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Nicht weit von jener Zelle, welche jetzt von zwei Gefangenen eingenommen wurde, lag die Ellens.
Das vom Schicksal so hart geprüfte Mädchen konnte aber nicht, wie Charles, den Gleichmut wiederfinden. Rastlos wanderte es auf und ab, rang die Hände oder warf sich schluchzend auf den harten Boden, der die zahllosen Tränen nicht aufzufangen vermochte.
So nahe dem Glück und wieder hinab in den bodenlosen Abgrund des Elends gestoßen! Es gab keinen Trost mehr, nur noch Verzweiflung und dann den Tod.
Gab es denn einen Gott? Ach, Ellen begann daran zu zweifeln. Früher hatte sie einmal ein Gedicht gelesen, das sie mit Abscheu erfüllt hatte, weil es die betende Menschheit verspottete.
»Du lebtest noch, so sagen sie und knien
Vor deinem Kreuzesholz, daran in Qual
Du hängst, und küssen deine Füße«
So lautete der erste Vers, und der letzte, nachdem Christi Gottheit bezweifelt wurde:
»Ha! Wärest du's, du rissest von dem Nagel,
Dem martervollen, deinen Fuß – in Staub
Trätest du sie verachtend nieder!«
Jetzt verstand Ellen mit einem Male die empörten Gefühle jenes Dichters. Jeder Mensch hat wenigstens einmal in seinem Leben ähnliche Gedanken. Die Frage: Warum hilft er mir denn nicht, wenn es einen Gott gibt? ist die gefährlichste der Kirche.
Was hatte sie denn nur getan, daß sie so furchtbar schwer bestraft wurde? Hatte sie ihre Schuld nicht schon mehr denn genügend gebüßt? Einem Menschen, der sich an ihr versündigt, hätte sie schon längst verziehen, und wenn er sich noch so sehr vergangen. Diese Qualen machten alles wieder gut. Und der allwissende und allbarmherzige Gott sollte noch immer mehr Kummer auf ihr Haupt häufen, während es doch nur seines allmächtigen Wortes bedurfte, um diese Mauern fallen zu lassen und sie mit James zu vereinen?
Weicht, Gedanken, ihr macht wahnsinnig!
Bereits am zweiten Tage trat in Ellens Gefängnisordnung eine Aenderung ein. Am Morgen erschien nicht mehr, wie am Abend zuvor, das am Strick von oben heruntergelassene Körbchen mit Essen und Wasser – von Ellen allerdings unbeachtet gelassen, sondern die Tür öffnete sich, ein Indianer mit finsteren, grausamen Gesichtszügen trat herein und brachte der Gefangenen Nahrung.
Draußen sah Ellen zwei andere Indianer mit Tomahawks stehen, an Flucht war also nicht zu denken.
Dieser Indianer, scheinbar der Gefängniswärter, begnügte sich nicht, Brot und Wasser hinzustellen, sondern reinigte auch oberflächlich die Zelle. Bei dieser Beschäftigung musterte er, wie Ellen wohl bemerkte, die Gefangene scharf, doch Ellen erwiderte die Blicke nicht. Was hätte das genützt? Wie konnte sie von einem herzlosen Indianer, der sie erst gefangen, Rettung erhoffen?
Der Indianer sang während seiner Arbeit fortwährend vor sich hin, nach jener näselnden, monotonen und traurigen Art, wie unter den Indianern die Sangeskunst gepflegt wird. Die Melodie ruht fast nur auf einem einzigen Ton und wird erst beim Ende höher. Der Text ist abgerissen, ohne Reim, aber sinnvoll. Ebenso gibt es kein Versmaß. Jeder singt eben so, wie ihm die Worte in den Mund kommen.
Am ersten Morgen achtete Ellen nicht dieses Gesanges, es war ein apachischer Dialekt, den sie nur wenig verstand. Am Abend kam derselbe Indianer wieder, Ellen schloß daraus, daß er der Gefängniswärter war, welcher auch ihre Leidensgenossen zu versorgen hatte.
Er machte sich in einer Ecke etwas zu schaffen. Ihr Auge begegnete seinem glänzenden Blick, und plötzlich horchte sie hoch auf; der Mann hatte die Sprache gewechselt, wohlbekannte Laute schlugen an ihr Ohr, die Sprache der Nawagos, eines Stammes, welcher nicht weit von ihrer Besitzung in Louisiana die Wigwams aufgeschlagen hatte.
Mit diesen Indianern hatte sie in freundlichem Verkehr gestanden, mit ihnen geritten, gejagt, und sie hatten einander besucht.
Der Mann sang noch immer näselnd sein Lied, jetzt aber verstand Ellen deutlich den Text. Es mochte eine alte Sage sein, die der Indianer da in Musik gesetzt hatte.
»Die Prärie ist groß, die Prärie ist grün – viel bunte Blumen zieren sie – ein schwarzer Hengst eilt über sie hin – kaum knicken die Hufe die Halme – und doch ist er schwer – denn ein Reiter sitzt auf seinem Rücken – und noch ein anderer – der eine ist lebendig –der andere ist tot – warum halten sie sich so fest umschlungen? – Aus Liebe? –Nein – starke Binsenseile binden sie zusammen – aus des Toten Rücken tröpfelt Blut – eine tiefe Wunde ist darin – sein Leib ist schon verwest –«
Der Indianer bückte sich, um den umgeworfenen Krug aufzurichten. Sein Blick streifte dabei den Ellens.
»– und der andere Reiter hat Hunger,« klang es schauerlich weiter, »– sein Magen ist leer – und vor ihm ist Fleisch.«
Ellen schauderte, sie wußte jetzt, was der Indianer sang. Es war die entsetzliche Strafe eines Mörders, wie sie unter den Indianern Nordamerikas gehandhabt wird.
Man bindet den Mörder mit seinem Opfer zusammen auf ein schnelles, scheues Pferd, ganz eng, Körper an Körper, die Arme des Lebenden sind auf den Rücken geschnürt, und sein Mund berührt das nackte Fleisch dessen, den er meuchlings ermordet. Das Pferd wird auf die Prärie gejagt, und unstet läuft es mit seiner doppelten Bürde umher, weder Rast noch Ruhe kennend.
Der Leichnam beginnt zu verwesen. Der lebendige Reiter wird hungrig, und wenn der Hunger die Eingeweide schmerzlich durchwühlt, dann vergißt er den Ekel. Er sättigt sich an dem Fleische des von ihm Erschlagenen.
Ellen schüttelte sich, wenn sie sich die Szene ausmalte. Sie selbst hatte einmal Gelegenheit gehabt, solch ... Halt, was sang der Indianer jetzt? Ellen lauschte mit angehaltenem Atem.
»– Ein Pferd jagt über die Prärie – es ist eine weiße Stute – ihr Rücken darf keinen Reiter tragen – aber eine weiße Squaw Indianischer Name für Frau. – sie schwingt den Lasso – der Hengst ist zu schnell – sie sendet die noch schnellere Kugel – der schwarze Hengst stürzt – ein Messer durchschneidet Stricke – du bist frei, sagt der weiße Mund – der singende Vogel ist frei – und – wird – der – Squaw – dienen,« schloß der Indianer, den Ton immer höher werden lassend.
Ellen war völlig erstarrt, sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht, doch erwiderte sie den Blick, den ihr der Indianer beim Hinausgehen zuwarf.
Jetzt wußte sie, woran sie war.
Viele Jahre waren verflossen, seitdem sie einst einem solchen Opfer der indianischen Justiz begegnet war. Ein schwarzer Hengst trug zwei Menschen auf dem Rücken, beide zusammengebunden, der eine lebendig, der andere schon halb verwest.
Ellen kannte das barbarische Gesetz der Prärie; sie hielt sich für berechtigt, rettend einzugreifen. Des Reiters Züge waren schon verzerrt. Die Zunge lechzte nach der eklen Speise. Der Strafe war genug, und wenn er hundert seines Stammes gemordet hätte!
Ellen schwang den Lasso und trieb ihr Pferd an, konnte das Verfolgte aber nicht erreichen. Der Hengst lief mit der Kraft der Verzweiflung, ihr Roß dagegen scheute sich vor dem Leichengeruch, der bereits die Luft verpestete.
Ihre Büchse tat bessere Wirkung. Eine Kugel brachte das Pferd zum Sturz, und es fiel so glücklich, daß der Gerettete unbeschädigt blieb.
Mit eigener Hand zog Ellen die beiden Körper hervor, sie überwand das Grausen und durchschnitt die Fesseln. Der singende Vogel, so nannte sich der Nawago, küßte ihre Hand und schwor, er sei ungerecht als Mörder seines Bruders angeklagt worden. Ellen glaubte ihm, sie verschaffte ihm ein Pferd und Waffen, und sie sah den singenden Vogel nie wieder.
Jetzt tauchte er abermals auf. In Ellens Herz war ein Hoffnungsstrahl gefallen. Der singende Vogel hatte sie erkannt und war willens, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Er sann auf ihre Rettung. Der Anfang war schon gemacht. Die Verständigung war eingeleitet, und Ellen durfte hoffen.
Kein Auge konnte sie die ganze Nacht schließen, die Stunden wurden ihr zur Ewigkeit, bis die Dämmerung, die nie dem Tage wich, anbrach und den Wächter herbeibrachte.
Ein schneller Blick belehrte sie, daß auf dem Korridor kein anderer Indianer stand, der Wärter war allein.
»Kennt mein roter Bruder mich noch?« flüsterte sie hastig, als der Indianer Brot und Wasser neben sie hinsetzte.
Der Indianer setzte seine Beschäftigung, das Reinigen der Zelle, sehr langsam fort, und in jener monotonen, singenden Weise erklang es von seinen Lippen:
»Der singende Vogel hat die weiße Squaw erkannt – sein Herz blutet – doch kann er nicht helfen.«
Dem Mädchen sank noch nicht der Mut. Etwas anderes war ihr vorläufig die Hauptsache.
»Kommst du auch zu den anderen Gefangenen?« flüsterte sie wieder, ohne den Kopf nach dem Indianer zu wenden. Sie hätten von oben beobachtet werden können.
»Der singende Vogel versorgt alle – er tut für dich, was er kann – das beste Fleisch gibt er dir.«
»Was ist unser Los?«
»Der Tod,« klang es klagend.
Ellen erbebte.
»Mein roter Bruder,« flüsterte sie, sich fassend, »du sagtest, du wolltest dich dankbar erweisen, willst du es noch?«
»Der singende Vogel will tun, was er kann.«
Mit hastigen Worten beschrieb Ellen das Aussehen Harrlingtons.
»Kennst du diesen?«
»Ich kenne ihn – ich gehe zu ihm.«
»So grüße ihn von mir, von seiner Braut, hörst du?«
»Ich werde es tun.«
Der Indianer hatte immer leise vor sich hingesungen und den Kopf nie gehoben, und so hätte selbst ein Beobachter wenig von einer Unterhaltung gemerkt. Gleichgültig ging er schließlich zur Tür und verließ die Zelle, ohne Ellen noch einen Blick zu gönnen.
Aber diese war überglücklich. So sollten also alte, fast vergessene Wohltaten vergolten werden! Sie hatte einen Freund gefunden, der ihr in der Not nicht nur Mitleid bewies, sondern ihr auch helfend zur Seite stand. So etwas ist nicht mit Gold zu bezahlen, nur schade, daß man es erst einsieht, wenn man allein und hilflos dasteht.
Ellen hatte am liebsten laut aufgejubelt, wenn sie sich ausmalte, wie ihr James betrübt in seiner Zelle saß, traurig, an die Geliebte dachte, wie der Wärter zu ihm trat und plötzlich der Gruß der Braut ihm ins Ohr gesungen wurde. In Ellens Phantasie verwandelte sich der singende Vogel in ein wirklich zwitscherndes Vögelchen.
Doch dann ward ihr Antlitz wieder bleich und ernst.
Harrlington verstand keinen der indianischen Dialekte, und sollte der Indianer des Englischen mächtig sein? Schwerlich.
Unruhig wanderte sie auf und ab. Nun mußte sie wieder bis zum Abend warten, ehe sie Auskunft bekam, ob ihr Gruß den Geliebten erreicht habe. Denn es stand zu erwarten, daß der singende Vogel ihre Zelle nur betrat, wenn seine Pflicht ihm das vorschrieb. Ein außergewöhnlicher Besuch hätte Verdacht erregen können.
Ihre Geduld sollte auf keine harte Probe gestellt werden.
Noch war keine Stunde vergangen, als der Wärter wieder ihre Zelle betrat. Am liebsten wäre ihm Ellen entgegengeflogen, aber sie mußte dem Beispiele des Indianers folgen, der gleichgültig, immer singend, den Raum durchschritt und umherspähte, als wolle er sich überzeugen, ob die Gefangene keine Anstalten zur Selbstbefreiung träfe.
Ellens Herz krampfte sich bei den ersten gesungenen Worten zusammen.
»Dein Freund versteht den singenden Vogel nicht – er antwortet nicht – auch achtet er auf sein Gezwitscher nicht – gib acht, ich komme wieder.«
Der Indianer brach kurz ab, er hatte den vollen Krug umgeworfen, das Wasser verbreitete sich über den Fußboden. Der singende Vogel bückte sich, den Krug aufzuheben, und gleichzeitig fiel neben Ellen ein weißes Stück Leder, etwa ein Fuß im Quadrat haltend, und rote Kreide nieder, wie sie die Indianer zum Bemalen der Gesichter verwenden.
Ellen hatte verstanden; wieder füllte sich ihr Herz mit Jubel. Doch schnell versteckte sie Leder und Kreide unter ihrem Kleide.
»Mach' schnell, ich komme wieder,« klang es singend, als der Indianer mit dem leeren Krug den Raum verließ, »Du bist jetzt unbeobachtet!«
Das ließ sich Ellen nicht zweimal sagen; mit zitternden Händen breitete sie das Leder auf dem Boden aus und malte mit der dicken Kreide kleine Buchstaben darauf. Die Schrift wurde undeutlich, aber die Liebe hat scharfe Augen.
Sie brauchte nicht nach Worten zu suchen. Im Nu war das Leder von oben bis unten auf beiden Seiten mit Schrift bedeckt.
»Teuerster James!
»Trau' dem Indianer, er ist ein Freund. Von ihm erhoffe ich Rettung. Und wird sie uns nicht, so sterbe ich mit Freuden, weiß ich mich doch von Dir geliebt. Nicht Tod, nicht Marter soll mich Dir abwendig machen. Es gibt ein anderes Leben, wo Du mich als die Deine wiederfinden wirst. Auf Wiedersehen denn, Heißgeliebter, hier oder dort! Schreib', wenn du kannst!
Deine Ellen.«
Schon kam der singende Vogel wieder. Er setzte den gefüllten Krug hin und begann das Wasser mit einem Lappen aufzuwischen. Der Indianer sang immer, durch diese Gewohnheit hatte er seinen Namen erhalten, es fiel also nicht auf.
»Ist meine weiße Schwester fertig?«
»Ich bin's. Er soll wieder schreiben. Gib ihm auch Leder und Farbe!«
»Wie nennt ihr das – worauf ihr schreibt – mit einem spitzen Stift – der schwarz färbt.«
»Papier und Bleistift,« entgegnete Ellen schnell.
»Dein Freund hat diese Sachen bei sich – ich habe ihn schreiben sehen.«
»So sag' ihm – oder nein, er wird dir ein Papier für mich geben. Willst du es mir bringen?«
»Der singende Vogel tut alles für seine weiße Schwester.«
Der Indianer erhob sich, brachte im Vorbeigehen geschickt das weiße Leder in seinen Besitz, ließ es in seinem auf der Brust offenen Jagdhemd mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers verschwinden und verließ abermals das Gemach.
Diesmal mußte Ellen lange warten, ehe der singende Vogel zurückkam. Er durfte einunddenselben Gefangenen nicht zu oft besuchen, das hätte die Aufmerksamkeit der draußen stehenden Posten erregt.
Es wurde Abend, als der singende Vogel mit dem Essen die Zelle wieder betrat. Der Krug stand an seinem Platz, der Korb daneben. Die Augen Ellens verfolgten mit fieberhafter Spannung jede Bewegung des Mannes, welcher zwar wie gewöhnlich sang, aber nicht im Interesse des Mädchens.
Schon wollte er die Zelle verlassen, schon wollte Ellen, außer sich vor Erwartung, auf ihn zuspringen und ihn zum Sprechen nötigen, als ein Blatt Papier in ihren Schoß flatterte.
Sie war allein. Die heftig zitternden Hände hielten die Antwort des Geliebten; sie wollte lesen, aber es war schon zu dunkel. Sie nahm wohl Schriftzüge wahr, aber diese zu entziffern war unmöglich.
Ellen hatte schon manche schreckliche Nacht schlaflos verbracht, aber so schneckenhaft langsam waren ihr die Stunden noch niemals verstrichen.
Unermüdlich wanderte sie auf und ab. Sie konnte es nicht lassen, die brennenden Augen auf das Blättchen zu heften, welches die Schriftzüge ihres Geliebten trug; es war vergebens, sie konnte nichts sehen, und das einzige, was ihr Linderung verschaffte, war, daß sie wieder und wieder die heißen Lippen auf dasselbe drückte, denn es war ja auch von der Hand des Geliebten berührt worden.
Was würde der morgende Tag offenbaren? Die Ergüsse eines nach Liebe schmachtenden Herzens, Ausrufe der Verzweiflung, Schmähungen gegen das Schicksal, Trostworte oder gar Aufforderungen zum Entsagen?
Ach, bräche doch der Morgen erst an!
Er kam. Ellen kauerte am Boden, hielt das Papier in den ersten, von oben hereinfallenden Lichtstrahl und strengte die Augen an, daß sie ihr zu schmerzen begannen. Sie nahm sich fest vor, dieselben zu schließen und langsam bis dreihundert zu zählen. Es kostete sie unsagbare Anstrengung, dies auszuführen, aber sie zwang sich dazu.
»Dreihundert!« – Ellen öffnete die Augen, es war hell. Sie las nicht, sie verschlang die Schrift mit den Augen, es war die markige, ausgeschriebene Hand von James.
»Geliebte Ellen!
»Was ich Dir mündlich nicht zu sagen wage, gestehe ich Dir schriftlich. Es liegt in meiner Hand, Dich zu retten, es bedarf nur eines Wortes von mir, und Du bist frei. Wenn Du dies liest, habe ich das Wort schon gesprochen, bald wird Dir Deine Freiheit verkündet werden. Folge dem, der Dir die erlösende Botschaft bringt! Nicht Eigennutz ist es, welcher mich dazu nötigt, Deiner zu entsagen, eben die Liebe zu Dir zwingt mich dazu. Auch mein Leben bleibt dadurch zwar erhalten, aber was gilt es mir ohne Dich? Und doch, ich nehme die Hand derer an, welche uns beide retten will. Frage nicht, wer diese Person ist! Du wirst sie kennen. Verstehst Du die Gefühle, die in meiner Brust miteinander kämpfen? Ich entsage, um Dich zu retten; was mit mir geschieht, kommt nicht in Betracht. Doch tausendmal lieber wäre mir, könnte ich Dich durch meinen Tod retten, aber der meinige bedeutet auch den Deinigen. Deshalb bleibe ich leben. Gewohnheit vermag viel, vielleicht gelingt es mir, mich an die zu gewöhnen, welche mich besitzen will. Beurteile sie nicht zu hart, Ellen, ich habe sie jetzt verstanden, sie ist nur aus Liebe zu mir eine Sünderin geworden, an meiner Seite wird sie eine andere werden. Versuche mich zu vergessen, wie ich Dich vergessen muß. Das Schicksal hat uns beständig gezeigt, daß wir einander nicht gehören sollen, wir, und besonders ich, suchten ihm zu trotzen und sind schwer dafür bestraft worden. Jetzt habe ich das Schicksal erkannt, ich gebe ihm nach; meine Bestimmung ist es, die Sünderin zu bessern und dich zu retten. Alle Rücksichten müssen jetzt schweigen. Ich weiß, daß ich mir nicht mehr selbst gehöre. Lebe wohl, Ellen, auf immer! Ich vergesse, was Du mir gewesen bist, vergiß auch Du mich! Du wirst einen anderen finden, der Dich glücklich macht, und der Himmel wird Euch nicht wieder feindlich entgegenstehen. Du siehst mich nicht wieder, suche mich nicht, ich kreuze nie wieder Deine Wege. Gott will es!
»Ich gebe dieses Schreiben heimlich dem singenden Vogel, es ist das letzte Zeichen von mir. Es war mir verboten, Dir zu schreiben, doch ich hielt es für meine Pflicht. Ich werde heute frei, auch Du wirst Deine Zelle verlassen können.
James Harrlington.«
Ellen hatte das Schreiben zu Ende gelesen. Kein Zucken in dem geisterbleichen Gesicht verriet, was in ihr vorging, und das Zittern der Hände hatte schon längst aufgehört.
Ohne einen Seufzer auszustoßen, knitterte sie das Papier zusammen, zerriß es und ließ es fallen.
Dann strich sie wie geistesabwesend mit der Hand über die Stirn, öffnete den Mund, als wolle sie schreien, schwankte und schlug bewußtlos zu Boden.
Hätte sie gewußt, daß er in diesem Augenblick einen ähnlichen Brief von ihr las, den der singende Vogel ihm in die Hände gespielt, sie würde sich die Sache weniger zu Herzen genommen, das ganze Gespinst des Lugs und Trugs durchschaut haben.
Doch eine wohltätige Ohnmacht enthob sie jetzt aller Schmerzen und alles Grübelns.