – Seelen im eigentlichen Oberlande. Alle sprachen Lettisch, nur die Liven sprachen und sprechen noch jetzt eine finnische Mundart, und sind auch wahrscheinlich darum in die Sand- und Moorgegend verdrängt, weil sie am wenigsten mit der Mehrzahl der Landesbevölkerung zusammengehangen haben.

Als Schutzpunkt für Christentum und Eroberung wurde frühzeitig Riga angelegt und der Schwertbrüderorden gestiftet. Aber auch der war nicht mächtig genug, die widerstrebenden Einwohner zu bezwingen. Nur die Wenden an der Westseite unterwarfen sich ohne hartnäckigen Widerstand, und davon ward dieser Ostseestrich Friede-Kurland geheißen, gegen die übrigen Völker mußte der Schwertbrüderorden 1237 Hilfe suchen bei dem Deutschen Orden, der seit elf Jahren in Preußen war, und mit dem sich jener verschmolz. Die Eroberung ging nun in Kurland und Livland rascher vonstatten, indessen war der Orden doch nicht allein erobernder Herr, sondern mußte mit der Kirche, durch Riga, deren Hauptsitz, repräsentiert, teilen, und der römisch-deutsche Kaiser war von dem allen die im Hintergrunde ruhende Oberhoheit. Am längsten verteidigte sich das Oberland, und Westhord, ein Führer der Semgallen, galt für den Wittekind dieser Gegenden. Um 1287 waren die Bewohner überwältigt und wurden zunächst Untertanen, dann Bodenangehörige, dann Leibeigene, während die deutschen Pilger freie Städte bildeten, die Eroberer, die deutschen Ritter aber Lehensherrn, deren nachträglich herbeiziehende Verwandte und Freunde der Ritter Lehensträger, alle aber Leibherren der Urbewohner wurden. So wurde der deutsche Kriegsadel mit seinen Angehörigen Herr des Landes. Die meisten Adelsfamilien Kurlands stammen aus Niederdeutschland, so wie die meisten in Preußen aus Oberdeutschland stammen. Idealer Oberherr war nun zwar eigentlich der Orden, aber in der Tat war er nur der mächtigste Mitstand dieser Aristokratie, welche im wesentlichen allein die Ordensherrschaft bildete und den klerikalen Zutaten, den theologischen Doktoren, nur einen theoretischen, abgezahlten Anteil an der Herrschaft gestattete. Mit der Reformation verschwand auch diese formelle Teilung: der Herrenmeister, Walter von Plettenberg, wurde protestantisch, die gemeinschaftliche kirchliche Seele, welche bis dahin die Ostseeprovinzen zusammengehalten hatte, zerbrach hiermit, die einzelnen Landesteile suchten sich, da Rußlands aufwachsende Macht andrang, verschiedene Schutzherren: Estland am schwedischen Könige, Livland am Könige von Polen und Litauen, Kurland desgleichen, und so wurden die Ritter in Kurland, dessen nun errichtete Fürstenschaft von Polen und Litauen nur zu Lehen ging, völlig Herren des Landes, die im letzten Ordensmeister, Gotthard Kettler, zwar eine herrschende Herzogsfamilie an die Spitze stellten, deren Ritterbank aber damit nichts weiter als einen Ersten unter Gleichen der Regimentsform halber also bezeichnete und nach wie vor herrschende Seele des Landes blieb.

Der eigentliche Stamm des Deutschen Ordens lebt also hier fort, eine Herrscherkolonie unter überwältigten Völkerschaften. Der Baum ist schon lange vor uns scheinbar abgestorben in einem Stamme, dessen Zweige noch immer neu grünen in Adelsgeschlechtern. Neun Herzöge haben bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts diesen aristokratischen Staatsverband repräsentiert. Schon als der sechste starb, war die Macht der polnischen Lehensherrschaft hier unten an der Düna erschöpft und vom russischen Kaisertume her ward die zweite Herzogsfamilie, die Bironsche, bereits eingesetzt. Sie endigte im Jahre 1795 mit der Unterwerfung Kurlands an das russische Kaisertum.

Xaver Bandomir ward unter dem dritten kurländischen Herzoge, dem genialsten des Kettlerschen Hauses, Jakob, geboren und erlebte noch drei folgende Herzöge, die letzten jenes Hauses, den stürmischen Übergang des Landes zu neuer Oberherrschaft, wenn diese auch erst dem Namen nach ein halbes Jahrhundert später eintrat. Xavers Jugend fiel zwar noch in die letzten Jahrzehnte des siebzehnten Jahrhunderts, wurde sich aber doch erst mit Ausgang desselben und mit Beginn des achtzehnten ihrer größeren Wünsche und Ansprüche bewußt, und deshalb konnte er dem Wesen nach jenem Geschlechte angehören, welches in Tat und Krieg nach Höflichkeit gegen seinesgleichen alle Bedeutung des Lebens erschöpft glaubte.

Dennoch war ihm die gedankenlose erste Jugendzeit, die Zeit, ehe er sich nach außen und nach der großen Welt umsah, an Vorfall und Genuß nicht leer geblieben. Die Liebe gedeiht ja in allen Geschichtsepochen und scheint mit ihrer Stärke und Schwäche unabhängig zu sein vom Geiste der Zeit. Ist der Jüngling aber nicht von so festem Holze, die Neigung in sich zu nachhaltiger Flamme entzündet zu sehen, nun, so ist er doch von so entzündbarem, daß es ihm an der Liebschaft nicht gebricht.

Xavers Frühlingszeit schien ihn letzterer Gattung zuzuweisen; der schöne böhmische Junker, wie man ihn nannte, war auf allen Edelhöfen zu sehen, wo es schöne Mädchen gab. Seine wohlhabende Familie stammte aus Böhmen, und hatte sich, weil protestantisch, im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges von dort hinweg und nach Norden gewendet. Nachdem Xavers Vater eine Zeitlang in Dänemark gelebt hatte, wurde er gerade durch die geschlossene Adelsverfassung der Kurländer, welche seinem herrschaftlichen Sinne zusagte, nach Kurland gelockt. Er kaufte hier im Oberlande die Güter Brüggen und Kummeln, beide an zwei anmutigen Seen und nicht weit voneinander gelegen, zunächst natürlich nur als Pfandbesitz, wie dies denn einmal nur tunlich und herkömmlich war. Solch ein Pfandbesitzer entspricht einigermaßen dem Farmer in England, das heißt, er ist eigentlich nur Pachter, wenn diese Pacht auch auf neunundneunzig Jahre gilt und nach Verlauf dieser Zeit nicht leicht aufgelöst wird. Doch kann dies geschehen, und der frühere Besitzer kann vom Rechte des Verkaufs Gebrauch machen, er bezahlt nämlich die Kaufsumme – Pfandsumme genannt – legt die nachweislich auf Verbesserung des Gutes angewandten Kapitalien zu und erzwingt damit den Besitz des Gutes. Der Pfandbesitzer, der in allem übrigen kein Teilnahmsrecht an der Herrschaft des Landes, nicht Sitz und Stimme im Landtage, nicht einmal Teil an der Kirchspielszusammenberufung hat, muß in solchem Falle ohne weiteres das Gut räumen, sei er ein noch so stolzer fremder Edelmann, wie Xavers Vater einer war. Dieser kaufte denn auch jene Güter und noch einige nach der Düna hin nur in der festen Überzeugung und unter vielfacher Zusicherung ihm befreundeter Kurländer, daß ihm nach Verlauf einiger Jahre das Indigenat ohne weiteres verwilligt sein würde, wenn er darum anhielte. Man sehe es gerne, daß der Ankömmling nicht gleich von vornherein die Ritterbank darum angehe, sondern erst, nachdem er halb und halb das Ansehen eines Einheimischen gewonnen habe. So richtete sich denn der schon bejahrte Herr von Bandomir, Xavers Vater, auf Brüggen ein, lebte allda, ein prachtliebender und sonst ganz im Geiste der Kurländer gastfreier Edelmann, einige Jahre und stand eben im Begriffe, sein Gesuch ums Indigenat bei der Ritterbank einzureichen, als den übervollsaftigen Mann jählings ein Schlagfluß traf.

Xaver, der Haupterbe, überwarf sich beim Leichenbegängnisse, das er mit fremdländischer Adelspracht ausrüsten wollte, mit einigen Kurländern, die gegen solche ungebräuchliche Sitte einsprachen, und ließ, ärgerlich gemacht durch solche Einrede, die Frage ums Indigenat zunächst auf sich beruhen. Was Kurländer! dachte der jugendliche Übermut, bin ich nicht Edelmanns genug? Und brauch' ich mehr, nun, so hab' ich ja noch ein ganzes Leben vor mir. Er lebte in den Tag hinein, und schöne Augen interessierten ihn viel mehr als schöne Buchstaben eines Indigenatsbriefes.

Bald zog er auch durch seinen Liebesleichtsinn die Schlinge des Indigenats, mit welcher er bisher gespielt hatte, so enge zusammen, daß es bald nicht mehr von ihm allein abzuhängen schien, ob sein kurländisches Herrenrecht nicht im Entstehen erdrosselt werden könne. Er hatte einem Fräulein von Thorhacken lebhaft den Hof gemacht, dieses Fräulein schien ihm leidenschaftlich entgegenzukommen, man sah die beiden jungen Leute überall nebeneinander, man freute sich des stattlichen Paares, denn Fräulein Anastasia war eine hohe junonische Schönheit mit goldblondem Haare, und Herr von Roop, ein Genosse des schwarzlockigen Xaver, pflegte überall zu sagen: Das wird prächtige Kurländer geben! Mit einem Male verlor sich der schöne Xaver aus dem Kreise seines bisherigen Verkehrs; erst hieß es leise, dann hieß es laut, er habe die stolze Anastasia und das Haus der Thorhacken zum besten gehabt, er gehe drüben an der Düna in einem kleinen Edelhofe aus und ein. Plötzlich brachte er wirklich von dort ein anmutiges, still bescheidenes Mädchen als Frau von Bandomir nach Brüggen, und lebte nicht nur Flitterwochen, sondern Flitterjahre in völliger Zurückgezogenheit. Die Thorhackens und deren Freunde waren außer sich und warben durch ganz Kurland, daß diesem leichtsinnigen Manne niemals das Indigenat erteilt werden solle.

Ach, Xaver dachte nicht ans Indigenat! Seine geliebte Frau gebar ihm den zweiten Knaben und starb im Wochenbette – er war trostlos und ritt in die weite Welt. Wenn Trost oder gar Ersatz zu finden war, in Kurland durfte er beides nicht suchen, dort hatte er sich beides verscherzt.

Jetzt eigentlich trat Xaver erst in die Welt, denn jetzt erst, nachdem der erste Schmerz sich gelegt hatte, fing er an, zu reflektieren und über die Verhältnisse im großen und ganzen nachzudenken. Das hatte er selbst in stillster, häuslicher Liebeszeit niemals getan; er war von jenen raschen slawischen Naturen, die sich rücksichtslos dem eben vorliegenden Verhältnisse hingeben. So hatte er herzlichst geliebt und war herzlicher, häuslicher Familienvater geworden, indem er unwiderstehlichen Trieben gedankenlos sich hingab, und darüber oder gar darüber hinaus keinerlei Gedanken suchte und hegte. Jetzt waren diese Triebe zerstört, diese Verhältnisse aufgelöst, jetzt mußte er sich umschauen nach Bedingungen und Grundsätzen der Welt.

Wenn der Edelmann die Familie aufgeben mußte, so dachte er an den Krieg – Europa kämpfte den spanischen Erbfolgekrieg gegen Ludwig XIV., Prinz Eugen von Savoyen verherrlichte durch geniale Anführung den deutschen Waffenruf, Xaver ging also nach Wien und stellte sich unter die kaiserlichen Fahnen und half 1704 den Sieg bei Höchstedt erringen. Wunderlich genug war es ein Diener, den er in Wien zu sich genommen, welcher ihn in eine andere Laufbahn richtete. Dieser Diener, namens Urban, aus dem schlesischen Gebirge stammend, hatte ein höheres Lebensinteresse als sein Herr. Er war Protestant, und von Jugend auf war all sein Gedanke darauf gerichtet, die protestantische Kirche uneingeschränkt zu sehen. Dieser Gedanke war ihm in der schlesischen Heimat, welche dem katholischen Kaiserhause untertänig, ganz natürlich überliefert worden. Die katholische Bevölkerung Schlesiens, wenn auch nicht so sehr an Zahl, war doch an Macht überlegen, und das nährte den Oppositionssinn der Protestanten. Xaver hatte sich bisher um so etwas nicht gekümmert, es war ihm aber einleuchtend, als ihn Urban darauf aufmerksam machte, wie sein Vater um des Glaubens willen seine schönen Herrschaften in Böhmen verlassen und sich in die Mißlichkeiten der Fremde begeben habe, wie ferner der junge schwedische König, Karl XII., der tapferste, unternehmendste Herr und ein protestantischer Herr sei, der beiläufig doch auch den protestantischen Vorteil im Auge und dies soeben in Polen deutlich dargetan habe. Von alledem sei doch aber hier im kaiserlichen Heere gar nicht die Rede, man könnte alle Tage das Leben verlieren, aber auch durch den schönsten Sieg nicht einen Pfifferling für den lutherischen Glauben gewinnen. – Diese Bemerkungen führten Xaver nicht zu dem protestantischen Interesse, das sie empfahlen, aber da er gar kein anderes hatte und doch wie jeder Mensch innerlichst Verlangen nach einem solchen trug, da ihn ferner die abenteuerliche Ritterlichkeit des schwedischen Königs anzog, so wollte er's versuchen, ob er vielleicht im schwedischen Heere einen lebhafteren Aufschwung für sein Leben finden könnte. Er gedachte auch dabei seiner bürgerlichen Stellung in Kurland; Karl XII. war nach den Siegen bei Narwa und Clissow in den Ostseeländern mächtig, seine Herrschaft konnte dort dauernd werden, kurz, Xaver nahm seinen Abschied und ritt nach Sachsen, in welches der schwedische König von Polen her eingebrochen war. Urban, der als Schlesier zu den kaiserlichen Fahnen gehörte, folgte ihm heimlich, und als im Jahre 1707 zu Altranstädt Friede mit Sachsen geschlossen wurde, waren sie beide schon angesehene Soldaten im schwedischen Heere, Xaver hatte durch kühne Reiterunternehmungen des Königs Lob und den Rang eines Oberstwachtmeisters gewonnen, und Urban erlebte die Genugtuung, daß der Kaiser dem Verlangen König Karls willfahrte und den Lutheranern in Schlesien volle Gewissensfreiheit zugestand. Vergnügt ritt er hinter seinem Herrn her, der mit der Armee durch Polen hindurch nach Rußland zog. Die Schlacht von Pultava, die erste, aber völlige Niederlage, welche Peter der Große dem schwedischen Könige beibrachte, zerstörte wie eine Bombe diesen Lebensgang. Xaver ward verwundet und gefangen und sollte nach dem Innern Rußlands abgeführt werden. – Nachts vor dem Tage der Abführung fand sich Urban, der sich durchgeschlichen hatte, mit zwei tüchtigen Pferden bei ihm ein, sie unternahmen die verwegenste Flucht, und Xaver erschoß bei dieser Gelegenheit einen angesehenen Offizier des russischen Heeres. Die vortrefflichen Pferde entführten sie glücklich bis über die türkische Grenze, und dort schlossen sie sich bei Bender an das kleine Gefolge Karls, der ebenfalls mit großer Mühe hierher entkommen war. Als König Karl von hier aus den ungeheuren Ritt von Demotica nach Stralsund unternahm, war Xaver einer der zwei Begleiter; Urban folgte langsamer, fand sich aber glücklich und getreulich in Schweden wieder zu ihm. Im Jahre 1718 ward König Karl im Laufgraben vor Frederikshall erschossen, und Xaver, dem mit dem Könige das Hauptinteresse untergegangen war, dachte nun zum ersten Male wieder an Kurland und kehrte mit Urban dahin zurück.


Es war ein langer trauriger Ritt durch Pommern und Preußen gen Kurland hin; denn die kürzere Überfahrt zur See verschmähten die alten Landsoldaten. Urban erhöhte die Traurigkeit seines Herrn, weil er keine Lust bezeigte, in ein ihm fremdes Land zu ziehen, und Xaver hoffte auch nichts von der Heimat. Es erwarteten ihn allerdings zwei Söhne und ein Bruder, der sie erzogen hatte, aber der Bruder, welcher sich von Jugend auf mit Büchern beschäftigt, war ihm stets gleichgültig gewesen, und die Söhne kannte er nicht. Alle sanfteren Regungen des Menschen hatte das zwanzigjährige Kriegsleben niedergehalten; für ihn existierten diese Kinder nur wie eine alte Schuldverschreibung, die einzutreiben man weder Lust noch Aussicht hat. Nur wenn die Erinnerung an seine so früh verlorene Elisabeth auftauchte, da blitzte es ihm wie eine Liebeshoffnung undeutlich aber wohltätig durch die übermooste Seele: die Jungen könnten ihr ähnlich sein und ihm ein angenehmer Trost fürs Alter werden. In rohen Menschen erhält sich das Andenken an eine Jugendliebe oft wunderbar mächtig, und es wirkt oft wie ein Zaubermittel, die Roheit zu zügeln und zu lenken; aber – fast möchte man »leider!« sagen – zu dieser Gattung von Rohen gehörte Xaver nicht; er hatte gerade soviel Erziehung genossen, um auch dieses Zaubermittels des Kontrastes ziemlich ledig zu sein. Er war außer sich über den Verlust seiner Elisabeth gewesen, aber im Getümmel der Fremde hatte er sie bald, hatte er sie, wie es schien, völlig vergessen. Jetzt auf dem Heimwege nach Kurland tauchte ihr Bild seit vielen, vielen Jahren, ihm selbst zur Überraschung, wieder auf in seinem leeren Innern, und es überraschte ihn, daraus entspringend, eine Vorsorge für seine Familie. Es geschah dies, als sie nach Danzig hineinritten, und Urban erfuhr bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, daß sein Herr zwei erwachsene Söhne daheim habe. In Danzig nämlich wohnte der damalige Herzog von Kurland, Herzog Ferdinand, und ihm wollte Xaver von Bandomir seine Aufwartung machen in der Absicht, dessen Teilnahme zu gewinnen für das Indigenatsgesuch, welches ihm jetzt als notwendig vorschwebte, und für seine Söhne überhaupt. Die politischen Angelegenheiten sehr wohl kennend, ermaß er richtig, daß dies Indigenatsgesuch jetzt viel größere Schwierigkeiten habe als früher. Er hatte so viele Jahre mit Eifer und Ruhm dem schwedischen Könige gedient, und der schwedische König war derjenigen Mächte, nach welchen sich Kurland richten mußte, entschiedenster Feind gewesen. Er hatte Polen, den Oberlehensherrn Kurlands, er hatte Rußland, den mächtigen Nachbar Kurlands auf Tod und Leben bekriegt. Einen berühmten Offizier dieses Königs ohne weiteres an die kurische Ritterbank aufzunehmen, schien mehr als mißlich. Das wirre Regierungswesen Polens, welches allerlei unregelmäßiges Wesen zuließ, mochte zwar allenfalls übersehen werden, wenn der kurische Adel Bandomirs Verlangen einhellig gewillfahrt hätte. Aber letzteres stand gar nicht zu erwarten, da Xaver vor zwanzig Jahren wenig zärtliche Teilnahme hinterlassen, und die russische Macht, welche nach dem Siege über Karl XII. erstaunlich zugenommen, war bekannt als äußerst aufmerksam auf die einzelnen Schritte in Kurland, sie hatte infolge der Kriegszeit jetzt noch Truppen in Kurland stehen, und es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß in diesem Augenblicke die Ritterbank jemand aufnehmen werde, welcher Rußland mit Recht verdächtig sei.

Für all das konnte die Stellung Herzog Ferdinands eine Aushilfe bieten. Dieser lag mit all diesen Autoritäten in Zerwürfnis. Die Macht des kurischen Adels, welche ihm überall lähmend entgegendrang, war ihm verhaßt, er lebte deshalb auch außer Landes, und seine Regierung bestand aus lauter Beschwerden, die nach Mitau an die Ritterbank abgingen und die zu Gegenbeschwerden umgekehrt nach Danzig zu ihm rückkehrten.

Urban, entzückt von der Familienentdeckung seines Herrn, putzte mit der Militärbürste die Kleider aufs beste zurecht und wartete ungeduldig im Hausflur, als sein Herr vorgelassen war. Xaver hatte sich auch nicht getäuscht; Herzog Ferdinand hatte ihn wohlwollend aufgenommen und ihm seine beste Hilfe zugesagt für das Indigenatsgesuch. So ritten sie ziemlich wohlgemut unweit Polangen nach Kurland hinein und an der südlichen Grenze entlang nach dem Oberlande zu. Es mußte ihnen auffallen, daß sie so gar viel Edelleuten begegneten, die gewaffnet und mit gewaffneten Leuten durch Wald und Feld zogen. Xaver, der sich nicht mehr gekannt glaubte, und auch in den diesseitigen Kirchspielen der Grobinschen und Mitauschen Oberhauptmannschaft immer weniger bekannt gewesen war, redete niemand an, bemerkte aber immer, daß man ihn aufmerksam beobachte, daß man auch wohl ein paar Reiter in einiger Entfernung hinter ihm her schicke, als ob er ein Feind sei, den man rekognosziere. So kam er in die Gegend, welche südlich vom Sauckensee liegt, und ritt nahe an dem Edelhofe Ellern vorüber, der ihm von früher her wohlbekannt war. Herr von Knorre, der Besitzer desselben, hatte zu seinen Jugendgenossen gehört, und als er auch hier einen Zug Bewaffneter aus dem Hofe kommen sah, und an der Spitze desselben den ebenfalls ergrauten, aber immer noch stattlichen Knorre erkannte, brach er sein Schweigen und redete ihn an, fragend, ob ihn Knorre noch kenne, und was denn dies allgemeine Herumziehen in Waffen zu bedeuten habe. Von Knorre, ein schmaler, langer Herr mit spitzem Gesicht und wegwerfender Miene, betrachtete ihn lange, ehe er antwortete. Dann sprach er mit auffallender Betonung: »Ich erkenne in Euch nicht einen kurländischen Bekannten, mein Herr, und wünsche, daß Ihr eine Legitimation bei Euch führt, denn der Kurländer ist an dieser Grenze zu Pferde, weil Landstreicher und Kriegsgesindel ehrliche Leute beunruhigen.«

Ehe noch Xaver etwas erwidern konnte, war Knorre von dannen geritten. Kopfschüttelnd setzte jener seine Reise fort und begegnete bald darauf dem Schloßberger. Die Kurländer nennen sich nämlich seltener bei ihrem Namen, als nach ihren Besitzungen, und so wie Bandomir der Brüggensche genannt wurde, so hieß der würdige Greis von Sieberg, welcher eben langsam am Luxtabache heraufgeritten kam, von seiner naheliegenden Besitzung der Schloßberger. Neben ihm auf unruhigem, kleinem Pferde ritt ein kleiner, stark untersetzter Mann mit einem sehr beweglichen, aufmerkenden Antlitze; es war der Grünwalder, ein Herr von Roop, und er war der erste, welcher Bandomir sogleich erkannte und freundlichst begrüßte. Auch Herr von Sieberg reichte ihm hierauf wohlwollend die Hand, und beide erkundigten sich lebhaft, wie es ihm ergangen, der so lange und in so bewegter Fremde gewesen, und wie es jetzt draußen in der politischen Welt aussehe. Zwischen den Mitteilungen, die er ihnen machte, erkundigte sich denn Xaver auch, was es für eine Bewandtnis mit den wunderlichen Worten des Ellernschen haben könne.

»Sind Euch die wirklich so verwunderlich?« fragte Herr von Sieberg.

»Ich wollte wetten,« kam lachend Herr von Roop Xavers Antwort zuvor, »der Brüggensche Herr hat damals – mein Gott, es sind schon über zwanzig Jahre her! – in den Flitterwochen gar nicht bemerkt, was um ihn her vorgeht!«

Und ehe Xaver näher zufragen konnte, nahm der Schloßberger das Thema des bewaffneten Umherziehens auf, und erzählte ihm, daß es der gewaltsamen Art gelte, mit welcher die Litauer das Recht auf ihre Läuflinge geltend machten. Dies waren nämlich Untertanen oder Leibeigene, die ihrem Herrn entlaufen und anderswo aufgenommen worden waren. Es war sehr häufig, daß sich besonders aus Litauen deren nach Kurland herüberretteten. Nun war allerdings auf Beschwerde und Antrag der litauischen Grenzedelleute ein Landtagsbeschluß gefaßt, daß alle litauischen Läuflinge, die sich der litauischen Erbuntertänigkeit entzogen, und auf den Gütern kurischer Edelleute Aufenthalt und Duldung gefunden hatten, ohne weiteres ihren litauischen Erbherren ausgeliefert werden sollten. Ein Landtagsbeschluß war ferner allerdings allgemein geltendes Gesetz, weil das Ganze, nämlich der Adel, seine Zustimmung gegeben hatte. Aber einmal hielt der Adel nicht eben streng auf die wenigen Gesetze, welche er in seltener Vereinbarung seines mannigfachen Willens zustande gebracht, und dann entschuldigte im vorliegenden Falle die ungesetzliche gewaltsame Eintreibung seitens der Litauer die Umgehung des Gesetzes seitens der Kurländer. Dieser verlor durch die Auslieferung viele landarbeitende Hände, und der Litauer, sein Recht erzwingen wollend, machte besonders ins Oberland bewaffnete Streifzüge, und schleppte dabei nicht bloß litauische Läuflinge, sondern auch kurische Leibeigene mit fort. »Es ist ein völliger Grenzkrieg, Herr von Bandomir,« sagte der Schloßberger, »der Braslawer Ökonomus streift mit seinen Haufen über Schönhaiden, über Ihr Kummeln und Brunnen selbst bis nach Kalkuhnen und in die Nähe von Dünaburg herab, so daß wir hier um Illuxt herum uns sogar nicht mehr sicher glauben. Leider nimmt der Ellernsche, welcher Sie so unfreundlich begrüßt hat, auf ungebührliche Weise als Polenfreund die Partei dieses Chabelsky, und da sich mancher Kurländer in der alten üblen Sucht, etwas Apartes zu wollen, ebenfalls der gemeinsamen Fürsorge entschlägt, so tät' es gar sehr not, wir scharten uns hier im Oberlande zu einer gemeinsamen Abwehr zusammen. Ein alter Kriegsmann wie Sie, Herr von Bandomir, ist uns also doppelt willkommen.«

Xaver ging bereitwillig darauf ein und schlug Brüggen zum Generalquartier vor, andeutend, daß er nun für seine alten Tage auch hoffe, unter die Kurländer ganz und gar aufgenommen zu werden. Als die beiden Herren dazu schwiegen, bat er sie um ein freies Aussprechen ihrer Meinung, da er nicht viel Kurländer kenne, die ihm wohlwollender gesinnt seien, als sie. Darauf sagten sie ihm denn, daß ihnen der gegenwärtige Zeitpunkt nicht passend scheine, um das Indigenat zu verlangen. Alle Welt zähle ihn doch zu den Schweden, und die antischwedische Partei sei infolge des letzten Krieges sehr groß, auch hier treffe er auf Knorre, den Ellernschen, und in diesem Punkte hielten gar viele zu ihm, der auf seine Faust den kleinen Krieg gegen Karl XII. geführt und seinen von den Schweden verbrannten Hof trotzig mit dem Rücken angesehen habe. Wer auch nicht antischwedisch sei, müsse doch in diesem Augenblicke Rücksicht auf Rußland nehmen, welches natürlich übel vermerken müsse, wenn man einen eben von Karls Leiche herkommenden schwedischen Offizier aufnehmen wolle. »Was zu Polen hält,« schloß der Grünwalder, »stimmt natürlich jetzt auch gegen Euch, denn Ihr habt mit dem Eisenkopfe des Königs die Republik unsanft geschrammt, also laßt noch ein paar Jahre ins Land gehen, das ist mein Rat.«

»Aber, wieviel Jahre werd' ich noch haben, und meine Jungen müssen flügge sein.«

»Das sind sie, tüchtige Jungen!«

»Zudem hat mir Herzog Ferdinand seinen Beistand zugesagt.«

»O weh! dann seid Ihr des Mißlingens in Kurland ganz gewiß, und wäret dessen gewiß, wenn Ihr die Kurländer von vornherein so zahlreich für Euch hättet, wie Ihr sie für den Augenblick um der politischen Lage willen gegen Euch habt! Des Herzogs Ja heißt in Kurland Nein, und sein Nein heißt Ja.«

»Aber mein Gott, was ist das für ein Regiment!«

»Unsere Unordnung erhält uns! – In Brüggen also, dem Hauptquartier, mehr davon, ade, wir müssen ein Rendezvous einhalten!«


War Xavers Überraschung groß gewesen, zwei überaus schön gebildete Söhne vorzufinden, so ward es am Ende auch, mit seiner sonstigen Trockenheit verglichen, eine nicht geringe Freude für ihn, sich nach Verlauf einiger Wochen heimlich, häuslich, gepflegt und geliebt zu sehen und zwar von seinem Fleisch und Blut. Dieser rein physische Zauber, welchen eigen Fleisch und Blut ausüben soll, existiert, existiert wenigstens dann, wenn eine Kenntnis des Verhältnisses vorhanden ist. Ein Vater, welcher weiß, daß er sein Kind vor sich hat, wird dieses Kind einem andern vorziehen, auch wenn dies andere viel lobens- und liebenswerter ist; die Nähe seines Kindes wird ihm einen wohltuenden Eindruck machen, wie er niemals von einem andern, auch nicht von dem geliebtesten ausgehen kann. An die Privilegien der Natur reicht nichts, auch nicht der durchdringendste Geist.

Und wie schürte Urban, um diesen Eindruck immer feuriger und mächtiger zu machen! Er war außer sich vor Freude über das Familienleben in Brüggen, er verehrte Herrn Boleslaus, den Bruder seines Herrn Oberstwachtmeister, den Erzieher der beiden Söhne, wie einen Heiligen, er hatte überhaupt einen grenzenlosen Respekt vor aller Gelehrsamkeit, und pflegte zu sagen, ein Buch sei mehr wert als Haus und Hof. Und Boleslaus von Bandomirs Zimmer, eine breite, niedrige Dachstube des einstöckigen Wohnhauses in Brüggen, war ein verschanztes Lager von Büchern, er betrat es mit schauernder Ehrfurcht, wenn er dem Herrn von Boleslaus meldete, daß die Suppe angerichtet sei.

Xaver, dem auch sein Bruder wie alle Welt gleichgültig gewesen war, konnte sich jetzt beim Anblick der bereits so wohlgebildeten Söhne einer gewissen Rührung nicht erwehren, und als die Jungen hinausgegangen und die beiden alten Brüder mit dem Kaffee und der Pfeife beschäftigt waren, reichte er jenem die Hand über den Tisch hinüber, als wollte er ihm danken für zwanzigjährige Mühe. Boleslaus, ein körperlich vertrockneter, frühzeitig ergrauter Mann, der seinen langen Leib wie eine gebogene Gerte krumm gewähren ließ, war innerlich von nie ruhender Lebendigkeit, war also innerlich und äußerlich von Xaver völlig verschieden. Trotz der angestrengten Lebensweise, welche dieser geführt, erschien er neben Boleslaus wie der jüngere Bruder; das kurzgeschorene Haupthaar, welches er wie sein König Karl streng unter der Schere hielt, und das luftrote Antlitz taten es nicht allein, daß er neben dem langen weißgrauen Lockenhaare und dem blassen, eingefallenen Antlitze jünger erschien. Auch die Sprache, auch die Auffassung der Dinge trugen dazu bei. Xaver war in allem Ausdrucke kurz, in aller Meinung, die er äußerte, unbedingt, und sprach er ja einmal längere Zeit hintereinander, wie dies zu Urbans großer Verwunderung jetzt einige Male gegen die ausfragenden und aufmerksam zuhorchenden Söhne geschah, so war es Erzählung, bare, nüchterne Erzählung, was in festen, alles Außenwesen klar bezeichnenden Worten von seinen Lippen fiel. Boleslaus dagegen, mit einem weichen, wohllautenden Organe begabt, sprach gern und viel, und wendete alles, auch das Unscheinbarste nach einer höheren Bedeutung. Und was hatte er jetzt alles mitzuteilen über die so verschiedenen Charaktere seiner beiden Neffen, und über die Besorgnis, welche er für deren Zukunft empfand. Besonders war es das tief leidenschaftliche Wesen des älteren, Stanislaus, was ihn für dessen glücklichen Lebenslauf bekümmerte. Leidenschaften hätten ihren Namen von Leiden, setzte er hinzu, und wenn es nicht gelänge, diese sturmvolle innere Welt des Jünglings durch die mannigfachste und ernsthafteste Bildung zu sänftigen, ferner dessen äußere Existenz vor jedem feindlichen Zusammenstoße mit der Umgebung sicherzustellen, dann stehe das Unglückseligste zu erwarten. Zu dem Ende müsse er noch mehrere Jahre auf hohe Schulen und zu strenger Beschäftigung mit Wissenschaften angehalten, es müßte endlich dieser unsichere Besitz der Pfandgüter um jeden Preis durch Erwerbung des Indigenats verändert werden. Was Scipio beträfe –

»Sage mir nur,« unterbrach ihn hier Xaver, »wie du auf diesen wunderlichen, unchristlichen Namen für den Jungen gekommen bist? Ich hab' ihn gar nicht lesen können, wie du mir damals nach Wien schriebst, du habest ihn Scipio taufen lassen – und alles übrige, lieber Boleslaus, ist lauter Ängstlichkeit, welche dir das Bücherlesen zuwege bringt. Ich hab's damals in Demotica bei Adrianopel am Könige gesehen, daß dies den gesundesten Menschen verschrauben und krank machen kann. Der Verkehr mit König Karl war niemals so schwer, als damals, wie er wochenlang im Bette lag und ein Buch nach dem andern verschlang. Und doch waren's noch lauter brauchbare und für Krieg und Leben erbauliche Wissenschaften, wie Mathematik und Mechanik und dergleichen. Kurz, was sollen dem Jungen hohe Schulen! Mit dem Indigenat aber hast du recht, und wir wollen drangehen, mögen der Grünwalder und Schloßberger sagen was sie wollen – den Teufel auch! ich habe Leuten hierzulande in den letzten Wochen wahrhaftig wesentliche Dienste geleistet, daß ich ihnen eine Landwehr eingerichtet und das Land von den Litauern gesäubert habe. Die Litauer haben mir den Tod geschworen, daß ich sie aus Kurland gejagt, Kurland kann mir doch jetzt ein billiges Gesuch nicht abschlagen, und sei's wie's sei, ich kann den Herzog nicht zum Narren halten! Hab' ihm gesagt, daß ich zum nächsten Landtage einkommen, und er hat mir gesagt, daß er für mich wirken werde, und nun käm' ich gar nicht ein, was müßte der Herr von mir denken! Nächste Woche ist Landtag, sei so gut Boleslaus, und setze die Eingabe auf, damit morgen Hemmo der Jäger sie nach Mitau reitet – was ist das für eine Reiterei im Hofe?«

Dabei sprang er auf und sah, daß eben eine Anzahl Edelleute aus der Umgegend von den Pferden stieg. Sie kamen mit der Kunde, daß die Einfälle der Litauer wieder begännen und zwar gefährlicher als je; sie trieben die Herden der Gutsbesitzer hinweg, brännten ganze Gesinde nieder und führten kurische Leibeigene scharenweise unter dem Titel litauischer Läuflinge mit sich fort. Sämtlicher Adel des Oberlandes bäte den Oberstwachtmeister, an die Spitze zu treten, um einen entschlossenen Feldzug anzuführen.

Der Oberstwachtmeister war sogleich dazu bereit und gab alle Maßregeln an, wie man sich formieren solle, damit man innerhalb acht Tagen nachdrücklich auftreten könne. Er selbst wolle bis dahin eine sorgfältige Rekognoszierung auf der Grenze entlang vornehmen, um den Angriff wirksam richten zu können.

Man warnte ihn, wiederholend, daß die Litauer, namentlich Chabelsky, ihm nach dem Leben trachteten, er aber schlug dies in den Wind, und als die Kurländer nach durchzechter Nacht andern Morgens von Brüggen schieden, ritt auch er mit Urban am See hinab, um über Lautzensee, Lowiden, Ellern, Schönberg auf der kurländischen Seite bis an den Muhsfluß vorzugehen und alsdann auf litauischer Seite bis Braslaw herauf Stellung, Stärke und Bewegung der Feinde auszukundschaften. Das Wetter sah wie aufgehender Frühling aus, die Sonne schien warm, und die beiden Kriegsleute hofften ihre Aufgabe leichtlichst zu lösen. Pascha, der alte Kriegskamerade, der als einjähriger Springinsfeld vor elf Jahren aus einem Balkantale rüstig mitgelaufen war einen Striches bis Stralsund, und der seit der Zeit den Krieg ebenso kennen gelernt hatte, wie er die Jagd von Natur kannte, trabte noch so straff voraus, als ob er erst in seinem dritten Felde stünde.


Dies war derselbe Pascha, waren dieselben Reiter, welche wir bei einbrechender Nacht im Schönhaidener Walde verlassen haben. Xaver war in seiner Jugend allerdings wohlbekannt gewesen mit allen Wegen und Stegen im Oberlande, auch mit denen im Schönhaidener Forste. Das unumschränkte Jagdrecht, welches jedem Kurländer gestattet, ohne Rücksicht auf irgend eine Reviergrenze durch das ganze Herzogtum zu jagen, brachte die jungen Jäger überall umher, machte sie überall bekannt, und obwohl Xaver als bloßer Pfandbesitzer es nicht auf eigene Hand ausüben konnte, so hatte es doch niemand gehindert, daß er sich an Kurländer und deren fliegende Jagd anschloß, und so kannte er Wälder und Felder, Berge und Täler so gut wie jeder Kurländer. Aber in zwanzig Jahren verwischt sich mancher Eindruck, verändert sich jeder Forst, und zur Nachtzeit irrt sich leicht der geübteste Förster in seinem eigenen Reviere. Xaver fühlte sich unsicher auf den kleinen Waldwegen, fand bald eine große Lichtung, wo er hohes Holz erwartete, bald dichtes Stangenholz, wo seiner Erinnerung nach nur niedriges Buschwerk sein sollte, und Urban wie Pascha konnten nicht raten und helfen, denn sie waren hierzulande noch unbekannt. Es blieb ihm nichts übrig, als dem gestirnten Himmel nach die ungefähre Richtung einzuhalten, und so ging es in gutem Schritt einige Stunden vorwärts, bis eine schneidende Kälte immer empfindlicher eintrat und sie der Erwärmung halber zu etwas rascherer Gangart nötigte, wenn sie zufällig einen Waldweg ihrer Richtung angetroffen hatten. So kamen sie gegen Mitternacht in eine Niederung, welche mit engem Stangenholze bedeckt war, und wo alles rasche Fortkommen unmöglich, sogar jegliches Fortkommen äußerst schwierig wurde. Bei dem Tauwetter der vorhergehenden Tage nämlich waren alle Bächlein und Wasser angeschwollen, die entstehende Überschwemmung hatte sich natürlich besonders in solche Niederung gedrängt, und der darauf plötzlich wieder eintretende Frost hatte alles mit einer dünnen Eisrinde bedeckt, welche nicht hielt und unter jedem Fußtritt der Pferde einbrach. Unter einem immerwährenden Krachen, welches sie des Verrats wegen noch mehr fürchteten als den schlimmen Weg, rückten sie nur langsam fort, von Minute zu Minute hoffend, es werde besser, und sie würden nicht genötigt werden, am Ende doch durch die einmal gebrochene Furt umzukehren. Jeder Tritt drang den ihre Pferde liebenden Reitern ins Herz, denn obwohl sie's nicht sehen konnten, so war's ihnen doch einleuchtend, daß die scharfe Eisrinde den Tieren die Beine blutig schnitt. Pascha glitt wohl über die Eisdecke hin, aber auch ihm schien es peinlich zu werden, wenigstens blieb er immer stehen, bis der durchtretende Huf des Pferdes ihn weiter nötigte. Am Ende fing er gar an, leise zu winseln, und Xaver glaubte zu bemerken, daß er dem Kopfe des Pferdes die Zähne entgegenfletsche. Es war in dem engen Holze so dunkel, daß er es erst wahrnahm, als sein Schimmel mehrmals scheuend auf die Seite gedrängt hatte. Jetzt kam ihm erst der Gedanke, Paschas Benehmen deute nicht bloß auf den schlechten Weg, er hielt augenblicklich still, hob seinen Kopf, der zur Erspähung des Bodens fortwährend niederwärts sich geneigt hatte, und ward augenblicks das Schrecklichste inne, das in dieser mißlichen Lage noch begegnen konnte. Etwa tausend Schritte vor sich und links wie rechts in der Runde sah er einzelne Feuer auflodern, und darum her Pferde und Menschen! Die Litauer, wahrscheinlich unter Chabelsky selber, waren vor ihm. Sie waren etwas höher postiert als er, also offenbar am aufsteigenden Rande der Niederung, wo die Eisdecke für sie erst anhub, für unsere Reiter aufhörte. Ebenso offenbar waren sie kurz vorher erst angekommen, denn links und rechts entzündeten sich jetzt erst neue Feuer. Auf den Flügeln mochten einige auch, nicht so bekannt mit dem Terrain, nicht so selbstbestimmend über Marsch oder Halt wie das Zentrum, schon ein Stück hineingeritten sein in die Eisschichten, wenigstens hörte man jetzt an dem sich entfernenden Geräusche, daß sie, die Absicht des Biwakierens erkennend, nach dem Niederungenrande zurückkehrten. Dies Geräusch mochte auch das durch Xaver und Urban erregte Geräusch bedeckt haben, oder die Litauer, welche ihnen zunächst, hatten sie für vorausreitende Kameraden gehalten. Wirklich hörten unsere Reiter auch jetzt einen starken Ruf zu sich herüber, der in polnischer Sprache bedeutete, sie sollten am Rande bleiben und füttern. »Das ist Chabelsky!« flüsterte Xaver zu Urban – er war vor vierzehn Tagen dem Litauer auf einem Streifzuge nahegekommen, hatte ihn in die Flucht geschlagen und dabei ihn gesehen und kommandieren hören.

Die Lage der beiden Reiter war sehr schlimm. Entweder sie mußten unbeweglich die ganze Nacht hindurch zwischen den Eisschollen stehen bleiben und erwarten, daß die Gegner am Morgen den Rand entlang abziehen würden. Aber am Morgen konnte man sie mit den Augen entdecken, und wer mochte auch bestimmen, ob sie den Umweg am Niederungenrande einschlagen und nicht quer durchs Eis kommen würden! Oder sie mußten ihren ganzen entsetzlichen Eisweg zurück machen und zwar augenblicks, ehe bei den Gegnern vollkommene Ruhe eintrat. Aber die Pferde waren von der eben beendigten Anstrengung ganz und gar erschöpft, die Niederung ferner schien nach rechts hin bald aufzuhören, wenigstens sah man Feuer fast nach dem Rücken der beiden Reiter zu auflodern, und da es jetzt auch bei den Gegnern still wurde, so konnte Bandomir und Urban wohl, wenn sie jetzt ein neues fortdauerndes Geräusch erregten, der Rückausgang ihrer Furt verlegt werden. Sie mußten bleiben. – Bald wurde es totenstill, daß sie nicht wagen mochten, unter die klappernden Eisschollen abzusteigen. Wo die Pferde standen, war die Eisrinde durchgetreten, aber rings um die Bäume starrte die Verlängerung der Decke wie abgebrochene Glasscheibe, denn es war ein hohler Raum wohl eine Elle hoch zwischen der oberen Eisdecke und dem unteren Eise. Und die Kälte wurde immer grimmiger, die beiden Männer gefroren zu Bildsäulen, die Haare der Pferde sträubten sich, und Pascha hatte sich, um einigen Schutz zu finden, mitten zwischen die vier Beine von seines Herrn Pferd gelegt.

So vergingen mehrere Stunden, die Reiter hatten kein Wort gewechselt, man konnte sie für erfroren halten. Bei den Litauern regte sich nichts weiter, als daß man hie und da einige Bäume fällen hörte, um das Feuer zu erhalten. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und als es immer finsterer wurde, erhob sich der Wind, begann es zu schneien. Da gab Urban ein Lebenszeichen und zog seinen Herrn am Mantel. Dieser blieb aber unbeweglich. Der Wind wurde immer stärker, der Schnee fiel immer dichter, es entstand von neuem ein Schneesturm, wie sie ihn heute morgen ausgehalten hatten. Da flüsterte Urban: »Gnädiger Herr, wir müssen den Augenblick benutzen und durchbrechen, mit dem Morgen ist das Wetter vorbei, und man entdeckt uns –«

Der Herr schwieg. »Um Gottes willen, gnädiger Herr, sind Sie erfroren?« – »Beinahe!«

»Lassen Sie uns eilen!«

»Rückwärts?«

»Nein, vorwärts! Es sind nur tausend Schritte bis an den Rand, bei dem Wetter hört und sieht der Feind nichts und wir fliegen durch das Biwak hindurch – aber säumen dürfen wir nicht, jetzt ist das Wetter gerade am ärgsten.«

»Meinst du?«

Urban sah mit Entsetzen auf seinen zögernden Herrn, so hatte er ihn sein Lebtag nicht gesehen; er war aber zu gut geübter Soldat, um die Notwendigkeit des Handelns irgend eines Eindrucks halber zu verabsäumen, gab also seinem Pferde die Sporen, nahm zum ersten Male vor seinem Herrn die Spitze, und als er Pascha aufspringen und den Grauschimmel folgen sah, ritt er mutig vorwärts.

Das Krachen des Eises ging unter im Sturme, aber als ob sich alles gegen sie verschworen hätte, der Sturm pausierte just, als sie nahe am Rande waren, nur der Schnee wirbelte noch dick. Urban lenkte mutig zwischen die Feuer und Pferde und die am Boden liegenden Litauer, mitten darunter sich umblickend, ob sein Herr folge. Er, oder vielmehr der Grauschimmel mit ihm folgte, aber mit Entsetzen sah Urban beim Scheine des Feuers, daß sein Oberstwachtmeister totenbleich aussah und zitternd, starren Auges mehr auf die Feinde als auf den Weg sah. Das bestürzte auch den tapferen Diener und machte, daß er sein Pferd einen Augenblick nicht geschickt genug durch die vielen Hindernisse lenkte und es anstoßen ließ an einen Schläfer. Dieser fuhr mit einem unartikulierten Rufe in die Höhe und griff, als wollte er abwehren, mit der Hand vor. Urban entfernte mit raschem Schenkeldruck sein Tier, und der auftappende Litauer faßte unwillkürlich in die Zügel des Grauschimmels, dieser prallte, trat, von einem Menschenkörper zum andern ausweichend, einen Schläfer nach dem andern, schlug, unruhig dadurch gemacht, in die litauischen Pferde mit den Hinterfüßen hinein und erregte einen allgemeinen Aufstand. Urban wandte sich sogleich und führte einen kräftigen Knutenstreich auf den Arm, welcher in des Grauschimmels Zügeln lag, gleichzeitig zog wie erwachend der Oberstwachtmeister seinen Säbel, der Grauschimmel befreite sich mit einem Satze, der Oberstwachtmeister hieb nach der andern Seite gegen einen nach ihm greifenden Litauer, und hinaus waren sie aus dem Biwak, vollen Rosseslaufes eine offene Hügellehne hinaufjagend, durch Sturm und Schnee und Finsternis. Da stürzte der Grauschimmel mit dem Oberwachtmeister, und dieser rief wie in Verzweiflung: »Urban!« In demselben Augenblicke knallten auch Schüsse vom Biwak her ihnen nach – Urban sprang ab, tappte, fand, dem entgegenkommenden Pascha rückwärts folgend, seinen Herrn am Boden, den Grauschimmel zitternd, aber aufrecht daneben, half dem erstarrten Herrn eiligst wieder hinauf, und da dieser nichts weiter sagte als: »Fort, fort, Urban, ich fürchte mich!« so ging's im Galopp durch Nacht und Schnee von dannen.


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