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5.

Wir finden die Brüder als stille Gutsherren wieder, Stanislaus auf Brüggen, und außer diesem Hauptgute Born an der Düna besitzend, Scipio als Herrn von Kummeln und Brunnen. Es war ein stilles Jahr nach ihrer Heimkehr vergangen, denn, ach, sie hatten den Vater schon in kühler Erde gefunden! Trauer, Erbitterung gegen ein Land, welches ihnen immer nur Leid bereitete, erfüllte sie ganz und gar. Ihrem Lebenswandel zusehend, konnte man glauben, sie rüsteten sich zu einem Kriege; die zahlreichen Angehörigen ihrer Güter wurden in regelmäßigen Schießübungen, in kriegsmäßig berechneten Jagden auf Bär und Wolf eingeübt, als gelte es einem nahe bevorstehenden Feldzuge. Selbst ein günstiger Zuschauer konnte an solche Absicht denken, wenn er die in Kurland damals ganz ungewöhnliche Milde und Güte sah, welche die Brüder ihren Untergebenen und Leibeigenen angedeihen ließen. »Sie verderben ihre Leute und geben ein schlechtes Beispiel mit diesen demokratischen Neuerungen,« rief wohl auch einer und der andere Nachbar, »diese blassen Jungen sind unheimlich und brauen Gott weiß was Schlimmes,« rief ein dritter. Wer da bemerkt, wie rasch unter der gedrückten Klasse jeder Hoffnungsstrahl auf Verbesserung gesehen und empfunden wird, der konnte in der Tat unruhig werden; in allen Gesinden wurde von den vortrefflichen Brüggenschen und Kummelnschen gesprochen, und wo in einem Kruge einige der melancholischen Letten zusammenkamen, da ging von den Bandomiren die Rede, und daß man ihnen helfen müsse, wenn sie was vorhätten. Indessen, wie in jeder Aristokratie, so war auch unter den kurischen Herren jener sorglose Leichtsinn, welcher um Prinzip und Zukunft nicht ängstlich bekümmert ist, ein Grundelement. Auf die Macht der Gewohnheit, auf Macht und Reiz der praktischen Notwendigkeit und des freudebedürftigen Naturells rechnet der Aristokrat, und so erwarteten die Oberländer mit Zuversicht, die Bandomire würden dieses wunderlichen Treibens wohl satt werden und würden sich anschließen, wie es seit soviel Jahrhunderten doch noch am Ende jeder getan. Zu billiger Beurteilung hielten sie sich auch wirklich verpflichtet durch den Tod des Oberstwachtmeisters, ein Tod, der doch eigentlich um das Wohl des Landes erlitten war. Daß die Bandomire, wenn einmal in Brüggen oder Kummeln ein Kurländer zufälligerweise einsprach, das Gespräch immer auf Herzog Ferdinand brachten, und daß sie immer Teilnahme für diesen alten eigensinnigen Herrn zu erregen suchten, das zerstreute vollends alle Besorgnis. Für den gab's gar keine Aussicht auf irgend einen Glücksfall, keine Aussicht auf einen Aufstand oder kriegerischen Versuch. Ja, wenn die Bandomire mit der Großfürstin Anna in Mitau, der Witwe des jung verstorbenen Herzogs Friedrich Wilhelm, oder mit Menschikoff, dem russischen Minister, oder mit der polnischen Partei, welche Kurland der Republik einverleiben wollte, oder mit einem der vielen Prinzen Verbindungen gehabt hätten, welche die Hand der Großfürstin und damit den kurischen Herzogshut suchten, ja dann wäre ihr ungewöhnliches Treiben bedenklich erschienen.

Die Brüder hatten wirklich die Verbindung mit dem Herzoge Ferdinand zu unterhalten gesucht, und auf sein Geheisch entschlossen sie sich jetzt, mit ihrer Nachbarschaft in Verkehr zu treten. Denn dem Herzoge war es wohl erwünscht, daß sie für sich und für ihn eine kleine bewaffnete Macht errichteten, aber es lag auch in seinem Interesse, daß ihm und ihnen unter den Kurländern Anhang geworben wurde, und das konnte nicht geschehen, wenn die Brüder ihr Einsiedlerleben auf Brüggen und Kummeln fortsetzten. Stanislaus, von einem herausfordernden Stolze getrieben, entschloß sich leichter zu diesem Schritte, weil er für seinen Haß gegen den kurischen Adel Nahrung und Triumph erwartete in geselliger Berührung. Solange nichts Größeres zu tun war, reizte es ihn, die einzelnen zu demütigen, sobald nur ein ferner Anlaß geboten würde. Auch verlangte sein Naturell dringender nach Menschen und nach Verkehr mit ihnen, als Scipios, der in wissenschaftlicher Beschäftigung ein immer größeres Genüge fand, und der auch bei Bruder und Oheim so lange gebettelt hatte, bis dieser seine stehende Wohnung zu ihm nach Kummeln verlegt. Hier trieb er mit ihm allerlei Studien und beschwichtigte den allenfalls scheltenden Bruder mit der Bemerkung, daß ein halbstündiger Trab auf dem Tatar ihn alle Tage herüber brächte, und daß er ja Urban und Pascha bei sich behielte. Zu den literarischen Beschäftigungen mit dem Oheim gehörte auch die Ausarbeitung der Memoiren über des Vaters Leben, deren Mitteilung Stanislaus erst in Anspruch nehmen wollte, wenn Ohm und Bruder mit Redaktion derselben zustande seien. Stanislaus hatte etwas von der Abneigung vor Bücherwesen, wie sie in des Vaters früherer Zeit geherrscht hatte. Er war ihr nicht in dem Grade unterworfen wie der Vater, das hatte die Erziehung schon verhütet, aber trotz der Rechtsstudien und trotz der aus dem Haß entsprungenen demokratischen Gedankenfolge, die er sich zurecht gelegt, war ihm alle wissenschaftliche Gedankensache unbequem. – Scipio, hierin die Ergänzung seines Bruders, und deshalb dem ersten Anscheine nach nicht geeignet, bereitwillig aus seiner literarischen Einsamkeit in den geselligen Verkehr mit verhaßten Menschen herauszutreten, war von einem andern Drange veranlaßt, diesem Vorhaben beizustimmen. Bekannt mit der Jugendgeschichte seines Vaters, empfand er zwar, wie töricht, ja frevelhaft gerade dieser Drang sei in seiner ersten Veranlassung, aber der Drang war doch so stark, und die Überredung war so geschäftig, es werde die Veranlassung bloße Veranlassung bleiben und dem Herzen unverfängliches Glück anderswoher bringen, daß er selbst den Bruder zu den Besuchen in der Umgegend drängte. Hedwig nämlich und deren schöne Augen hatten eine Liebesahnung in ihm erweckt, die sich nicht mehr beschwichtigen ließ. Hedwig selbst wollte er nicht wiederfinden, der Name, den sie trug, schied sie, wie er vermeinte, auf immer von einem Bandomir. Es ist ja auch nicht sie, sagte er zu sich, es ist der jungfräuliche Reiz des Weibes, der dir die unbeschreiblich süße Sehnsucht weckt, und wer weiß, ob dir dieser jungfräuliche Reiz entgegentreten wird. Die Knorres werden ja uns aus dem Wege gehen, wie wir ihnen!


Dem von Fölkersahmb in Sallonay, dem Freitag von Loringhoff in Demmen auf der Westseite des Sees, dem Mengden in Kalkuhnen, dem von der Mohl in Sickeln, dem von der Roop in Grünwald, dem von Sieberg in Schloßberg und noch weiter ringsum im Oberlande wurden Besuche gemacht, und nur westwärts hinüber nach dem Grenzeinbuge, wo dicht an Litauen das Gut Ellern liegt, wandten sie ihre Rosse nicht. Stanislaus wußte nicht, daß die auch für ihn anziehenden Schweizerdamen dort wohnten, Scipio hatte es ihm verschwiegen, und hätte er's auch gewußt, politische Feindschaft war in ihm so stark ausgeprägt, daß er ihr jedes sonstige Wohlgefallen zum Opfer gebracht hätte. Auch von den verborgenen Beziehungen seines Hauses zu dem Ellernschen, welche Scipio peinigten, wußte er nichts.

Überall wurden die Brüder gastlich aufgenommen, überall war man bemüht, ihnen den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen, und von allen Seiten erwiderte man ihr Entgegenkommen durch Gegenbesuch. Hatten die Brüder, besonders Stanislaus, bei erster Begegnung für manchen Kurländer etwas Ablehnendes und unbehaglich Kaltes gehabt, so verschwand doch dieser Eindruck in Brüggen selbst. Hier kam ihm die Lebensform, deren er mächtig und als Wirt überaus beflissen war, zu statten; er hielt es für schicklich, auf das Freigebigste in die Landessitte des gastfreundlichsten Aufwandes einzugehen, und das gefiel den Kurländern um so mehr, je weniger sie sich dessen von dem zurückhaltenden jungen Manne versehen hatten. Nun wurde die glänzende äußere Erscheinung, es wurden alle die ritterlichen Eigenschaften der Brüder, welche unter dem Adel so hochgehalten sind, erst recht gewürdigt und gepriesen, die jungen Kurländer schlossen sich enthusiastisch an das Brüderpaar, Brüggen und Kummeln wurden nicht leer von Besuchern, und die militärisch eingerichteten Jagden auf den weiten Revieren, besonders nach den Brunnenschen Wäldern hinüber galten der einmal zur Bewunderung erregten Jugend für ein Ideal. Niemand machte auch vom kurischen allgemeinen Jagdrechte auf den Bandomirschen Revieren Gebrauch. Und vollends die Frauen waren entzückt von der gebieterisch schönen Haltung, von dem interessanten Wesen der Sonderlinge, die sich jetzt zu kurischer Weise herbeiließen. Halb scherzend, halb ernst sagte zwar der welterfahrene Roop von Grünwald: »Hütet euch, Männchen und Weibchen, vor diesem Brüderpaare! Sie kommen mir vor wie die verräterischen Berge auf Island, welche unter einer kalten und glatten Eisdecke ein verderbliches Feuer bergen!« Aber das lockte nur mehr, statt abzuschrecken, und eine Frau von Nagel erwiderte, ob denn der Grünwalder das Feuer bei Männern für einen Übelstand hielte? – »Betrachtet nur,« fuhr dieser, sich schelmisch verbeugend, fort, »die blassen Gesichter, das völlig bleiche Gesicht des älteren, betrachtet dessen abschreckenden Ernst, und erschreckt dann nicht vor dem plötzlich aufflammenden, verzehrenden Blicke!« »Man erschrickt manchmal gern,« sagte Frau von Nagel, und einige ältere Kurländer entschieden ein für allemal die Frage über das Brüderpaar mit dem besten kurischen Lobspruche, der da hieß: »Der Brüggensche und der Kummelnsche sind fixe Jungen!«

Wer sie noch nicht kannte, freute sich zum Teil ihretwegen auf das Fest in Schloßberg, welches nächster Tage Herr von Sieberg einem polnischen Magnaten zu Ehren geben wollte, und für welches fast sämtlicher oberländische Adel, die Bandomire inbegriffen, geladen war.

Der Tag kam und mit ihm aus aller Richtung die Blüte des Oberlandes. Von Sieberg stand im Ansehen eines leutseligen und wahrhaft vornehmen Kurländers, sein Schloßberg war berühmt wegen seiner Lage im schönsten Teile des Landes, nahe am romantischen Bergkessel von Illuxt, wegen seiner geschmackvollen Gärten und seiner prächtigen inneren Einrichtung. – Die Bandomire hatten sich verspätet, und die ganze Gesellschaft war schon versammelt, als sie aus dem Walde von Grünwald vollen Rosseslaufes dahergesprengt kamen, den alten Pascha vor sich, den alten Urban in ein Gemisch von schwedischer Uniform und Bandomirscher Livree gekleidet hinter sich. Ein Teil der Gesellschaft, darunter der Hausherr und der polnische Gast, stand auf der großen Freitreppe, ein anderer Teil sah aus den Fenstern des Schlosses, und als sich die Nachricht verbreitete, »die schönen Bandomire kommen,« drängte sich alles hinzu, sie zu sehen. Der Magnat heftete seine Augen auf Urban und fragte erstaunt, wie denn die schwedischen Farben, die Farben des Landesfeindes nach Kurland kämen. Herr von Sieberg gab eine ausweichende Antwort und lenkte des Gastes Aufmerksamkeit auf die schönen jungen Männer, welche rasch von den Pferden gesprungen waren und jetzt auf die Treppe zu kamen. Aber der Magnat kannte den Namen Bandomir, als Sieberg ihn aussprach, und wendete sich zu seinem Nachbar, dem finster zusehenden von Knorre mit der Frage, ob denn der Ökonomus Chabelsky wieder hergestellt und ob die Angelegenheit vergessen sei. –

Eben als von Knorre erwiderte, das sei sie wohl nicht, weil man dem Ausländer nicht vergebe, was man dem Kurländer längst vergeben hätte, standen die Brüder dicht neben dem Magnaten und wurden ihm durch den Hausherrn vorgestellt. Stanislaus hatte die vorhergehende Frage und Antwort gehört, der Zorn überlief ihn mit seinem Schauer von dem Scheitel bis zur Zehe, Totenblässe überzog sein Gesicht, und die ganze Gewalt des Charakters drang aus seinen starr blickenden Augen auf den Magnaten und dessen Nachbar, dergestalt, daß der Magnat betroffen nicht eine Silbe der Begrüßung dem ihm vorgestellten Brüderpaare zu erwidern wußte. Die peinliche Pause ward durch Stanislaus unterbrochen, der langsam, aber laut und scharf akzentuiert sprach: »Wenn ein Grenzräuber mordet, weil sein Bruder im offenen Kampfe verwundet worden ist, so fragt man unter gebildeten Nationen nicht, ob er vergessen will, sondern ob ihm vergessen wird. Und die Söhne des Oberstwachtmeisters von Bandomir haben kein schwach Gedächtnis!«

Als er dies gesprochen, schritt er, seinen Bruder Scipio an der linken Hand führend, durch die respektvoll ausweichende Gesellschaft ins Schloß hinein, den Magnaten ohne weiteres stehen lassend.

Der Vorfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch alle Zimmer; die Jugend, immer auf Seite der entschlossenen Äußerung und der polnischen Partei, welche eine Einverleibung Kurlands mit Polen anstrebte, großenteils abgeneigt, drängte sich stürmisch um das Brüderpaar und geleitete es in ein Zimmer, wo ihre Väter oder Anverwandte, kurz wo die wichtigsten Mitglieder des kurischen Adels am zahlreichsten beieinander waren. Der Weg führte durch den Saal, in welchem sich die meisten Damen aufhielten, aber der Eifer der jungen Leute gönnte sich dort keinen Aufenthalt, wie lebhaft auch hier eine Mutter, dort eine Schwester einen und den andern Begleiter anrief, oder anwinkte, um etwas über die entstandene Bewegung zu erfahren. Die Bandomire grüßten rechts und links die plötzlich überall schweigenden, aufmerksamen Damen und folgten ihren Verehrern in das daran stoßende Zimmer. Es waren da die wichtigsten Personen der Ritterbank versammelt, weil nicht bloß aus dem Oberlande, sondern auch weither der Adel nach Schloßberg gekommen war, und weil auch bei einem mit Landesgeschäften nicht zusammenhängenden Feste die ernsten Leute des Landes sich überall gleich zusammenfinden, besonders in einem Lande, wo alle Notabilitäten weit auseinander verstreut auf den Gütern wohnen. – Die Zahl der in das Zimmer nachdrängenden Kurländer wurde immer größer, und auch ältere Damen kamen an die offene Tür, um zu hören oder zu sehen, was denn eigentlich vorgehe. In der Tat beabsichtigte niemand einen offiziellen Vorgang, man wollte nur dem Brüderpaare eine freundschaftliche Teilnahme ausdrücken, weil der Magnat und die polnische Partei es ungebührlich empfangen habe. Daß der verstorbene Bandomir in der Verteidigung Kurlands gefallen und von Jakob Chabelsky auf eine nicht streng kriegsmäßige Weise getötet worden, das wußte ganz Kurland, und wenn die solchergestalt des Vaters verlustigen Söhne dafür auch noch bedroht werden sollten, so erschien das wie eine Ungebühr und erweckte ihnen die allgemeinste Teilnahme. Der Kreisadelsmarschall, in jenem Zimmer anwesend, schritt ihnen deshalb entgegen und machte ihnen, zwar offenbar aus dem Stegreif, aber, weil öffentlich, und seiner Würde wegen so gut wie offiziell, den Antrag, beim nächsten Landtage ums kurische Indigenat einzukommen. »Ich hafte Ihnen mit meiner Ehre dafür,« setzte er hinzu, als ein leuchtender Blick aus beider Brüder Augen wie ein Blitz auf ihn einfuhr, »ich hafte Ihnen mit meiner Ehre dafür, daß Ihr Gesuch freudige Anerkennung finden wird!«

Eine allgemeine Beistimmung der Gesellschaft bestätigte dies, und der Adelsmarschall fuhr fort: »Konnte es früher nicht geschehen, so lag dies teils in politischen Gründen, die Sie ohne meine weitere Erklärung würdigen werden. Diese sind zum Teil im Augenblicke weniger dringend, da Rußland mit Schweden den Nystädter Frieden geschlossen hat, und Ihr tapferer und würdiger Vater leider nicht mehr lebt, zum Teil müssen sie in den Hintergrund treten vor der Verpflichtung, die uns Ihr Herr Vater durch seine Aufopferung auferlegt, vor dem Wunsche, den die Ritterbank hegen muß, zwei so stattliche Erben eines um unser Land verdient gewordenen Namens in ihrem Schoße zu besitzen.«

Man konnte über diesen Punkt nicht verbindlicher sprechen; und die Beifall murmelnden Kurländer erwarteten natürlich und mit Recht den höflichsten Bescheid von den Brüdern. Aber dieser Punkt war die schmerzhafteste Wunde derselben, und wer sie antastete, geschah's auch in liebevollster Absicht, mußte des stürmischsten Auffahrens der Verwundeten gewärtig sein. Stolz ist in festgenieteten Gemütern ein rücksichtsloses Wesen, und festgenietet waren diese Bandomire. Dem Beifallsgemurmel war eine atemlose Stille gefolgt; man wollte die dankbare Erwiderung der so geehrten jungen Männer hören. Eine Pause trat ein, und Scipio, der sonst dem älteren Bruder immer die Rede ließ, bei Verlängerung der Pause aber glauben mochte, es fehle dem Bruder das richtige Wort, erhob mit den Worten: »Herr Marschall« seine Stimme, um die Antwort auszusprechen. Stanislaus, der seine Hand noch gefaßt hielt, preßte sie krampfhaft und sprach, sein Wort an die vorausgeschickte Anrede des Bruders schließend, mit demselben langsamen, tief eindringlichen Nachdruck wie unten auf der Treppe, folgendes:

»Der Name Bandomir hat jahrhundertelang im Adelsbuche eines Königreichs gestrahlt und ist bis hierzu nicht angefochten worden. Sollte das letztere wider Erwarten geschehen, so werden wir nicht unterlassen, ihn durch Nachsuchung des Indigenatsrechtes oder in Polen für zweihundert Gulden erneuern zu lassen. Für jetzt also haben wir kein Bedürfnis des Indigenatsrechtes und danken höflich für den Antrag!«

Nach diesen Worten gingen die Brüder unter lautloser Stille in den Saal zurück, nur einen Blick untereinander austauschend, der Stanislaus versicherte, Scipio hätte sich ebenso äußern wollen.

Ein Gut verschmäht zu sehen, welches wir selbst für das höchste halten, erniedrigt uns vor unsern eigenen Augen, und da man sich eine Erniedrigung nicht ohne Widerstand gefallen läßt, und da dies Gut hier einer ganzen nationalen Gemeinschaft gleich hoch stand, niemand also an sich selbst irre werden mochte und konnte, so mußte diese Rede unter den anwesenden Kurländern Unwillen oder wohl gar Erbitterung aufregen. Die günstige Stellung der Brüder war hierdurch mit einem Streiche vernichtet; die Jüngeren standen beschämt und wagten es nicht, etwas zur Verteidigung der Bandomire vorzubringen, und die Älteren machten sich erst in einzelnen Ausrufungen Luft, dann in Vorwürfen gegen den Marschall, welcher durch voreiliges öffentliches Anerbieten die Würde des Indigenats bloßgestellt habe, dann in vereinigten Ausdrücken des Unwillens.

Während dieses mehr und mehr anwachsenden Lärmens im Nebenzimmer standen die Bandomire mitten im Saale und sahen sich unter den Damen um, ob eine Bekannte darunter zu grüßen und anzureden sei. Eben als die entgegenstehende Tür sich öffnete und der Magnat mit von Sieberg und der übrigen Treppengesellschaft eintrat, flog eine freudige Überraschung über Stanislaus' Gesicht, und er eilte auf eine Dame zu, die allein saß und nach der Saaltür und den eben Eintretenden hinblickte. Es war die Bekanntschaft aus der Schweiz, war Frau von Knorre.

Sie hatte, ehe Stanislaus sie sah und begrüßte, lebhafte Teilnahme für ihn und Scipio an den Tag gelegt, obwohl sie bemüht gewesen war, diese Teilnahme zu verbergen. Und doch zeigte sie sich jetzt, als Stanislaus mit soviel Lebhaftigkeit zu ihr kam und nach ihrem und ihrer Tochter Wohl sich erkundigte, mehr verlegen als erfreut. Der alltägliche Beobachter würde gesagt haben: Die Frau ist in Liebe! Seht, wie ihre Farbe wechselt, wie sie bald nach ihrem Gatten sieht, der mit dem Magnaten durch den Saal schreitet und erstaunt auf sie hinblickt, wie bald der innigste Ausdruck auf ihrem Antlitze erscheint, wenn sie sich Aug' in Auge mit dem schönen Kavaliere findet. Jetzt, seht, seht! jetzt erbleicht sie völlig, und ihre Hand will sich zum Hinwegwinken heben, denn ihre Tochter Hedwig naht sich ihr. Die schön erblühte Jungfrau ist mit Freundinnen im Garten gewesen, sie weiß noch nichts von der Ankunft ihrer Bekannten aus der Schweiz, sie steht plötzlich vor Stanislaus, sich zum lieblichsten Schrecken, diesem ein plötzliches Wunder. In der Tat war mit Hedwig seit jener Reisebegegnung das Mädchenwunder vorgegangen, welches sich immerwährend um uns her begibt, und welchem nur die Mutter und der davon zur Liebe erwachende Jüngling die Aufmerksamkeit zuwendet. Was helfen uns die tausend Wunder der Welt, uns, die wir nicht hören und sehen mögen! Stanislaus hörte und sah mit tausend Organen. Verbleichende Reste anziehender Eigenschaften hatten ihn in der Sennhütte zu Hedwigs Mutter gezogen, und er hatte nicht bemerkt, ja kaum geahnt, daß sich diese Eigenschaften in der Tochter entfalten wollten! Jetzt waren sie entfaltet, im weißen Gewande stand die Jungfrau vor ihm, und der ernst-sinnige Mund der Mutter lockte ihn jetzt wie das Gedicht seines Herzens, das auf Hedwigs Lippen schwebte. Die Mischung von Schwärmerei und Schalkhaftigkeit in Hedwigs Auge war unwiderstehlich, denn was im verblicheneren Auge der Mutter nur anziehend gewesen, das war hier von der dunkleren Jugendfarbe, vom Schmelz der Wangen, der Wimpern, des Haares, vom Schimmer der blendenden Haut zu mächtiger Schönheit erneut!

Und mit der aufblühenden Mädchenschöne blüht auch im Herzen der Jungfrau das männliche Ideal auf. Wie groß und würdig es werde, darüber entscheidet das Glück oder das Mißwollen früher Begegnung. In kleinen Acker- oder Fabrikstädten, welche dem Mädchenauge nur dürftige Jünglinge zeigen, da wächst das Ideal nicht über die Mittelmäßigkeit hinaus. Die Bandomire waren oben in der Sennhütte zum Idealkeime für Hedwig geworden; aber, hatte sie sich getäuscht? Scipios Bild und Wesen hatte sie vorherrschend in sich geglaubt, und dieser prächtige Mann, den sie jetzt in sichtbarer Neigungserregtheit vor sich sah, von dessen Nähe sie sich lieblich durchschauert fühlte, dessen Handberührung sie wie Himmelsmacht durchzuckte, dem sie geschlossenen Auges ans Herz gesunken wäre, hätte er sie dahin gezogen, es war Stanislaus! Das dunkle Haar und Auge, das blasse Antlitz, die herrische, mächtige Gestalt, das entschiedene Wesen hatte ja doch in ihrem Herzen erst hinter dem lichteren, sanfteren Wesen Scipios seinen Platz gehabt – wirklich? Sie wußte das doch nicht so genau und gab sich fraglos selig dem Eindruck hin: Du bist geliebt und liebst!

Wer das Glück hat, führt die Braut heim! sagt das Sprichwort, und wer den Mut hat und den Vortritt gewinnt und das erste Wort, der erhascht das Glück, das unstet schweifende! Scipio stand wie vernichtet von fern; er sah alles, alles, und sah die Verwunderung der Gesellschaft, daß der eben erst so stolze Bandomir den Feinden seines Hauses, den Ellernschen, so offene Hingebung erwies, und hörte das Flüstern der Geringschätzung von Männern, welche Konsequenz heischten, auch wenn die Konsequenz sie selbst beleidigte, von Frauen, welche einen freigeglaubten Freier, diesen überall wirksamen Reiz für Frauen, der Freiheit verlustig sahen. Ach, und was Scipio von außen sah und hörte, wie leichten Schmerzes war es gegen das, was er empfand und für alle Zukunft hin voraussah. Ihm war das Bild des Herzens, welches jetzt in voller Mädchenpracht, schöner als seine Träume es ausgemalt, wieder erschienen war, ihm war es entwendet, und dem geliebten Bruder konnte es auch nur zu Schmerz und Entsagung gekommen sein, sobald er erfuhr, daß es dem Knorreschen Hause angehörte.

Jetzt trat auch der Ellernsche selbst, der lange, magere Herr von Knorre zu den Seinigen. Sein schmales, scharfes Gesicht, dessen Augen halb niedergedrückt, dessen Ausdruck halb sauer, halb lächelnd war, ließ nicht erraten, wie er die vor ihm sich begebende Szene aufnehmen werde. Frau von Knorre, glühend rot, stellte Stanislaus ihrem Manne vor, bei jenem den vollen Namen nennend und hinzusetzend, daß sie das Vergnügen der Bekanntschaft in der Schweiz gemacht habe, bei diesem nur sagend »Mein Mann«. So hörte Stanislaus noch keinen Namen, es fuhr ihm wohl bei einem flüchtigen Blick auf Knorre durch den Sinn, daß er dies Gesicht neben dem Magnaten gesehen habe, aber er war so voll vom ersten Liebeseindrucke, daß nichts anderes an ihm haften konnte. Er reichte eilig dem Vater Hedwigs die Hand entgegen, empfand nur ein augenblickliches Unbehagen, die Hand des neuen Bekannten eiskalt zu finden, und bemerkte es nicht, daß ihn der alte Herr mit keinem Worte begrüßte, sondern nur anblickte, forschend, höhnisch? was wußte er! Der Haushofmeister erschien eben an der Saaltüre und verkündete, daß die Tafel angerichtet sei, Stanislaus hatte also nichts Angelegentlicheres zu tun, als Hedwig seinen Arm zu bieten. Er fühlte in seligster Empfindung dies jugendliche warme Leben an seinem Arme, und als jetzt auch Julius von Knorre, Hedwigs Bruder, den er kannte, herbeikam und ein paar den Bruder verratende Worte im Vorbeigehen zu Hedwig sprach, da fragte Stanislaus ohne weitere Bewegung, ob Julius von Knorre ihr Bruder sei. Die Bejahung machte keinen weiteren Eindruck auf ihn; der zum Sprechen geöffnete Mund seines Mädchens schien all seine Teilnahme in sich zu schließen, und er sah es nicht, daß Julius, offenbar verwundert über den unerwarteten Tischkavalier seiner Schwester, hinter ihnen stehen geblieben war, und ihnen, dem für den Augenblick so glücklichen Paare, höchst ernsthaft nachsah. Als der junge Knorre eine Hand auf seiner Schulter fühlte und rückwärts blickte, sah er in das Gesicht seines Vaters und hörte die Worte: »Was ist das?«

Ein lichtblonder, feister Herr namens Adolf von Puttkammer war an die Knorres herangetreten und sagte, halb antwortend, halb für sich: »Das ist eine Pfandherrnimpertinenz.«


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