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Das Schicksal der über die Erde zerstreuten Chinesen gleicht fast dem der Juden. Wie diese, sind auch sie beständigen Verfolgungen und Willkürakten ausgesetzt, vor welchen keine Gesetze sie schützen können, ja, die Obrigkeit erlaubt oft genug, daß sie vom Volke gemißhandelt werden. Die Juden sind verhaßt, weil sie durch unsaubere Geschäfte Geld zu machen verstehen, welches sie anhäufen, den Chinesen verfolgt man, weil er billiger, als jeder andere Mensch arbeitet, ungeheuer sparsam ist und es stets zum Wohlstand bringt, während um ihn herum die zivilisierten Arbeiter durch Faulheit, Trunk, Spiel und andere Laster langsam untergehen oder sich doch nie aus ihrer armseligen Lage heraushelfen können.
Das Volk ist so leicht zu lenken! Ein redebegabter Mensch braucht nur mit Verheißungen um sich zu werfen, die Frage aufzustellen, mit welchem Rechte der Fremdling dem Einheimischen die Arbeit nimmt, und die Brandfackel lodert sofort auf, wenn nicht von anderer Seite Maßregeln getroffen werden, sie zu ersticken.
Was haben die Chinesen in Kalifornien nicht auszustehen gehabt! Fürwahr, die Judenverfolgungen in Rußland weisen nicht solche Greuelszenen auf wie jene Zeiten, da man sich bemühte, die Chinesen in Kalifornien auszurotten. Man hat sie getötet, gemartert, geschändet, ihnen alles, selbst das Hemd weggenommen, aber kaum hatte sich die Wut der kalifornischen Bevölkerung etwas gelegt, so tauchten die bezopften Männer schon wieder auf und begannen mit ungeschwächter Kraft ihre alte Arbeit, und soviel man ihnen auch genommen hatte, flossen ihnen doch aus unbekannten Hilfsquellen reichliche Geldmittel zu, mittels welcher die Nackten sich kleideten, die Hungrigen sich sättigten, und die ihnen die Möglichkeit verschafften, bald wieder wohlhabend zu werden.
So war auch die Bevölkerung von San Francisco, der Hauptstadt Kaliforniens, von einem wahren Wahnsinn befallen worden, der sich gegen alles richtete, was einen Zopf trug und gelbe Hautfarbe und Schlitzaugen hatte.
Ein Straßenjunge hatte die Veranlassung zu dieser Menschenschlächterei gegeben.
Jeden Morgen, noch vor Anbruch des Tages, fuhr ein kleiner Chinesenjunge in San Francisco einen Milchwagen in einem Viertel der Stadt von Haus zu Haus und sorgte dafür, daß die Hausfrau beim Aufstehen stets den gefüllten Milchtopf vor der Tür fand. Als der Chinese einmal, um seine Pflicht zu erfüllen, durch einen langen Hausflur gegangen war, sah er beim Zurückkommen, wie ein Straßenjunge eben mit vollen Zügen aus einer seiner Milchkannen schlürfte.
Das hätte wohl keiner gelitten, ob er Christ oder Heide war, und dem Chinesen war die Milch nicht zu reichlich zugemessen worden. Lief Beschwerde von den Kunden ein, daß sie nicht richtig bedient worden waren, so ward er entlassen.
Er hinderte den Jungen natürlich am Trinken und mochte ihn dabei wohl zu fest am Genick gepackt haben, kurz, der Bengel fühlte sich in seiner Ehre gekränkt, von einem Chinesen tätlich angefaßt zu sein. Der kräftige, kalifornische Junge prügelte den schwächlichen chinesischen Knaben windelweich und warf dann dessen sämtliche Kannen vom Wagen, so daß die Milch in den Rinnstein lief.
Aber die Nemesis ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam in Gestalt eines erwachsenen Chinesen, der seinen Landsmann in Schutz nahm und nun seinerseits dem Uebeltäter eine ordentliche Lektion zuteil werden ließ.
Fluchend rannte der zwölfjährige Knabe davon, er wußte, wo er am besten Beschwerde anbringen konnte.
Daß er die ganze Nacht im Freien gelegen, kam nämlich daher, daß sein Vater am Tage die Wohnung hatte verlassen müssen. Derselbe kümmerte sich nicht um sein Kind; als er so alt war, wie dieses, hatte er auch für sich allein sorgen müssen, und um sich von der ihm angetanen Schmach zu erholen und sich ordentlich ausschimpfen zu können, hatte er kurz alles verkauft, was noch begehrenswert war und sich dann in eine Schenke verfügt, wo er das letzte Geld durchbringen wollte.
Dort fand ihn sein Sohn, wo er mit einigen Kameraden eine wilde Orgie feierte.
Der blutende Junge fand anfangs keine große Teilnahme; kaum hatte er aber gesagt, er wäre von einem Chinesen geschlagen worden, so brach der Aufruhr los.
In ganz San Francisco herrschte ein allgemeiner Unwille gegen die Chinesen, und es brauchte nur eines Funkens, so mußte das Pulvermagazin explodieren. Dieser Funke war jetzt gefallen.
Die Nachtschwärmer begannen die Metzelei an den ersten Chinesen, denen sie begegneten, und mit Zauberschnelle fanden sie Anhänger, bis sie zu einer Armee angeschwollen waren, die sengend, mordend, und vor allen Dingen raubend durch die Straßen von San Francisco zog. Alle Wut, die gegen die bezopften Arbeiter schon lange in den Männern gährte, kam nun mit einem Male fürchterlich zum Ausbruch. Wer sonst kein Vorurteil hegte, wurde von der allgemeinen Erregung mit fortgerissen, und Unzählige schwangen nur darum die Brandfackel, um sich der Güter zu bemächtigen, welche, ihrer Meinung nach die Chinesen sich auf unrechtmäßige Weise erworben hatten.
Zündende Reden, Flugblätter, ja selbst die Zeitungen bewirkten, daß diese Wut der Menschenschlächter tagelang andauerte.
In San Francisco gibt es auch recht ansehnliche Geschäfte, die sich in chinesischen Händen befinden, Weltgeschäfte sogar, deren Inhaber Millionäre sind, und gegen diese Häuser wurde der erste Sturm gerichtet, hoffte man doch dort auf die reichste Beute.
Aber wunderbarerweise waren die Besitzer alle schon unter Mitnahme ihrer baren Schätze geflohen. Die Unmenschen fanden nur Waren vor, mit denen sie sich bereichern konnten, die erhofften Geldkisten aber waren verschwunden, ebenso spurlos wie die Eigentümer selbst.
Diese Entdeckung hatte zur Folge, daß man mit den vorgefundenen Chinesen, Dienern, Arbeitern und Kleinkaufleuten um so grausamer verfuhr. Doch die Hoffnung, aus ihnen Schätze herauszupressen, war vergeblich, in ganz San Francisco wurden bei den Chinesen nur wenige Dollar gefunden, und doch befand sich gerade in ihren Händen das meiste Geld der Stadt, um so mehr, als der Chinese das Geld fast nie auf eine Bank trägt, sondern stets bei sich liegen hat.
Die Wut der Geprellten stieg ins Grenzenlose. Doch es half ihnen nichts, man fand kein Geld, und die gemarterten Chinesen konnten nur aussagen, daß man einen Aufstand gefürchtet hätte, daß die großen Kaufleute, ihre Führer, ihnen das Geld abgenommen und sich dann rechtzeitig mit großen Summen gerettet hätten. Jedenfalls sollten alle, die mit dem Leben davonkamen, ihr Vermögen später wieder irgendwo ausbezahlt bekommen. Aber was half dies der Volksmenge jetzt? Gleich, gleich wollte sie genug Geld haben, um sich in Branntwein berauschen zu können.
Wan Li, hieß der Chinese, welcher die Unruhen in San Francisco scharf beobachtet hatte, und welcher so schlau war, daß er, noch ehe die erste Untat vorkam, das Signal zur Flucht gab. Die Chinesen, welche nicht fliehen wollten, waren ebenfalls schon vorbereitet, sie gaben ihre Ersparnisse hauptsächlich ihm.
Im Auslande hängen die Chinesen wie Kletten zusammen, im Falle der Gefahr doppelt fest, und obwohl sie sich sonst nur zu gern betrügen sind sie dann mit einem Male ohne jedes Mißtrauen gegeneinander.
Willig lieferten sie die Gelder an Wan Li aus, und dieser sagte ihnen, wo sie dieselben später wieder erheben könnten.
Wan Li besaß eine große Konfektfabrik, welche ganz Amerika mit Süßigkeiten aller Art versorgte. Der dicke Chinese mit dem schlau lächelnden Gesicht war sowohl ein ausgezeichneter Kaufmann, der sein Geschäft täglich wachsen sah, als auch ein großer Philosoph, der seine Ansichten und Lehren gern in der Welt verbreiten wollte. Jedes seiner Bonbons war in ein Papier gewickelt, auf welchem ein weiser Spruch stand, und vielleicht mochte der menschenfreundliche Chinese schon manches Herz eines seine Bonbons verzehrenden Mannes, Weibes, Mädchens oder Kindes dadurch erfreut und getröstet haben.
Man stürmte noch einmal nach der Fabrik, konnte seine Wut aber nur an unschuldigen Zuckerhüten auslassen, und sich die Taschen mit bunten Bonbons füllen, das Geld war mit Wan Li verschwunden.
Es hieß, Wan Li sei allein geflohen, das heißt, ohne Begleitung von anderen Chinesen, wohl aber habe sich ein Mann, ein Europäer, bei ihm befunden, der vor einigen Wochen in das Haus des Chinesen gekommen und von diesem gastfreundlich aufgenommen worden wäre.
An Verfolgung wurde nicht gedacht, das Volk beruhigte sich ebenso schnell wieder wie es ausgestanden. Vor allen Dingen folgt es dem, der mit mächtiger Beredsamkeit zu ihm spricht, und jetzt eilten von allen Seiten Männer herbei, um es wieder zum Gehorsam zu bringen. – – –
Mitten in der Wildnis hielten zwei Reiter und besprachen sich, welche Richtung sie einschlagen müßten, um in die Nähe von Menschen zu kommen, zugleich aber auch, um größere Ansiedelungen zu vermeiden.
Das Gespräch wurde auf englisch geführt, obgleich der eine von den beiden ein Chinese war, ein kleiner, dicker Mann mit schlau lächelndem Gesicht, in blauer Bluse aus Seide und weiten Beinkleidern aus demselben Stoff. Der lange Zopf war unter der Mütze verborgen. Hätte aber nicht schon die Kleidung den Mann als Chinesen charakterisiert, das ganze eigenartige Gesicht mit den Schlitzaugen mußte es doch tun.
Der Chinese ritt ein Maultier, führte kein Gepäck und keine Waffen, während sein Begleiter, ein Europäer, seinem Rappen einen großen Packen aufgeschnallt hatte, im Gürtel Pistolen trug und außerdem noch an der Seite einen mächtigen Pallasch herabhängen hatte.
Der Säbel sah fast aus wie ein zweihändiges Ritterschwert. Man konnte kaum glauben, daß ein Arm ihn zu regieren vermöchte, aber der Mann war sehr stark gebaut und strotzte von Muskeln.
Wan Li war es und dessen Begleiter, der ihm bei der Flucht behilflich war.
Der Große hatte vor sich auf dem Sattel einen Kompaß liegen, welcher als Wegweiser dienen mußte, denn beide schienen in der Wildnis nicht zu Hause zu sein. Wan Li war Kaufmann; seinen Begleiter konnte man ebensogut für einen Stadtbewohner, vielleicht auch für einen wohlhabenden Bauern halten, aber in den Wald gehörte er jedenfalls nicht, auch seine Haltung zu Pferde zeigte, daß er sich nicht sicher darauf fühlte.
»Mehr rechts, Wan Li,« sagte er jetzt, »wir können nicht mehr weitab sein von der kleinen Ansiedelung, wohin wir empfohlen worden sind, dort wird unsere beschwerliche Wanderung ein Ende haben, dort sind wir in Sicherheit.«
»Wir sind überall in Sicherheit,« entgegnete der Chinese, »oder auch überall in Gefahr. Aus der Stadt, wo wir uns hinter starken Mauern sicher fühlten, sind wir in den Wald geflohen, der uns sonst als ein Schreckensort galt.«
»Wir haben bisher Glück gehabt, der Wald hat uns gastfreundlich aufgenommen.«
»Die Natur ist stets freundlich, die Menschen machen sie erst schrecklich.«
Der Begleiter wollte schon eine Antwort geben, als er plötzlich sein Roß zügelte und, sich weit über den Hals des Tieres vorbeugend, aufmerksam lauschte.
»Schüsse,« flüsterte er dann. »Höre, Wan Li! Kannst du sie vernehmen?«
»Ich höre sie,« war die gleichmütige Antwort. »Es sind keine Jäger, es scheinen Revolver abgeschossen zu werden, und zwar schnell hintereinander.«
Der Große sah nach seinem Pallasch, zog den Stahl etwas hervor und stieß ihn wieder zurück.
»Es findet ein Kampf statt,« sagte er.
»So wollen wir ihn vermeiden. Laß uns einen Umweg machen. Wir haben keinen Grund, uns in andere Angelegenheiten zu mischen, vielmehr alle Ursache, jedem aus dem Wege zu gehen, der Waffen trägt.«
Sie bogen etwas von der Richtung ab und ritten so schnell, als der schlechte Weg es erlaubte. Entweder mußten sie sich direkt von dein Orte entfernen, wo der Kampf stattfand, oder dieser war schon beendet, denn man hörte keine Schüsse mehr.
Da nahm wieder der Chinese das Wort.
»Müssen wir nicht bald jenen Hohlweg erreichen, von dem mein Freund auf der letzten Plantage uns erzählte?« sagte er.
»Ich glaube auch, er kann nicht weit sein. Hast du die Absicht, ihn zu benutzen?«
»Ich möchte ihn erst sehen. Ist er so beschaffen, daß man ihn jederzeit verlassen kann, so würde ich ihn benutzen, damit unsere Tiere ausgreifen können. Ist ein Ausweichen in demselben nicht möglich, so ziehe ich den Weg durch den dichten Wald vor. Noch möchte ich nicht gesehen werden.«
»Ich glaube, deine Vorsicht geht zu weit. Wir sind schon lange in Texas, und dieses ist doch, wie wir oft genug haben erzählen hören, der einzige Staat, in welchem keine Chinesenverfolgungen stattfinden werden.«
»Wohl wahr, doch will ich mich erst überzeugen, ob das auf Wahrheit beruht. Es ist schon lange her, seitdem wir dies gehört haben, und unterdes können Veränderungen eingetreten sein. Laß uns versuchen, den Hohlweg zu finden. Benutzen wir ihn, so werden wir bald zu Ansiedelungen gelangen.«
Schweigend setzten die Reiter ihren Weg fort, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Der Chinese ließ nur ab und zu die kleinen Schlitzaugen schnell von Baum zu Baum fliegen, wenn er aus seinen Träumereien erwachte, und dann lächelte er stets vergnügt, sein großer Begleiter dagegen blickte mit den blauen Augen stets geradeaus, man wußte nicht, ob er überhaupt wachsam war.
Doch er schien es zu sein, denn plötzlich sagte er:
»Der Wald hört dort auf; wir kommen an eine große Lichtung. Umgehen wir sie?«
Der Chinese blickte scharf geradeaus und schüttelte dann den Kopf.
»Bäume fehlen dort allerdings,« entgegnete er, »aber mich dünkt fast, es öffnete sich vor uns ein jäh abfallendes Tal.«
»Dann könnte es der Hohlweg sein!« rief der Weiße.
Sie ritten so schnell wie möglich dem Orte zu, wo der Wald in dem Boden zu verschwinden schien und sahen, daß der Chinese recht gehabt hatte.
Das Terrain fiel plötzlich ab, bildete eine Art Schlucht, und stieg zehn Meter entfernt wieder empor. So weit man auch blickte, überall tat sich der Abgrund auf, der sich in Krümmungen links und rechts hinzog. Das Tal war unten flach und gestattete ein bequemes Vorwärtskommen, die Tiefe aber war eine ganz beträchtliche, ein Sprung hinab war todbringend, und ebenso war ein Erklettern des Abhanges gar nicht möglich, so glatt fielen die Wände ab.
Der Wald trat bis dicht an den Rand der Schlucht heran und setzte sich auf der anderen Seite derselben wieder fort.
Dies war der Hohlweg, den die beiden gesucht hatten. Er glich wirklich einer ausgetretenen Landstraße. Wer in dergleichen Sachen Erfahrung hatte, sah auf den ersten Blick, daß man das Bett eines Flusses vor sich hatte, der durch irgend ein Spiel des Zufalls ausgetrocknet, oder dessen Wasser einen anderen, bequemeren Weg gefunden hatte, etwa einen unterirdischen, wie man dies so häufig beobachten kann.
Daß hier einst Wasser gerauscht hatte, erkannte man besonders an den runden, abgeschliffenen Steinen, die überall zerstreut umherlagen.
Die Reisenden konnten den Hohlweg noch nicht vollkommen überblicken, das schwarze Roß witterte mit dem feinen Instinkte seiner Rasse eine Tiefe, der sich zu nähern unter Umständen gefährlich werden konnte, es wollte nicht vorwärts, und der Reiter mußte, wollte er den Weg überschauen, absteigen. Er tat es, band das Pferd an einen Baum und schritt dem Abgrunde zu.
Des Chinesen Maultier war weniger furchtsam, es war derartige Wege gewohnt, aber sein Herr war vorsichtig. Wie leicht konnte der mit Moos bewachsene Boden, obwohl fest und sicher aussehend, unter dem schweren Tritte nachgeben und hinabrollen, Tier und Reiter unter sich begrabend. Der Mann allein hatte dagegen nichts derartiges zu befürchten, wenn er sich vorsichtig bewegte.
Also stieg auch er ab und schritt mit dein Begleiter dem Rande der Schlucht zu.
Sie konnten erkennen, wie richtig die Vorsicht des Chinesen war. Drüben auf der anderen Seite hing der gras- und moosbewachsene Boden weit über dem Abgrund vor, jedem eine verderbliche Falle stellend, der sich zu weit vorwagte.
»Wir dürfen nicht weiter,« sagte der Europäer, anscheinend ein Nordländer, vielleicht sogar, seinem Gesichtsausdruck nach, ein Deutscher, »der Boden kann nachgeben und mit uns hinabstürzen.«
Der Chinese hatte sich schon auf die Erde gelegt und brachte aus seiner faltigen Bluse einen Dolch zum Vorschein.
»Ich glaube fast,« sagte er mit pfiffigem Lächeln, »hier befinden wir uns doch auf einem anderen Boden. Sieh, mein Freund, dicht am Rande wachsen sonst keine Bäume, sondern nur leichte Büsche, deren Wurzeln das Erdreich halten. Hier dagegen erhebt sich dicht am Abgrund ein starker Baum. Wäre der Boden unter ihm hohl, so müßte er bald hinabstürzen, meinst du nicht auch?«
»Die Wurzeln können ihn halten,« entgegnete sein Begleiter, den Baum, der wirklich ganz vereinzelt, dicht am Rande stand, mißtrauisch betrachtend.
Der Chinese senkte mehrmals den Dolch in das Erdreich hinab und stieß dabei auf großen Widerstand. Der Boden mußte also steinig oder von vielen Wurzeln durchzogen sein.
»Nun, wenn die Wurzeln den Baum halten können, so werden sie auch uns tragen,« sagte der Chinese wieder und kroch langsam vorwärts, um sich einen Blick in den Hohlweg zu verschaffen.
Sein Begleiter warf sich ebenfalls nieder und bewegte sich an des Chinesen Seite vorwärts. Dicht am Abhange blieben beide liegen und betrachteten nun den Weg, überlegend, ob sie denselben benutzen sollten oder nicht. Der Chinese war nicht gesonnen, ihn zu betreten. Erstens war es schwer, die Pferde hinunterzuschaffen, man mußte vor allen Dingen einen Abstieg suchen, und dann konnte man diesen Hohlweg nicht sofort wieder verlassen, wenn man jemandem ausweichen wollte.
Die Männer lagen noch im Dickicht versteckt, wenn sie sich aber vorbogen, so konnten sie sehen, daß auch der Ort, wo sie lagen, ganz unterhöhlt war. Nur die Wurzeln des Baumes hielten das vorspringende Erdreich fest.
Noch besprachen sie, ob sie einen Abstieg suchen wollten. Der Chinese ließ die Augen eben musternd zur linken Seite hingleiten, als ihn sein Begleiter plötzlich am Arm packte und einen zischenden Warnungslaut ertönen ließ. Mit der anderen Hand griff er nach den Pistolen im Gürtel.
Der Hohlweg machte nicht weit von dem Platze, wo sie versteckt lagen, eine starke Biegung, und soeben tauchten hinter dieser einige Indianer auf. Sie waren zu Fuß, vollständig bewaffnet und traten vorsichtig, aber ohne Scheu zu zeigen, hervor. Jedenfalls hatten sie sich erst auf ihre Weise überzeugt, daß der Weg frei war, denn sie bewegten sich schnell vorwärts, sich dabei immer dicht an der einen Wand haltend.
Es waren vier Indianer im vollen Kriegsschmuck.
»Spione,« flüsterte der Chinese.
Sie zogen die Köpfe noch mehr zurück, um nicht entdeckt zu werden, ließen aber die Indianer nicht aus den Augen.
Diese schritten schnell bis zur nächsten Biegung. Dort warfen sie sich an die Erde, schmiegten sich noch dichter als zuvor an die Wand und krochen nur bis zur Ecke, um welche sie vorsichtig spähten, ob der weitere Weg ihnen keine Gefahr böte.
Dann waren sie verschwunden.
»Was wollen diese?« fragte der Weiße verwundert. »Es sieht fast aus, als würde ihnen ein größerer Trupp bald folgen. Sie benehmen sich mit einer solchen Hast. Entweder werden sie verfolgt, oder sie sind Vorläufer eines starken Zuges.«
»Das letztere ist auch meine Meinung,« stimmte Wan Li bei, »wir wollen noch ein wenig hier liegen bleiben. Sind wir von diesen Spionen unbemerkt geblieben, so werden uns auch die Nachkommenden nicht entdecken. Es ist immer besser, wenn man eine drohende Gefahr im vollen Umfange erkennt, als wenn man sich vor ihr versteckt, ohne sie gesehen zu haben.«
»Aber warum mögen sie sich nur in diesem Hohlweg für so sicher halten?« meinte sein Begleiter.
»Sie bewegten sich nur an der Wand entlang,« antwortete der Chinese, »und dort können sie allerdings nicht gesehen werden. Sie glaubten gewiß, wie wir vorhin wähnten, daß man sich dem Abgrund nicht nähern kann, ohne hinabzustürzen. Wir haben den besten Platz gefunden, wo man sicher den Hohlweg überschauen kann.«
Sie brauchten nicht lange zu warten, so fanden sie ihre Vermutung bestätigt.
Um jene Biegung, hinter welcher vorhin schon die vier Indianer aufgetaucht waren, kamen jetzt noch mehr, ein ganzer Trupp, ganz sorglos, die ersten zu Pferd, zum Vorschein. Ohne besonders scharf voraus oder in die Höhe zu spähen, ritten und gingen die ersten in ziemlich schnellem Tempo voraus, dann kamen andere Männer nach, durch deren Anblick die beiden Beobachte in keine geringe Erregung versetzt wurden.
Es waren Weiße, wenigstens vierzig Mann, welche mit auf den Rücken gebundenen Händen zwischen den Indianern schritten. Die Entfernung war noch eine sehr große, aber schon konnten die beiden Beobachter sehen, daß sie roh behandelt wurden. Die neben ihnen gehenden Indianer versäumten keine Gelegenheit, ihnen Püffe, Stöße, ja, sogar Fußtritte beizubringen. Dann erkannten sie auch, daß unter ihnen einige Weiber waren, aber höchstens vier oder fünf.
»Es sind deine Landsleute,« flüsterte Wan Li, »sie sind von den Indianern gefangen genommen worden.«
Finster zuckte der Angeredete die Achseln.
»Ich kann ihnen nicht helfen und würde es auch nicht tun, wenn ich könnte,« antwortete er, »sehr wahrscheinlich sind die Indianer im Recht, wenn sie die Fremden gefangen genommen haben.«
»Ich kenne deine Ansichten, sie sind andere als die meinen, wir haben oft genug darüber gesprochen und gestritten. So gern ich jenen aber auch helfen möchte, ich darf es nicht tun. Ich bin es meinen Landsleuten schuldig, daß ich in Sicherheit komme. Tausende von Chinesen hoffen, daß ich am Leben bleibe, um ihnen später das wieder zurückzugeben, was sie mir anvertraut haben.«
»Ich weiß,« sagte der Große, denn die Indianer waren noch weit ab, »wir wollen den Trupp ruhig vorüberziehen lassen und uns dann aus dieser Gegend entfernen, wo ein Zusammenstoß zwischen Indianern und Weißen vorgefallen zu sein scheint. Leicht können wir mit Versprengten zusammentreffen und in einen Kampf verwickelt werden.«
Sie fuhren fort, die sich Nähernden mit scharfen Augen zu betrachten. Dem Chinesen fiel zuerst etwas auf, was er in flüsterndem Tone seinem Begleiter mitteilte.
»Was für sonderbare Männer sind das? Einige von ihnen haben langes, hellblondes Haar, sie gleichen eher ... Wahrhaftig,« unterbrach sich Wan Li, »es sind Weiber wie Männer gekleidet. Ist es nicht so?«
Er sah bei diesen Worten den neben ihm Liegenden an. Diesem wich plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht, er wurde aschfahl, und hörbar knirschten die Zähne aufeinander.
»Wan Li,« hauchte er mit bebender Stimme, »es ist keine Täuschung, sie sind es, von denen ich dir erzählt habe. Es sind die Engländer von dem ›Amor‹ und die amerikanischen Damen von der ›Vesta‹. Ich weiß, sie halten sich bereits in Amerika auf. Sie sind in die Hände der Indianer geraten.«
Der Chinese legte ihm eine Hand auf den Arm, der eine Bewegung nach den Pistolen im Gürtel machte.
»Wir dürfen keinen Versuch zu ihrer Befreiung machen,« zischte er zwischen den Zähnen hindurch.
Schlaff ließ der andere die Hand sinken.
»Ich wollte dies auch nicht,« murmelte er, »den Indianern sollte meine Kugel nicht gelten.«
Der Chinese sah ihn groß an.
»Das war nicht edel von dir gesprochen,« sagte er vorwurfsvoll, »so hassest du sie noch immer?«
»Ja.«
»Ich glaubte, infolge meiner Lehren hattest du deinen Haß vergessen. Was nutzt er dir?«
»So willst du ihnen helfen?«
»Ich? Nein, ich kann es nicht. Erst muß ich das ausgeführt haben, was mir meine Pflicht vorschreibt. Und auch dann würde ich mir noch überlegen, ob ich etwas zur Rettung jener tun könnte. Es sind hundert Indianer gegen uns zwei Mann. Erst müßten wir versuchen, die Gefangenen zu befreien, und das erfordert viel List.«
»Bah,« murmelte der Weiße verächtlich, »würde ich deinen Ratschlägen nicht folgen, bei Gott, es wäre mir ein leichtes, dieses rothäutige Gesindel zu Paaren zu treiben! Noch habe ich mein altes Handwerk nicht verlernt. Aber ich werde mich hüten, in die Justiz der Indianer einzugreifen, sie könnten im Recht sein.«
Jetzt befand sich der Zug fast unter ihnen. Sie konnten deutlich die Indianer, wie auch die Gefangenen sehen.
Es mußte keinen großen Kampf gekostet haben, sich der letzteren zu bemächtigen, denn weder die Gefangenen, noch die Indianer zeigten Verletzungen, einige unbedeutende Schrammen ausgenommen.
Kaum sah man hier und da Blutflecke. Jedenfalls waren die Weißen durch eine List in einen Hinterhalt gelockt und von der Uebermacht ohne Anwendung von besonderer Gewalt überwältigt worden.
Die Gesichter der Weißen drückten Niedergeschlagenheit aus, besonders die der Mädchen, aber einige von ihnen schritten auch erhobenen Hauptes zwischen ihren Wächtern und nahmen alle Mißhandlungen hin, ohne auch nur eine Miene zu vergehen. Die Männer zeigten fast alle finstere Stirnen und drohende Augen, wären ihre Hände nicht so fest geschnürt gewesen, sie hätten wohl auch ohne Waffen den Kampf gegen die Indianer erneut, sie wären wie Raubtiere mit Zähnen und Nägeln über die Unholde hergefallen.
»Alle?« fragte der Chinese fast unhörbar.
Der andere schüttelte den Kopf.
»Einen vermisse ich bestimmt, den Führer der Männer. Doch mögen außer ihm noch andere fehlen, früher waren es mehr.«
Schnell zog der Trupp vorüber, ohne daß die Anwesenheit der beiden Versteckten gemerkt wurde. Nach zehn Minuten zogen die Indianer um die nächste Felsecke. Die beiden sahen noch, wie ein Mädchen, welches sich einmal umblickte, von dem neben ihr gehenden Indianer hart geschlagen wurde, dann waren sie verschwunden.
Schon wollten sich die beiden erheben, um zu den Pferden zurückzugehen, und die Reise fortzusetzen, als eine neue Erscheinung sie an dem Boden festbannte.
Auf der anderen Seite der Schlucht, ihnen gerade gegenüber, bewegten sich die Zweige, und, dicht auf den Boden geschmiegt, huschte ein Mann hervor. Seine Züge waren verstört, eine tiefe Wunde zog sich über die Stirn hin, und langsam sickerte ein Blutstropfen nach dem anderen über die bleichen Wangen.
In der Hand trug er ein langes, entblößtes Bowiemesser, um dessen Griff sich die Finger krampfhaft spannten, seine einzige Waffe.
Schon hatte er die Büsche verlassen und wollte sich dicht bis an den Abgrund begeben, als der Boden plötzlich unter ihm zu schwanken begann. Schon stürzten losgelöste Erdteile hinab, und es hätte nur noch einer Sekunde bedurft, so hätte der Mann durch sein Gewicht das Erdreich zum Absturz gebracht. Aber ehe dies noch eintrat, hatte er schon seine Lage erkannt und schnellte wie eine Feder zurück.
Dann sah er an der gegenüberliegenden Seite, wie der Boden überall über die Schlucht hervorsprang und so dem unvorsichtigen Fuße eine Falle stellte. Der Mann probierte, ob das Erdreich da, wo er sich jetzt befand, unter ihm hielte, und als er sich davon überzeugt hatte, klammerte er sich mit der Hand an die Zweige eines Busches und beugte seinen Oberkörper so weit als möglich vor, nach der Seite des Hohlweges spähend, von welcher vorhin die Indianer mit den Gefangenen gekommen waren.
Die beiden konnten von ihm nicht gesehen werden, sie lagen hinter den Wurzeln des Baumes.
»Er gehört zu den Weißen,« flüsterte Wan Li, »er ist den Indianern entkommen. Kennst du ihn?«
Der andere schüttelte den Kopf mit den kurzen Locken.
»Es scheint fast, als ob er noch jemanden erwarte,« fuhr der Chinese fort.
»Und zwar, als ob noch andere Gefangene kämen, deren Befreiung er vorhabe,« ergänzte der Begleiter.
»So sieht es fast aus. Einige mögen den Indianern entflohen sein, dieser Mann glaubt oder weiß, daß sie nachträglich gefangen worden sind, sie müssen hier durchkommen, und er will sie nun befreien. Wahrhaftig, das ist edel von ihm. Er besitzt allem Anschein nach nur ein Messer und will er damit die indianischen Wächter angreifen, so verrät dies eine große Kühnheit. Doch komm, mein Freund, wir wollen hier nicht länger liegen! Laß uns vorsichtig aufstehen und zu den Tieren zurückkehren. So gern ich auch des Fremden Handeln weiter zusehen möchte, ich darf es nicht, weil meine Person in Gefahr kommen kann.«
Doch der andere hörte ihn nicht, seine Augen hatten mit einem Male einen seltsamen Ausdruck bekommen. Er zog seine Pistole aus dem Gürtel, legte diese vor sich hin und fügte ihr auch noch einen Revolver bei.
»Was hast du vor?« fragte der Chinese erschrocken.
Der Große nickte mit dem Kopfe nach jener Biegung, wo wieder einige Gestalten zum Vorschein kamen.
»Den will ich retten, der mich dem Leben wiedergegeben hat,« entgegnete er. »Siehst du dort den Mann, der zuerst kommt? Das ist der, von welchem ich dir so viel erzählt habe.«