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Zehn Uhr morgens. Mister Youngpig saß auf hohem Schraubstuhl vor seinem Pult und schrieb. Das Privatkontor war mit Aktenregalen und Bücherschränken angefüllt, dazwischen Telephone und Telegraphenapparate, aber nur für den Verkehr mit den übrigen Angestellten des riesigen Hauses bestimmt. Wendete der Schreiber den Kopf, so blickte er durch ein Fenster in einen großen Saal, in welchem wohl hundert Leute hinter Schreibtischen saßen, schrieben, die zahlreichen Telephone bedienten und die eintretenden Reporter anhörten.
Hier wurden dem ›New-York Herald‹ die Tagesereignisse mitgeteilt, und Mister Youngpig, der sich jetzt allerdings Absalom Lind unterschrieb, war Redakteur dieser wichtigen Abteilung.
Ein Herr trat ein – Nikolas Sharp.
»Einen Augenblick Zeit, Herr Redakteur?«
Youngpig rutschte von seinem hohen Sitz herunter.
»Ob ich einen Augenblick Zeit habe! Mensch, ich sitze schon seit heute früh 6 Uhr hier und erwarte dich. Du siehst recht ernst aus.«
»Habe auch keinen Grund zum Lachen.«
»Hast du ihn?«
»Ich habe ihn.«
»Hattest du viel Arbeit mit ihm?«
»Fast gar keine.«
»Ach was? So ließ er sich gleich festnehmen?«
»Er rührte kein Glied dabei.«
»Das wundert mich. Wohin hast du ihn gebracht?«
»Deadstreet Nummer 24.«
»Wohin?«
»Ins Leichenhaus für Unbekannte. Eduard Flexan ist tot. Diesmal aber wirklich.«
»Erzähle, wie alles kam!«
Sharp setzte sich, zündete eine Zigarre an und erzählte.
»Ich bin mit deinem gestrigen Liebchen Rosetta sehr zufrieden gewesen, sie benahm sich wie eine gewiefte Detektivin. Anfangs ließ ich sie allein gehen, nachdem ich ihr ein Zeichen gegeben, daß ich derjenige war, der ihr folgen würde. Dann, als wir in ganz einsame Gassen kamen, machte ich mich an sie heran, tat wie ein verliebter Narr, und so gelang es uns, ein Gespräch zu führen, welches nicht aufgefallen wäre, auch wenn man uns beobachtet hätte. Sie nahm bald meinen Arm und sagte mir, wir hätten keine Beobachtung zu fürchten, sie wäre die letzte, über welche Flexan Macht hätte. Kein anderer stände noch unter dem Befehl des Meisters.«
»Das sagte sie mir auch.«
»Nun gut. Wir gingen kreuz und quer durch Straßen und Gassen, bis wir jenes Viertel erreichten, wo sich die größte Armut niedergelassen hat, welches zu betreten selbst einem Detektiven graut – dicht bei der Chinesenkolonie.
»Endlich hatten wir das halbzerfallene Hans erreicht, wo Flexan wohnen sollte. Eine stumpfsinnige Alte öffnete uns die Tür, Rosetta, welche wie eine Heilige behandelt wurde – weil sie wahrscheinlich mildtätig gewesen – stellte mich als einen Freund vor, und wir traten ein.
»Rosetta begab sich in den Keller hinunter, ich blieb ihr dicht auf den Fersen.
»›Hast du es?‹ krächzte uns eine Stimme entgegen.
»Im Scheine einer Stall-Laterne sah ich Flexan in seiner ganzen Scheußlichkeit, in Lumpen gehüllt, auf einem Strohbett liegen, häßlicher, als je. Aus seinen Augen sprach Irrsinn – es war der Blick des zu Tode gehetzten Wolfes.
»Er erblickte mich und – ich zweifle nicht daran – erkannte mich, wußte, warum ich kam.
»Mit dem Gebrüll eines Raubtieres sprang er nicht auf mich, sondern auf Rosetta los, ich riß das Mädchen zurück und wollte ihn auffangen, aber es war nicht mehr nötig.
»Plötzlich brach er zusammen, und nun kam eine Viertelstunde, ein Schauspiel, welches selbst meine Nerven angegriffen hat.«
Sharp war aufgestanden und ging schweratmend im Zimmer auf und ab.
»Wie? Selbst deine Drahtnerven konnten die Szene nicht ertragen?«
»Kaum. Es war zu furchtbar. Ich habe Leute im Delirium, Wahnsinnige, vom Gewissen Gefolterte, Tobsüchtige sterben sehen, aber Flexans Todesstunde spottet aller Beschreibung, deshalb erlasse sie mir. Doch, ja, einmal habe ich etwas Aehnliches gesehen – als ich eine Hyäne durch den Leib geschossen hatte. Ebenso wand sich Flexan in Zuckungen am Boden. Der Tod hat ihn mit seinen knöchernen Krallen noch in der letzten Stunde für seine Vergehen bestraft.
»Ich untersuchte seine wenigen Halbseligkeiten. Sie enthielten einige Papiere mit Ortsaufzeichnungen, ich vermute dort versteckte Schätze, denn von solchen schwatzte der Sterbende immer. Dann ließ ich ihn ins Leichenhaus schaffen. War Rosetta schon hier?«
»Nein.«
»Dann kommt sie noch. Sie ordnet ihre letzten Angelegenheiten. Ich werde ihr behilflich sein, fortzukommen. Das Mädchen hat bereut – –«
»Hast du Nachricht über die ›Vesta‹und den ›Amor‹?«
»Das sollte ich dich fragen.«
»Ich weiß nichts.«
»Ich auch nicht. Dagegen hat mir Hoffmann depeschiert – das heißt unter uns gesagt – daß er mit dem ›Blitz‹ auf dem Wege nach New-York ist.«
»Dann begleitet er die beiden Schiffe?«
»Jedenfalls, und das ist gut.«
Ein Telephon klingelte, es erschien daran eine Nummer.
»Eine private Mitteilung aus der Abteilung für Schiffsnachrichten,« sagte Youngpig und trat ans Telephon.
Sharp achtete erst nicht auf seinen Bruder, dann hörte er ein leises Stöhnen, und verwundert sah er nun, wie die Hand Youngpigs, welche das Hörstück hielt, heftig zitterte, wie sein Gesicht aschgrau war.
»Was gibt's, Youngpig?«
Dieser klingelte ab, trat vor Sharp hin und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter.
»Bruder, eine furchtbare Nachricht!«
»Soeben ist die ›Troja‹ in den Hafen eingelaufen,« sagte der Redakteur mit bebender Stimme, »und bringt die entsetzliche Nachricht mit, daß sie im Nebel ein Schiff in den Grund gerammt hat. Vierzehn Stunden hat sie die Unglücksstätte abgesucht, ohne etwas anderes zu finden, als ein Brett.«
»Allerdings schlimm, es wird ein stählernes Fahrzeug gewesen sein.«
»Und auf dem Brett stand ›Amor, Insel Wight‹.«
Der Detektiv prallte zurück.
»Was?«
»Es ist so – der ›Amor‹ ist untergegangen und mit ihm alle, alle Herren.«
»Die armen Mädchen – wenn sie es erfahren,« sagte Sharp dumpf und wandte sich um. Doch er hätte es nicht nötig gehabt, sein Bruder konnte die Tränen in seinen Augen vor den eigenen nicht sehen. – – – –
Vier Uhr nachmittags. Sharp hatte Rosetta zur Bahn gebracht und befand sich wieder auf seines Bruders Kontor.
Diese beiden Männer gaben sich nicht lange dem Schmerze über ein Unglück hin, das sie nicht mehr ändern konnten, sie sprachen nicht mehr über den ›Amor‹, sondern über Sharps gegenwärtige Absichten.
Eben führte dieser aus, daß er nun die Zeit für gekommen halte, einen Privatprozeß gegen die Verbrecherbande zu beginnen, welche vom Meister, von Eduard Flexan, geleitet worden war – die sechs Hauptmitglieder befanden sich in seinen Händen – als ein Reporter hereingestürzt kam.
»Die ›Vesta‹ kommt!« schrie er atemlos.
Elektrisiert sprangen beide empor.
»Sie ist vom Leuchtturm aus signalisiert.«
Ein nicht endenwollendes Klingeln rief Youngpig ans Telephon, der Chefredakteur begehrte ihn zu sprechen.
»Sofort an den Hafen – Dampfer nehmen – entgegenfahren – Sie selbst,« lautete der Auftrag.
Youngpig stand schon auf dem Sprunge.
»Ich komme mit,« rief Sharp.
»Die Dampfer sind schon alle vermietet und fort, es wurden ungeheure Preise gefordert,« ließ sich der Reporter vernehmen.
»Verdammt!«
»Nur einer ist noch da.«
»Schon vermietet?«
»Ja, durch mich auf eigene Faust für den ›New-York Herald‹.«
»Bravo. Wenn nun höhere Angebote erfolgen?«
»Geht nicht, der ›Herald‹ zahlt stets 100 Dollar mehr als der Höchstbietende.«
»Bravo – Sache gut gemacht!«
Die beiden Brüder stürmten hinaus. Unten fuhr eben ein schnelles Kab vorbei, und Sharp fiel dem Pferd in die Zügel, der Kutscher war starr vor Schrecken, auf offener Straße am hellen Tage überfallen zu werden.
»Nach dem Hafen!«
»Ich fahre eine Dame.«
»Sie ist damit einverstanden.«
Dem Kutscher flog ein Goldstück in den Schoß, er lenkte in eine andere Straße. Sharp sprang seinem Bruder in den Wagen nach, in welchem eine Dame saß. Sie hatte das Gespräch gehört.
»Meine Herren, das ist eine Unverschämtheit,« eiferte sie, »ich fahre zur Hochzeit meiner Tochter.«
»Und wir zu einem Sterbenden.«
»Die Hochzeit findet ohne mich nicht statt.«
»Und er kann ohne uns nicht selig werden – fort Kutscher.«
Die Dame mußte mitfahren, angehalten wurde nicht.
Der Hafen war noch lange nicht erreicht, als der Wagen schon halten mußte. In Hunderten von Reihen standen die Menschen auf dem Quai, um der Ankunft des Damenschiffes beizuwohnen.
»Ich kann nicht weiter,« rief der Kutscher.
»Aussteigen, ich breche Bahn,« sagte Sharp.
»Meine besten Glückwünsche zur Hochzeit Ihrer Tochter,« rief Youngpig in den Wagen zurück.
Wie ein Keil brach Sharp durch die Menge, Youngpig schob nach, doch ging es nur langsam vorwärts. Dann wurde ersterer erkannt, der Name Nick Sharp ging von Mund zu Mund, man wich zurück, so weit man konnte, und jetzt ging's schneller.
Endlich hatte man den kleinen Dampfer erreicht, welcher von Herren umdrängt war, darunter vielen Reportern, als stände ein Weltuntergang in Aussicht, und nur dieser Dampfer könnte der Vernichtung entgehen.
An der Laufbrücke stand der Kapitän und hörte mit unerschütterlicher Ruhe die Preise an, welche man ihm für die Fahrt bot.
»5000 Dollar,« rief eben ein Herr.
»5100,« entgegnete der Kapitän, »wer bietet mehr?«
»6000 Dollar.«
»6100,« versetzte der Kapitän, der eine Auktion zu veranstalten schien.
»Ihr werdet schließlich gar nichts bekommen.«
»Ich glaube doch – da sind sie schon.«
Die Brüder sprangen über die Laufbrücke, sie ging hoch, der Dampfer setzte ab.
»Spart keine Kohlen – hängt euch an die Ventile,« schrie Youngpig in den Heizraum hinab.
Die Schraube peitschte das Wasser, der Dampfer schoß der Flotille nach, welche der ›Vesta‹ entgegenfuhr.
Ganz New-York schien am Hafen versammelt zu sein, nichts als Köpfe, Zylinder, Mützen, Damen- und Herrenhüte, Sonnenschirme waren zu sehen.
Im Hafen lagen nur große, schwere Schiffe, alle übrigen waren vermietet, von kleinen Dampfern und Booten war keine Spur mehr.
Die Liberty, jene im Hafen stehende, riesengroße Statue mit Fackel, die Freiheit darstellend, hatte ein ganz anderes Aussehen bekommen, überall hockten Menschen auf ihr herum, das Fundament war mit Menschen übersät, ebenso die anderen, vor New-York befindlichen Inselchen, auf denen Gefängnisse und Krankenhäuser stehen.
Wurde hier Platzgeld verlangt, so hatten die Institute heute einen gesegneten Tag, und der Amerikaner läßt nie eine Gelegenheit vorüber, wenn er die Kasse füllen kann, gleichgültig ob es seine oder eine ihm nur anvertraute ist.
Der nachjagende Dampfer hatte die Boote bald überholt. Er befand sich zwischen den übrigen Fahrzeugen der Begrüßungsflotille, und nun mußte die Fahrt gemäßigt werden, wollte man nicht Unfälle heraufbeschwören. Kleinere Kollisionen waren schon vorgekommen, ein Dampfer hatte schon in völlig leckem Zustande eine Insel anlaufen müssen.
Dann machte sich auch noch das Meer bemerkbar, der Seegang reichte bis hierher, und die Fahrzeuge begannen zu schaukeln, weshalb eine noch größere Distanz eingehalten werden mußte.
Unser Dampfer befand sich noch nicht an der Spitze der Flotille, aber er suchte diese zu erreichen. Jetzt bog die Spitze um eine Insel, und: »die ›Vesta‹!« erklang es. Der Ruf fand Widerhall. Mit Blitzesschnelle pflanzte er sich fort, von Schiff zu Schiff, von Insel zu Insel, bis er selbst das Land erreichte und dort eine Bewegung, ein dumpfes Murmeln in der nach Hunderttausenden zählenden Menge hervorbrachte.
Ein Schiff nach dem andern kam um die Insel herum, und seine Mannschaft und Passagiere brachen bei dem Anblick der ›Vesta‹ in Jubelrufe und Begrüßungen aus.
»Was rufen die Kerls da vorn immer?« sagte Sharp zum Bruder.
»Ich höre nichts,« sagte der vor Ungeduld fast vergehende Reporter.
»Sie müssen sich über etwas wundern.«
»Einen Augenblick noch, gleich sind wir an der Inselspitze vorüber.«
Der Augenblick schien ihnen eine Ewigkeit, doch endlich bog der Dampfer ab, und vor ihnen lag, wie ein Schwan mit ausgebreiteten Flügeln, die ›Vesta‹ mit vollen Segeln. Am Heck flatterte das Sternenbanner, am Großmast die Flagge mit der vestalischen Priesterin, von der Gaffel flatterte eine Reihe Flaggen herab, ›Vesta New-York‹ ausdrückend.
Das Aussehen des Schiffes war tadellos, alles schneeweiß von der Wasserlinie des Rumpfes an bis hinauf zur Mastspitze, das kupferne Geländer blitzte in der Sonne, die Revolverkanonen warfen blendende Strahlen.
Nur eins paßte nicht zum Aussehen des sauberen Schiffes – das Sternenbanner. Es war zerrissen, die Farben verblichen, die Sterne kaum noch sichtbar. Die Vestalinnen hatten keine neue Flagge aufgezogen, unter dieser hier hatten sie Sturm, Wetter, Wogen und Gefahren getrotzt, diese Flagge gab Zeugnis davon, was sie durchgemacht hatten.
So, wie die Vestalinnen auf dieses Banner, so blickt auch das im Waffenschmuck strahlende Regiment stolz auf die zerfetzte Fahne.
Zum Einsegeln in den Hafen waren des Windes wegen öfters Manöver nötig. Die weißgekleideten Mädchen befanden sich teils auf den Raaen oder hantierten an Deck mit Tauen. Auch die Kommandobrücke war stark besetzt.
Sharp packte des Bruders Arm, der ein Fernglas hielt.
»22 Mädchen sollen es nur sein, und dort sind fast noch einmal so viel. Das ganze Deck steht ja voll.«
»Es sind Männer!«
Sharp riß ihm das Fernglas aus der Hand.
»Wahrhaftig, Männer – Absalom, weißt du, wer es ist – Lord Harrlington, Hastings, Chaushilm, Williams, sie sind es, die Engländer.«
»Zähle sie! Wer fehlt unter ihnen?«
»Keiner,« sagte Sharp nach einer Minute. »Selbst zwei schwarze Gesichter kann ich unterscheiden, das von Hannibal und Kasegorus.«
»Die ›Vesta‹ hat sie gerettet,« jubelte Youngpig.
»Oder das Schiff dort hinten, es ist der ›Blitz‹.«
Sharp deutete auf einen schwarzen Segler, der am Horizont auftauchte. Niemand beachtete ihn vorläufig, aller Augen waren auf die ›Vesta‹ gerichtet, und die Dampfer näherten sich ihr schnell.
Die ersten hatten sie schon fast erreicht. Man traf Anstalten, längsseit beizulegen und sich an Bord zu begeben, um die Damm zu beglückwünschen, als eine neue Wimpelreihe aufgezogen wurde.
»Wir nehmen niemanden an Bord,« lautete das Signal, Ellen lehnte sich über die Kommandobrücke und winkte dem ersten Dampfer mit der Hand ab.
Das war eine niederschlagende Antwort. Man mußte sich damit begnügen, zu rufen und Hüte und Tücher zu schwenken, welche Begrüßungen von der ›Vesta‹ erwidert wurden. Aber an Bord zu kommen, war nicht möglich, außerdem manövrierte die ›Vesta‹ jetzt wieder, und wollten die kleinen Fahrzeuge nicht übersegelt werden, so mußten sie eilends das Weite suchen, denn ein Segler kann keine Rücksicht nehmen.
Die ›Vesta‹ wendete; wie Spreu stoben die Dampfer auseinander, um nicht dem scharfen Bug zum Opfer zu fallen. Im Nu war offenes Fahrwasser geschaffen.
Die Damen arbeiteten mit einer Sicherheit, welche das Auge der ältesten Seeleute entzückte. Mit Zauberschnelle flogen die Raaen herum. Fast im Augenblick gehorchte das Schiff dem Ruder und nahm den neuen Kurs auf. Die Vestalinnen freuten sich, keinen günstigen Wind zu haben, so konnten sie doch ihre erlernte Seemannskunst zeigen.
Die Herren verhielten sich untätig an Deck. Man wußte jetzt, daß es die Engländer des untergegangenen ›Amor‹ waren, die Zurufe und Begrüßungen galten auch ihnen.
Da schoß ein Dampfer aus der Flotille auf die ›Vesta‹ zu, von vorn kommend; kaum entging er einem Zusammenstoß, doch mit sicherer Hand lenkte der grauhaarige Kapitän vorbei, so dicht, daß das schwankende Fahrzeug an dem mächtigen Rumpf zu zerschellen drohte.
Ellen schrie laut eine Warnung, dann war der Dampfer in Sicherheit, er jagte weiter. Da gellte zu Ellen, welche sich über die Bordwand bog, ein Hilferuf empor.– – – – – – – – – – – – –
Begeben wir uns auf die ›Vesta‹.
Die Mädchen sollten nicht lange ihrem Schmerz über den Untergang des ›Amor‹ und den wahrscheinlichen Tod der Besatzung nachhängen, der ›Blitz‹ kam an und brachte die Nachricht, die Engländer seien gerettet an Bord des ›Blitz‹.
Die Mannschaft hatte sich auf der ruhigen Wasserfläche halten können, bis der ›Blitz‹ sie mit Hilfe von elektrischem Licht gefunden. Hoffmann hatte von der ›Troja‹ selbst erfahren, daß diese ein Schiff gerammt hatte. Nur einer wurde vermißt, der Heizer Thomas, welcher zwar noch das Deck erreichte, sich aber schwer am Kopfe verletzt hatte. Doch dies wissen wir schon.
Dieses Wiedersehen war das glücklichste während der ganzen Reise. Nach kurzem Beraten stellten die Vestalinnen von selbst den Antrag, kurz vor New-York die Herren an Bord der ›Vesta‹ zu nehmen und mit ihnen in den Hafen einzusegeln, denn dorthin gehörten sie, nicht auf den ›Blitz‹. Sie hatten jetzt das Recht, neben den Damen auf demselben Schiff zu stehen, sie hatten es sich nach hartem Kampf erworben.
Der Vorschlag wurde natürlich mit Freuden angenommen. So kam es, daß die ›Vesta‹ mit doppelter Besatzung in den Hafen einfuhr. Der ›Blitz‹ hielt sich bescheiden zurück.
O, welche Gefühle bewegten die Herzen der Mädchen, als sie nach über drei Jahren in den Hafen von New-York wieder einliefen! – Sie lassen sich nicht beschreiben. Es war kein Stolz, nein, nur eine unermeßliche, nicht auszusprechende Freude, welche man höchstens in ihren Zügen, in ihren Augen lesen konnte.
Alle diese Tausende und Abertausende von Menschen, welche den Hafen umringten, jeden festen Standort besetzt hielten und sie mit Fahrzeugen umdrängten, führte ja nicht nur allein die Neugier her. Der Jubel, das Tücherschwenken galt den Mädchen ihrer Nation, welche das Sternenbanner über alle Meere und Länder getragen hatten. Mochte es noch so oft in den Staub gezerrt worden sein, die amerikanischen Mädchen hatten es immer wieder aufgerichtet und im Winde flattern lassen.
Hätte Ellen nicht das Verbot aufhissen lassen, sie wären schon hier aus dem Schiffe von Gratulierenden erdrückt worden.
Der kleine Dampfer, welcher so direkt auf die ›Vesta‹ zusteuerte, schien dem Verbot trotzen zu wollen. Die Situation war gefährlich.
»Steuerbord, mehr Steuerbord!« rief Ellen erschrocken dem grauhaarigen Kapitän zu, »wir rammen Euch!«
»Ay, ay,« lachte der alte Seemann, drehte das Ruder und ließ sein Schiffchen vorbeigleiten, aber so dicht, daß sich beide fast berührten.
»Warum fuhr er hier vorbei?« sagte Ellen zu der neben ihr stehenden Miß Thomson. »Es ist genug Fahrwasser offen.«
»Hilfe,« gellte es da herauf, »Hilfe, ich –«
Ein Gurgeln schnitt die weiteren Worte ab.
Entsetzt sahen die Damen und Herren, wie ein Mann mit den Wogen rang. Der Unglückliche konnte nicht schwimmen, der Kopf war schon unter Wasser, nur die Hände sahen noch heraus und griffen krampfhaft um sich.
Er mußte von dem kleinen Dampfer gestürzt sein. Dieser war schon zu weit ab, er konnte keine Hilfe mehr bringen.
»Ruder hart Backbord,« kommandierte Ellen; das Schiff gehorchte, sonst hätte man den Mann übersegelt.
Schnell schoß die ›Vesta‹ weiter, doch schon fiel ein Tau herab, gerade zwischen die Hände des Ertrinkenden. Er bekam es zu fassen, hielt es fest und wurde emporgezogen.
Triefend stand ein junger Mann vor den Mädchen.
»Brrr, das war salzig. Habe nur so zum Vergnügen einige Liter Wasser geschluckt. Never mind.«
»Mister Youngpig!« erklang es überall in namenlosem Erstaunen.
»Meine Damen,« fuhr der Reporter mit feierlicher Miene fort, »ich habe die Ehre, Sie als erster im Namen des ›New-York Herald‹ im Heimatshafen zu begrüßen. Vergessen Sie niemals, betone ich, daß Sie den ersten Glückwunsch vom ›New-York Herald‹ empfingen. Ich hoffe zuversichtlich, daß Sie von jetzt ab nur diese Zeitung lesen und neben ihr kein anderes Blatt dulden werden; ein anderes ist auch vollkommen überflüssig. Der ›Herald‹ orientiert seine Leser stets über die politische Lage, er bringt die letzten politischen Ereignisse, alle Neuigkeiten, welche auf der Erde und in umliegenden Dörfern passiert sind; hat der Sultan eine neue Frau genommen, oder tut dem Kaiser von China ein Backzahn weh, Sie erfahren es am nächsten Tage. Spekulieren Sie? Well, der ›Herald‹ bringt die allerletzten Börsenberichte; die besten Schriftsteller der Jetztzeit sorgen für das Feuilleton, jeden Tag –«
»Hören Sie auf,« unterbrachen ihn die Mädchen, »oder wir werfen Sie wieder über Bord.«
»– bringt der ›Herald‹ einen schmackhaften Küchenzettel, er bringt lehrreiche Artikel, wie man Samt wäscht, Flecken entfernt, Modebeschreibungen, Hundedressur, Kindererziehung, Haarfärbemittel, die letzten Pferderennen, Mittel gegen Hühneraugen, die neuesten Frisuren, Biographien berühmter Frauen, Wetterprophezeiungen, Schönheitstinkturen usw. usw. usw. Ich hoffe also, daß von jetzt an die Herren und Damen jedem Blatte verächtlich den Rücken kehren und sich nur noch den ›New-York Herald‹ halten, der Ihnen bis in den entferntesten Winkel der Erde portofrei nachgeschickt wird. Dann ersuche ich die Damen, mich nicht wieder über Bord zu werfen, weil ich gerade etwas an Schnupfen leide, wenigstens nicht eher, als bis Sie mir mitgeteilt haben« – er zog ein in Gummi gewickeltes Notizbuch hervor – »auf welche Weise die Besatzung des am 18. dieses Monats vom Dampfer ›Troja‹ gerammten und untergegangenen ›Amor‹ vom ›Blitz‹ gerettet worden ist.«